sondern nach einem höheren Jdeal müssen gebildet seyn. Denn da die Handlung an sich groß und ausserordentlich ist, so müssen auch die handelnden Personen groß seyn. Man muß so gleich aus ihrem ganzen Wesen erkennen, warum der erzählende Dich- ter in einem so hohen Ton von ihnen spricht. Würde er uns Menschen von der gewöhnlichen Art zeigen, so würde sein Vortrag übertrieben scheinen; und zuletzt würde das ganze Gedicht des Zweks verfeh- len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhö- rer zu erhöhen.
Man fodert von dem epischen Dichter auch, daß er lehrreich sey. Seine Absicht ist nicht, uns ge- schehene Sachen zu erzählen, sondern durch Vorbil- dung derselben Lehren zu geben, unsre Gesinnungen zu erhöhen und zu erweitern. Aber dieses muß er nicht als ein Sittenlehrer, nicht als ein dogma- tischer Philosoph, sondern nach seiner Art, wie ein Dichter thun,
Qui quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non Planius ac melius Chrysippo et Crantore dicit.
Er lehret durch Beyspiele, indem er Männer von großem Verstand und hoher Sinnesart bey wichti- gen Gelegenheiten vor unsern Augen handeln läßt. Das Lehrreiche liegt nicht in den Anmerkungen des Dichters; auch nicht in theoretischen Abhandlungen, oder in gelegentlichen allgemeinen Sittenlehren, die er den Personen in den Mund legt. Aus den Urtheilen und Handlungen der Personen muß man ihre Grundsätze erkennen; das Große und Edle, oder das Schlimme in ihren Gesinnungen wahr- nehmen. Der Dichter lehret nicht durch Worte, wie man denken und handeln soll, sondern er läßt seine Personen so denken und handeln, daß wir Bey- spiele daran nehmen.
Einige Kunstrichter haben uns bereden wollen, daß das epische Gedicht durch die Begebenheiten und den Erfolg der Dinge lehrreich seyn müsse. Diese Art des Lehrreichen muß man in der Geschichte su- chen; für den epischen Dichter ist dieses eine Neben- sache. Jn dem ganzen Faden der Geschichte der Jlias liegt wenig lehrreiches; dieses Gedicht in eine bloße Erzählung verwandelt, könnte wol einige kalte Lehren enthalten. Aber die wahre sittliche Kraft dieser Epopee liegt in den Handlungen und der Sin- nesart der Personen; und daher kömmt es, daß ganz Griechenland den Homer für den ersien Lehrer der Menschen gehalten hat.
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Hel
Endlich haben wir auch noch den epischen Ton zu betrachten. Da der Dichter von dem großen Gegenstand, den er besingt, völlig eingenommen ist, so ist auch sein Ton überaus pathetisch, feyerlich und etwas enthusiastisch. (*) Sein Ausdruk entfernt sich(*) S. Ton der Rede. von dem gemeinen Ausdruk durch stark und voll- klingende Wörter, er findet Ausdrüke, die höhere Be- griffe von den Sachen geben, als die gewöhnlichen. Er vermeidet die gemeinen Verbindungswörter, be- sonders aber ganze, aus der gemeinen Sprache ge- nommene Redensarten. Seine Wortfügung ist ebenfalls von der gewöhnlichen unterschieden. Und weil er alles, was er besingt, in seiner Einbildungs- kraft als gegenwärtig, und sehr umständlich vor sich sieht, so ist es ganz natürlich, daß er viel mehr mah- lerische Beywörter braucht, als der, welcher histo- risch erzählt. Sein Ton hat auch darin etwas cha- rakteristisches, daß er überall das Gepräg der Em- pfindung annihmt, die er, oder die Personen, auf jeder Stelle fühlen. Man erkennet schon an dem Ton, wenn er sanft gerührt, oder in aufschwellendem Affekt ist. Wo die Handlung ganz lebhaft wird, da ist er in völligem Affekt, den man gleich aus seinem Ton er- kennt. Wo er in merkliche Begeisterung kömmt, da fällt er ins abergläubische; denn starke Leiden- schaften haben insgemein diese Würkung. Alsdann scheinen ihm ohngefehre Zufälle, von der Würkung höherer Mächte herzurühren; leblosen Wesen, schrei- bet er Leben und Absichten zu. Was bey dem Ge- schichtschreiber Schwulst wäre, kann ihm sehr natürlich seyn. Wo der Geschichtschreiber sagen würde: "Es war auf dem Punkt, daß der Streit überaus hitzig werden sollte; aber der Donner, der vor dem Wa- gen des Diomedes einschlug, trieb seine Pferde zu- rüke" da sagt der Dichter in dem hohen enthusiasti- schen Tone: "Damals würde eine erschrekliche Nie- derlag erfolgt seyn, wenn nicht der Vater der Göt- ter und der Menschen sich ins Mittel geleget hätte. Schweerdonnernd schoß er seinen Blitz - u. s. f. (*)."(*) S. II. VIII. 130. f. f. Ueberhaupt erfodert der hohe und pathetische Ton der Epopöe auch eine hohe und ausserordentliche Sprache, welche durch die höchste Prosa kaum zu erreichen ist. Der Hexameter der Griechen schei- net dazu sich vorzüglich zu schiken. Es verhält sich aber damit, wie mit den Sänlenordnungen, die nicht schlechterdings nach dem Model der Alten müs- sen gemacht werden, aber desto schöner sind, je näher sie mit jenen Mustern überein kommen.
