Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hel sondern nach einem höheren Jdeal müssen gebildetseyn. Denn da die Handlung an sich groß und ausserordentlich ist, so müssen auch die handelnden Personen groß seyn. Man muß so gleich aus ihrem ganzen Wesen erkennen, warum der erzählende Dich- ter in einem so hohen Ton von ihnen spricht. Würde er uns Menschen von der gewöhnlichen Art zeigen, so würde sein Vortrag übertrieben scheinen; und zuletzt würde das ganze Gedicht des Zweks verfeh- len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhö- rer zu erhöhen. Man fodert von dem epischen Dichter auch, daß Qui quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non Er lehret durch Beyspiele, indem er Männer von Einige Kunstrichter haben uns bereden wollen, Hel Endlich haben wir auch noch den epischen Ton Also X x x 2
[Spaltenumbruch] Hel ſondern nach einem hoͤheren Jdeal muͤſſen gebildetſeyn. Denn da die Handlung an ſich groß und auſſerordentlich iſt, ſo muͤſſen auch die handelnden Perſonen groß ſeyn. Man muß ſo gleich aus ihrem ganzen Weſen erkennen, warum der erzaͤhlende Dich- ter in einem ſo hohen Ton von ihnen ſpricht. Wuͤrde er uns Menſchen von der gewoͤhnlichen Art zeigen, ſo wuͤrde ſein Vortrag uͤbertrieben ſcheinen; und zuletzt wuͤrde das ganze Gedicht des Zweks verfeh- len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhoͤ- rer zu erhoͤhen. Man fodert von dem epiſchen Dichter auch, daß Qui quid ſit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non Er lehret durch Beyſpiele, indem er Maͤnner von Einige Kunſtrichter haben uns bereden wollen, Hel Endlich haben wir auch noch den epiſchen Ton Alſo X x x 2
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Aber dieſes muß<lb/> er nicht als ein Sittenlehrer, nicht als ein dogma-<lb/> tiſcher Philoſoph, ſondern nach ſeiner Art, wie ein<lb/> Dichter thun,</p><lb/> <cit> <quote> <hi rendition="#aq">Qui quid ſit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non<lb/> Planius ac melius Chryſippo et Crantore dicit.</hi> </quote> </cit><lb/> <p>Er lehret durch Beyſpiele, indem er Maͤnner von<lb/> großem Verſtand und hoher Sinnesart bey wichti-<lb/> gen Gelegenheiten vor unſern Augen handeln laͤßt.<lb/> Das Lehrreiche liegt nicht in den Anmerkungen des<lb/> Dichters; auch nicht in theoretiſchen Abhandlungen,<lb/> oder in gelegentlichen allgemeinen Sittenlehren, die<lb/> er den Perſonen in den Mund legt. Aus den<lb/> Urtheilen und Handlungen der Perſonen muß man<lb/> ihre Grundſaͤtze erkennen; das Große und Edle,<lb/> oder das Schlimme in ihren Geſinnungen wahr-<lb/> nehmen. Der Dichter lehret nicht durch Worte,<lb/> wie man denken und handeln ſoll, ſondern er laͤßt<lb/> ſeine Perſonen ſo denken und handeln, daß wir Bey-<lb/> ſpiele daran nehmen.</p><lb/> <p>Einige Kunſtrichter haben uns bereden wollen,<lb/> daß das epiſche Gedicht durch die Begebenheiten und<lb/> den Erfolg der Dinge lehrreich ſeyn muͤſſe. Dieſe<lb/> Art des Lehrreichen muß man in der Geſchichte ſu-<lb/> chen; fuͤr den epiſchen Dichter iſt dieſes eine Neben-<lb/> ſache. Jn dem ganzen Faden der Geſchichte der<lb/> Jlias liegt wenig lehrreiches; dieſes Gedicht in eine<lb/> bloße Erzaͤhlung verwandelt, koͤnnte wol einige kalte<lb/> Lehren enthalten. Aber die wahre ſittliche Kraft<lb/> dieſer Epopee liegt in den Handlungen und der Sin-<lb/> nesart der Perſonen; und daher koͤmmt es, daß ganz<lb/> Griechenland den Homer fuͤr den erſien Lehrer der<lb/> Menſchen gehalten hat.</p><lb/> <cb/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Hel</hi> </fw><lb/> <p>Endlich haben wir auch noch den epiſchen Ton<lb/> zu betrachten. Da der Dichter von dem großen<lb/> Gegenſtand, den er beſingt, voͤllig eingenommen iſt,<lb/> ſo iſt auch ſein Ton uͤberaus pathetiſch, feyerlich und<lb/> etwas enthuſiaſtiſch. (*) Sein Ausdruk entfernt ſich<note place="right">(*) S. Ton<lb/> der Rede.