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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Her Hex
von dem Sipha nihmt, da er ihm mit heiterm Ge-
müthe sagt:

Geh, ich halte dich nicht, und meine nicht eitele Thränen,
Daß du im Porte schon stehst, indem ich den Sturm noch
besegle.
Unbethränt sieht das Auge dir nach, wie wohl das Gemüthe
Blutend den Trost überdenkt, der meinem Leben geraubt
(*) Noach.
VII Gef.
wird (*)
ist nicht weniger heroisch, als der Heldenmuth einem
sichern Tod ruhig entgegen zu gehen.

Sollte jemand fragen, wie das Heroische von
dem Großen überhaupt unterschieden sey; so wäre
vielleicht dieses die richtigste Antwort, daß das
Große, da wo es angetroffen wird, ungewöhnlich
ist, und daß das Heroische eine nicht ungewöhnliche,
sondern natürliche Aeußerung größerer Menschen sey.
Man hat nämlich von dem Helden den Begriff, daß
er nach seinem ganzen Charakter und nach seinen
Umständen, um etliche Stufen höher stehe, als an-
dre Menschen; darum ist das Große nichts Unge-
wöhnliches bey ihm; es ist seinem Maaß der Kräfte
angemessen. Wenn aber ein Mensch wie andre
Menschen, seine Kräfte durch außerordentliches Be-
streben anstrenget, um etwas großes zu thun, so
würde dieses nur Groß und nicht Heroisch seyn.

Hexameter.
(Dichtkunst.)

Ein Vers von sechs drey- und zwey-sylbigen Füßen,
der auch der heroische Vers genennet wird, weil die
Griechen, die Erfinder desselben, ihn in ihren Hel-
dengedichten gebraucht haben. Die lateinischen
Dichter haben ihn den Griechen abgeborget, und vor
nicht langer Zeit ist er auch in der deutschen Sprache
mit glüklichem Erfolg versucht worden. Er verträgt
zwey Arten der Füße, die Daktylen und Spondeen,
an dessen Stelle die Deutschen auch, was sie Tro-
cheen nennen, gebrauchen. Beyde, und im deut-
schen Hexameter alle drey Arten des Fußes, können
verschiedentlich abwechseln, bald kann die eine, bald
die andre darin herrschen. Dadurch bekommt der
Dichter eine große Freyheit den Vers nach seiner
Absicht bald eilender, bald langsamer zu machen,
ihm bald einen hohen, bald einen gemäßigten oder
gemeinen Ton zu geben. Er ist nur an das einzige
Gesetz gebunden, daß der fünfte Fuß ein Daktylus
und der sechste ein Spondäus sey, damit der Vers sei-
[Spaltenumbruch]

Her
nen Fall am Ende habe; wiewol auch dieses Ge-
setz nicht ohne Ausnahm ist.

Dieser Vers hat vor allen andern wegen der
Freyheit, die er dem Dichter verstattet, große Vor-
theile. Man ist dabey nicht an bestimmte Ruhe-
punkte gebunden; er nöthiget nicht zu müßigen
Wörtern, weil er sich selbst nicht gleich bleiben därf;
er verstattet der Rede eine große Mannigfaltigkeit
des Tones, und kann majestätisch oder flüchtig seyn,
einen prächtigern oder nachläßigern Gang anzuneh-
men. Dadurch wird er zum Heldengedicht tüchti-
ger, als irgend ein andrer Vers. Denn der epi-
sche Dichter muß nothwendig den Ton, nach Maaß-
gebung seiner Materie, verschiedentlich abändern.
Doch bemerkt man oft an dem deutschen Hexameter,
daß er, um voll zu werden, manches unnöthiges
Beywort veranlaset.