Also
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ſondern nach einem hoͤheren Jdeal muͤſſen gebildet ſeyn. Denn da die Handlung an ſich groß und auſſerordentlich iſt, ſo muͤſſen auch die handelnden Perſonen groß ſeyn. Man muß ſo gleich aus ihrem ganzen Weſen erkennen, warum der erzaͤhlende Dich- ter in einem ſo hohen Ton von ihnen ſpricht. Wuͤrde er uns Menſchen von der gewoͤhnlichen Art zeigen, ſo wuͤrde ſein Vortrag uͤbertrieben ſcheinen; und zuletzt wuͤrde das ganze Gedicht des Zweks verfeh- len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhoͤ- rer zu erhoͤhen.
Man fodert von dem epiſchen Dichter auch, daß er lehrreich ſey. Seine Abſicht iſt nicht, uns ge- ſchehene Sachen zu erzaͤhlen, ſondern durch Vorbil- dung derſelben Lehren zu geben, unſre Geſinnungen zu erhoͤhen und zu erweitern. Aber dieſes muß er nicht als ein Sittenlehrer, nicht als ein dogma- tiſcher Philoſoph, ſondern nach ſeiner Art, wie ein Dichter thun,
Qui quid ſit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non Planius ac melius Chryſippo et Crantore dicit.
Er lehret durch Beyſpiele, indem er Maͤnner von großem Verſtand und hoher Sinnesart bey wichti- gen Gelegenheiten vor unſern Augen handeln laͤßt. Das Lehrreiche liegt nicht in den Anmerkungen des Dichters; auch nicht in theoretiſchen Abhandlungen, oder in gelegentlichen allgemeinen Sittenlehren, die er den Perſonen in den Mund legt. Aus den Urtheilen und Handlungen der Perſonen muß man ihre Grundſaͤtze erkennen; das Große und Edle, oder das Schlimme in ihren Geſinnungen wahr- nehmen. Der Dichter lehret nicht durch Worte, wie man denken und handeln ſoll, ſondern er laͤßt ſeine Perſonen ſo denken und handeln, daß wir Bey- ſpiele daran nehmen.
Einige Kunſtrichter haben uns bereden wollen, daß das epiſche Gedicht durch die Begebenheiten und den Erfolg der Dinge lehrreich ſeyn muͤſſe. Dieſe Art des Lehrreichen muß man in der Geſchichte ſu- chen; fuͤr den epiſchen Dichter iſt dieſes eine Neben- ſache. Jn dem ganzen Faden der Geſchichte der Jlias liegt wenig lehrreiches; dieſes Gedicht in eine bloße Erzaͤhlung verwandelt, koͤnnte wol einige kalte Lehren enthalten. Aber die wahre ſittliche Kraft dieſer Epopee liegt in den Handlungen und der Sin- nesart der Perſonen; und daher koͤmmt es, daß ganz Griechenland den Homer fuͤr den erſien Lehrer der Menſchen gehalten hat.