</note><lb/> von dem gemeinen Ausdruk durch ſtark und voll-<lb/> klingende Woͤrter, er findet Ausdruͤke, die hoͤhere Be-<lb/> griffe von den Sachen geben, als die gewoͤhnlichen.<lb/> Er vermeidet die gemeinen Verbindungswoͤrter, be-<lb/> ſonders aber ganze, aus der gemeinen Sprache ge-<lb/> nommene Redensarten. Seine Wortfuͤgung iſt<lb/> ebenfalls von der gewoͤhnlichen unterſchieden. Und<lb/> weil er alles, was er beſingt, in ſeiner Einbildungs-<lb/> kraft als gegenwaͤrtig, und ſehr umſtaͤndlich vor ſich<lb/> ſieht, ſo iſt es ganz natuͤrlich, daß er viel mehr mah-<lb/> leriſche Beywoͤrter braucht, als der, welcher hiſto-<lb/> riſch erzaͤhlt. Sein Ton hat auch darin etwas cha-<lb/> rakteriſtiſches, daß er uͤberall das Gepraͤg der Em-<lb/> pfindung annihmt, die er, oder die Perſonen, auf jeder<lb/> Stelle fuͤhlen. Man erkennet ſchon an dem Ton,<lb/> wenn er ſanft geruͤhrt, oder in aufſchwellendem Affekt<lb/> iſt. Wo die Handlung ganz lebhaft wird, da iſt er in<lb/> voͤlligem Affekt, den man gleich aus ſeinem Ton er-<lb/> kennt. Wo er in merkliche Begeiſterung koͤmmt,<lb/> da faͤllt er ins aberglaͤubiſche; denn ſtarke Leiden-<lb/> ſchaften haben insgemein dieſe Wuͤrkung. Alsdann<lb/> ſcheinen ihm ohngefehre Zufaͤlle, von der Wuͤrkung<lb/> hoͤherer Maͤchte herzuruͤhren; lebloſen Weſen, ſchrei-<lb/> bet er Leben und Abſichten zu. Was bey dem Ge-<lb/> ſchichtſchreiber Schwulſt waͤre, kann ihm ſehr natuͤrlich<lb/> ſeyn. Wo der Geſchichtſchreiber ſagen wuͤrde: „Es<lb/> war auf dem Punkt, daß der Streit uͤberaus hitzig<lb/> werden ſollte; aber der Donner, der vor dem Wa-<lb/> gen des Diomedes einſchlug, trieb ſeine Pferde zu-<lb/> ruͤke‟ da ſagt der Dichter in dem hohen enthuſiaſti-<lb/> ſchen Tone: „Damals wuͤrde eine erſchrekliche Nie-<lb/> derlag erfolgt ſeyn, wenn nicht der Vater der Goͤt-<lb/> ter und der Menſchen ſich ins Mittel geleget haͤtte.<lb/> Schweerdonnernd ſchoß er ſeinen Blitz ‒ u. ſ. f. (*).‟<note place="right">(*) S.<lb/><hi rendition="#aq">II. VIII.</hi><lb/> 130. f. f.</note><lb/> Ueberhaupt erfodert der hohe und pathetiſche Ton<lb/> der Epopoͤe auch eine hohe und auſſerordentliche<lb/> Sprache, welche durch die hoͤchſte Proſa kaum zu<lb/> erreichen iſt. Der Hexameter der Griechen ſchei-<lb/> net dazu ſich vorzuͤglich zu ſchiken. Es verhaͤlt ſich<lb/> aber damit, wie mit den Saͤnlenordnungen, die<lb/> nicht ſchlechterdings nach dem Model der Alten muͤſ-<lb/> ſen gemacht werden, aber deſto ſchoͤner ſind, je<lb/> naͤher ſie mit jenen Muſtern uͤberein kommen.<lb/> <fw place="bottom" type="sig">X x x 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Alſo</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [531/0543]
Hel
Hel
ſondern nach einem hoͤheren Jdeal muͤſſen gebildet
ſeyn. Denn da die Handlung an ſich groß und
auſſerordentlich iſt, ſo muͤſſen auch die handelnden
Perſonen groß ſeyn. Man muß ſo gleich aus ihrem
ganzen Weſen erkennen, warum der erzaͤhlende Dich-
ter in einem ſo hohen Ton von ihnen ſpricht. Wuͤrde
er uns Menſchen von der gewoͤhnlichen Art zeigen,
ſo wuͤrde ſein Vortrag uͤbertrieben ſcheinen; und
zuletzt wuͤrde das ganze Gedicht des Zweks verfeh-
len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhoͤ-
rer zu erhoͤhen.
Man fodert von dem epiſchen Dichter auch, daß
er lehrreich ſey. Seine Abſicht iſt nicht, uns ge-
ſchehene Sachen zu erzaͤhlen, ſondern durch Vorbil-
dung derſelben Lehren zu geben, unſre Geſinnungen
zu erhoͤhen und zu erweitern. Aber dieſes muß
er nicht als ein Sittenlehrer, nicht als ein dogma-
tiſcher Philoſoph, ſondern nach ſeiner Art, wie ein
Dichter thun,
Qui quid ſit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non
Planius ac melius Chryſippo et Crantore dicit.
Er lehret durch Beyſpiele, indem er Maͤnner von
großem Verſtand und hoher Sinnesart bey wichti-
gen Gelegenheiten vor unſern Augen handeln laͤßt.