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Hel
Endlich haben wir auch noch den epiſchen Ton zu betrachten. Da der Dichter von dem großen Gegenſtand, den er beſingt, voͤllig eingenommen iſt, ſo iſt auch ſein Ton uͤberaus pathetiſch, feyerlich und etwas enthuſiaſtiſch. (*) Sein Ausdruk entfernt ſich(*) S. Ton der Rede. von dem gemeinen Ausdruk durch ſtark und voll- klingende Woͤrter, er findet Ausdruͤke, die hoͤhere Be- griffe von den Sachen geben, als die gewoͤhnlichen. Er vermeidet die gemeinen Verbindungswoͤrter, be- ſonders aber ganze, aus der gemeinen Sprache ge- nommene Redensarten. Seine Wortfuͤgung iſt ebenfalls von der gewoͤhnlichen unterſchieden. Und weil er alles, was er beſingt, in ſeiner Einbildungs- kraft als gegenwaͤrtig, und ſehr umſtaͤndlich vor ſich ſieht, ſo iſt es ganz natuͤrlich, daß er viel mehr mah- leriſche Beywoͤrter braucht, als der, welcher hiſto- riſch erzaͤhlt. Sein Ton hat auch darin etwas cha- rakteriſtiſches, daß er uͤberall das Gepraͤg der Em- pfindung annihmt, die er, oder die Perſonen, auf jeder Stelle fuͤhlen. Man erkennet ſchon an dem Ton, wenn er ſanft geruͤhrt, oder in aufſchwellendem Affekt iſt. Wo die Handlung ganz lebhaft wird, da iſt er in voͤlligem Affekt, den man gleich aus ſeinem Ton er- kennt. Wo er in merkliche Begeiſterung koͤmmt, da faͤllt er ins aberglaͤubiſche; denn ſtarke Leiden- ſchaften haben insgemein dieſe Wuͤrkung. Alsdann ſcheinen ihm ohngefehre Zufaͤlle, von der Wuͤrkung hoͤherer Maͤchte herzuruͤhren; lebloſen Weſen, ſchrei- bet er Leben und Abſichten zu. Was bey dem Ge- ſchichtſchreiber Schwulſt waͤre, kann ihm ſehr natuͤrlich ſeyn. Wo der Geſchichtſchreiber ſagen wuͤrde: „Es war auf dem Punkt, daß der Streit uͤberaus hitzig werden ſollte; aber der Donner, der vor dem Wa- gen des Diomedes einſchlug, trieb ſeine Pferde zu- ruͤke‟ da ſagt der Dichter in dem hohen enthuſiaſti- ſchen Tone: „Damals wuͤrde eine erſchrekliche Nie- derlag erfolgt ſeyn, wenn nicht der Vater der Goͤt- ter und der Menſchen ſich ins Mittel geleget haͤtte. Schweerdonnernd ſchoß er ſeinen Blitz ‒ u. ſ. f. (*).‟(*) S. II. VIII. 130. f. f. Ueberhaupt erfodert der hohe und pathetiſche Ton der Epopoͤe auch eine hohe und auſſerordentliche Sprache, welche durch die hoͤchſte Proſa kaum zu erreichen iſt. Der Hexameter der Griechen ſchei- net dazu ſich vorzuͤglich zu ſchiken. Es verhaͤlt ſich aber damit, wie mit den Saͤnlenordnungen, die nicht ſchlechterdings nach dem Model der Alten muͤſ- ſen gemacht werden, aber deſto ſchoͤner ſind, je naͤher ſie mit jenen Muſtern uͤberein kommen.
Alſo
X x x 2
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[531/0543]
Hel
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ſondern nach einem hoͤheren Jdeal muͤſſen gebildet
ſeyn. Denn da die Handlung an ſich groß und
auſſerordentlich iſt, ſo muͤſſen auch die handelnden
Perſonen groß ſeyn. Man muß ſo gleich aus ihrem
ganzen Weſen erkennen, warum der erzaͤhlende Dich-
ter in einem ſo hohen Ton von ihnen ſpricht. Wuͤrde
er uns Menſchen von der gewoͤhnlichen Art zeigen,
ſo wuͤrde ſein Vortrag uͤbertrieben ſcheinen; und
zuletzt wuͤrde das ganze Gedicht des Zweks verfeh-
len, den es allemal hat, die Sinnesart der Zuhoͤ-
rer zu erhoͤhen.
Man fodert von dem epiſchen Dichter auch, daß
er lehrreich ſey. Seine Abſicht iſt nicht, uns ge-
ſchehene Sachen zu erzaͤhlen, ſondern durch Vorbil-
dung derſelben Lehren zu geben, unſre Geſinnungen
zu erhoͤhen und zu erweitern. Aber dieſes muß
er nicht als ein Sittenlehrer, nicht als ein dogma-
tiſcher Philoſoph, ſondern nach ſeiner Art, wie ein
Dichter thun,
Qui quid ſit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non
Planius ac melius Chryſippo et Crantore dicit.
Er lehret durch Beyſpiele, indem er Maͤnner von
großem Verſtand und hoher Sinnesart bey wichti-
gen Gelegenheiten vor unſern Augen handeln laͤßt.
Das Lehrreiche liegt nicht in den Anmerkungen des
Dichters; auch nicht in theoretiſchen Abhandlungen,
oder in gelegentlichen allgemeinen Sittenlehren, die
er den Perſonen in den Mund legt. Aus den
Urtheilen und Handlungen der Perſonen muß man
ihre Grundſaͤtze erkennen; das Große und Edle,
oder das Schlimme in ihren Geſinnungen wahr-
nehmen. Der Dichter lehret nicht durch Worte,
wie man denken und handeln ſoll, ſondern er laͤßt
ſeine Perſonen ſo denken und handeln, daß wir Bey-
ſpiele daran nehmen.