Das Lehrreiche liegt nicht in den Anmerkungen des
Dichters; auch nicht in theoretiſchen Abhandlungen,
oder in gelegentlichen allgemeinen Sittenlehren, die
er den Perſonen in den Mund legt. Aus den
Urtheilen und Handlungen der Perſonen muß man
ihre Grundſaͤtze erkennen; das Große und Edle,
oder das Schlimme in ihren Geſinnungen wahr-
nehmen. Der Dichter lehret nicht durch Worte,
wie man denken und handeln ſoll, ſondern er laͤßt
ſeine Perſonen ſo denken und handeln, daß wir Bey-
ſpiele daran nehmen.
Einige Kunſtrichter haben uns bereden wollen,
daß das epiſche Gedicht durch die Begebenheiten und
den Erfolg der Dinge lehrreich ſeyn muͤſſe. Dieſe
Art des Lehrreichen muß man in der Geſchichte ſu-
chen; fuͤr den epiſchen Dichter iſt dieſes eine Neben-
ſache. Jn dem ganzen Faden der Geſchichte der
Jlias liegt wenig lehrreiches; dieſes Gedicht in eine
bloße Erzaͤhlung verwandelt, koͤnnte wol einige kalte
Lehren enthalten. Aber die wahre ſittliche Kraft
dieſer Epopee liegt in den Handlungen und der Sin-
nesart der Perſonen; und daher koͤmmt es, daß ganz
Griechenland den Homer fuͤr den erſien Lehrer der
Menſchen gehalten hat.
Endlich haben wir auch noch den epiſchen Ton
zu betrachten. Da der Dichter von dem großen
Gegenſtand, den er beſingt, voͤllig eingenommen iſt,
ſo iſt auch ſein Ton uͤberaus pathetiſch, feyerlich und
etwas enthuſiaſtiſch. (*) Sein Ausdruk entfernt ſich
von dem gemeinen Ausdruk durch ſtark und voll-
klingende Woͤrter, er findet Ausdruͤke, die hoͤhere Be-
griffe von den Sachen geben, als die gewoͤhnlichen.
Er vermeidet die gemeinen Verbindungswoͤrter, be-
ſonders aber ganze, aus der gemeinen Sprache ge-
nommene Redensarten. Seine Wortfuͤgung iſt
ebenfalls von der gewoͤhnlichen unterſchieden. Und
weil er alles, was er beſingt, in ſeiner Einbildungs-
kraft als gegenwaͤrtig, und ſehr umſtaͤndlich vor ſich
ſieht, ſo iſt es ganz natuͤrlich, daß er viel mehr mah-
leriſche Beywoͤrter braucht, als der, welcher hiſto-
riſch erzaͤhlt. Sein Ton hat auch darin etwas cha-
rakteriſtiſches, daß er uͤberall das Gepraͤg der Em-
pfindung annihmt, die er, oder die Perſonen, auf jeder
Stelle fuͤhlen. Man erkennet ſchon an dem Ton,
wenn er ſanft geruͤhrt, oder in aufſchwellendem Affekt
iſt. Wo die Handlung ganz lebhaft wird, da iſt er in
voͤlligem Affekt, den man gleich aus ſeinem Ton er-
kennt. Wo er in merkliche Begeiſterung koͤmmt,
da faͤllt er ins aberglaͤubiſche; denn ſtarke Leiden-
ſchaften haben insgemein dieſe Wuͤrkung. Alsdann
ſcheinen ihm ohngefehre Zufaͤlle, von der Wuͤrkung
hoͤherer Maͤchte herzuruͤhren; lebloſen Weſen, ſchrei-
bet er Leben und Abſichten zu. Was bey dem Ge-
ſchichtſchreiber Schwulſt waͤre, kann ihm ſehr natuͤrlich
ſeyn. Wo der Geſchichtſchreiber ſagen wuͤrde: „Es
war auf dem Punkt, daß der Streit uͤberaus hitzig
werden ſollte; aber der Donner, der vor dem Wa-
gen des Diomedes einſchlug, trieb ſeine Pferde zu-
ruͤke‟ da ſagt der Dichter in dem hohen enthuſiaſti-
ſchen Tone: „Damals wuͤrde eine erſchrekliche Nie-
derlag erfolgt ſeyn, wenn nicht der Vater der Goͤt-
ter und der Menſchen ſich ins Mittel geleget haͤtte.
Schweerdonnernd ſchoß er ſeinen Blitz ‒ u. ſ. f. (*).‟
Ueberhaupt erfodert der hohe und pathetiſche Ton
der Epopoͤe auch eine hohe und auſſerordentliche
Sprache, welche durch die hoͤchſte Proſa kaum zu
erreichen iſt. Der Hexameter der Griechen ſchei-
net dazu ſich vorzuͤglich zu ſchiken. Es verhaͤlt ſich
aber damit, wie mit den Saͤnlenordnungen, die
nicht ſchlechterdings nach dem Model der Alten muͤſ-
ſen gemacht werden, aber deſto ſchoͤner ſind, je
naͤher ſie mit jenen Muſtern uͤberein kommen.
Alſo
(*) S. Ton
der Rede.
(*) S.
II. VIII.
130. f. f.
X x x 2
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