Einige Kunſtrichter haben uns bereden wollen,
daß das epiſche Gedicht durch die Begebenheiten und
den Erfolg der Dinge lehrreich ſeyn muͤſſe. Dieſe
Art des Lehrreichen muß man in der Geſchichte ſu-
chen; fuͤr den epiſchen Dichter iſt dieſes eine Neben-
ſache. Jn dem ganzen Faden der Geſchichte der
Jlias liegt wenig lehrreiches; dieſes Gedicht in eine
bloße Erzaͤhlung verwandelt, koͤnnte wol einige kalte
Lehren enthalten. Aber die wahre ſittliche Kraft
dieſer Epopee liegt in den Handlungen und der Sin-
nesart der Perſonen; und daher koͤmmt es, daß ganz
Griechenland den Homer fuͤr den erſien Lehrer der
Menſchen gehalten hat.
Endlich haben wir auch noch den epiſchen Ton
zu betrachten. Da der Dichter von dem großen
Gegenſtand, den er beſingt, voͤllig eingenommen iſt,
ſo iſt auch ſein Ton uͤberaus pathetiſch, feyerlich und
etwas enthuſiaſtiſch. (*) Sein Ausdruk entfernt ſich
von dem gemeinen Ausdruk durch ſtark und voll-
klingende Woͤrter, er findet Ausdruͤke, die hoͤhere Be-
griffe von den Sachen geben, als die gewoͤhnlichen.
Er vermeidet die gemeinen Verbindungswoͤrter, be-
ſonders aber ganze, aus der gemeinen Sprache ge-
nommene Redensarten. Seine Wortfuͤgung iſt
ebenfalls von der gewoͤhnlichen unterſchieden. Und
weil er alles, was er beſingt, in ſeiner Einbildungs-
kraft als gegenwaͤrtig, und ſehr umſtaͤndlich vor ſich
ſieht, ſo iſt es ganz natuͤrlich, daß er viel mehr mah-
leriſche Beywoͤrter braucht, als der, welcher hiſto-
riſch erzaͤhlt. Sein Ton hat auch darin etwas cha-
rakteriſtiſches, daß er uͤberall das Gepraͤg der Em-
pfindung annihmt, die er, oder die Perſonen, auf jeder
Stelle fuͤhlen. Man erkennet ſchon an dem Ton,
wenn er ſanft geruͤhrt, oder in aufſchwellendem Affekt
iſt. Wo die Handlung ganz lebhaft wird, da iſt er in
voͤlligem Affekt, den man gleich aus ſeinem Ton er-
kennt. Wo er in merkliche Begeiſterung koͤmmt,
da faͤllt er ins aberglaͤubiſche; denn ſtarke Leiden-
ſchaften haben insgemein dieſe Wuͤrkung. Alsdann
ſcheinen ihm ohngefehre Zufaͤlle, von der Wuͤrkung
hoͤherer Maͤchte herzuruͤhren; lebloſen Weſen, ſchrei-
bet er Leben und Abſichten zu. Was bey dem Ge-
ſchichtſchreiber Schwulſt waͤre, kann ihm ſehr natuͤrlich
ſeyn. Wo der Geſchichtſchreiber ſagen wuͤrde: „Es
war auf dem Punkt, daß der Streit uͤberaus hitzig
werden ſollte; aber der Donner, der vor dem Wa-
gen des Diomedes einſchlug, trieb ſeine Pferde zu-
ruͤke‟ da ſagt der Dichter in dem hohen enthuſiaſti-
ſchen Tone: „Damals wuͤrde eine erſchrekliche Nie-
derlag erfolgt ſeyn, wenn nicht der Vater der Goͤt-
ter und der Menſchen ſich ins Mittel geleget haͤtte.
Schweerdonnernd ſchoß er ſeinen Blitz ‒ u. ſ. f. (*).‟
Ueberhaupt erfodert der hohe und pathetiſche Ton
der Epopoͤe auch eine hohe und auſſerordentliche
Sprache, welche durch die hoͤchſte Proſa kaum zu
erreichen iſt. Der Hexameter der Griechen ſchei-
net dazu ſich vorzuͤglich zu ſchiken. Es verhaͤlt ſich
aber damit, wie mit den Saͤnlenordnungen, die
nicht ſchlechterdings nach dem Model der Alten muͤſ-
ſen gemacht werden, aber deſto ſchoͤner ſind, je
naͤher ſie mit jenen Muſtern uͤberein kommen.
Alſo
(*) S. Ton
der Rede.
(*) S.
II. VIII.
130. f. f.
X x x 2
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/543>, abgerufen am 17.07.2024.
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