Nach dem Urtheil des Diomedes, welches das
Urtheil aller Menschen ist, die Gehör haben, ist der
Hexameter der schönste, dessen Füße so in einander
geschlungen sind, daß keiner weder mit einem Wort
anfängt noch aufhört, es sey denn der erste und
letzte, so wie dieser

Oceanum interea surgens aurora reliquit. Virg.
Am schlechtesten ist er, wenn die Wörter die Füße
machen.
Praeter caetera Romae, mene poemata censes
Scribere? Hor.

Seine Länge erfodert, daß man ihm irgendwo einen
kleinen Ruhepunkt oder Abschnitt gebe, den man
verschiedentlich versetzt. (*)

(*) S.
Abschnitt.
Cäsur.

Es wäre seltsam, wenn man ietzt noch untersu-
chen wollte, ob die deutsche Sprache fähig genug
sey, den griechischen Hexameter nachzuahmen, nach-
dem wir den Meßias haben, ein Gedicht, das
auch in dem Ton und Klang, mit der Jlias oder
Aeneis um den Vorzug streiten kann. Daß es
aber den Deutschen mehr Mühe macht in wolklin-
genden Hexametern zu schreiben, als der Griech'
oder der Römer nöthig gehabt hat, kann wol
nicht geleugnet werden; genug daß einige unsrer
Dichter die Schwierigkeiten glüklich überwunden
haben.

Man muß Klopstok und Kleist, die zu gleicher
Zeit, und ohne daß einer von den Versuchen des
andern etwas gewußt, versucht haben deutsche
Hexameter zu machen, als die Erfinder derselben
ansehen; denn die wenigen Versuche, die ältere

Dichter

[Spaltenumbruch]

Her Hex
von dem Sipha nihmt, da er ihm mit heiterm Ge-
muͤthe ſagt:

Geh, ich halte dich nicht, und meine nicht eitele Thraͤnen,
Daß du im Porte ſchon ſtehſt, indem ich den Sturm noch
beſegle.
Unbethraͤnt ſieht das Auge dir nach, wie wohl das Gemuͤthe
Blutend den Troſt uͤberdenkt, der meinem Leben geraubt
(*) Noach.
VII Gef.
wird (*)
iſt nicht weniger heroiſch, als der Heldenmuth einem
ſichern Tod ruhig entgegen zu gehen.

Sollte jemand fragen, wie das Heroiſche von
dem Großen uͤberhaupt unterſchieden ſey; ſo waͤre
vielleicht dieſes die richtigſte Antwort, daß das
Große, da wo es angetroffen wird, ungewoͤhnlich
iſt, und daß das Heroiſche eine nicht ungewoͤhnliche,
ſondern natuͤrliche Aeußerung groͤßerer Menſchen ſey.
Man hat naͤmlich von dem Helden den Begriff, daß
er nach ſeinem ganzen Charakter und nach ſeinen
Umſtaͤnden, um etliche Stufen hoͤher ſtehe, als an-
dre Menſchen; darum iſt das Große nichts Unge-
woͤhnliches bey ihm; es iſt ſeinem Maaß der Kraͤfte
angemeſſen. Wenn aber ein Menſch wie andre
Menſchen, ſeine Kraͤfte durch außerordentliches Be-
ſtreben anſtrenget, um etwas großes zu thun, ſo
wuͤrde dieſes nur Groß und nicht Heroiſch ſeyn.

Hexameter.
(Dichtkunſt.)

Ein Vers von ſechs drey- und zwey-ſylbigen Fuͤßen,
der auch der heroiſche Vers genennet wird, weil die
Griechen, die Erfinder deſſelben, ihn in ihren Hel-
dengedichten gebraucht haben. Die lateiniſchen
Dichter haben ihn den Griechen abgeborget, und vor
nicht langer Zeit iſt er auch in der deutſchen Sprache
mit gluͤklichem Erfolg verſucht worden. Er vertraͤgt
zwey Arten der Fuͤße, die Daktylen und Spondeen,
an deſſen Stelle die Deutſchen auch, was ſie Tro-
cheen nennen, gebrauchen. Beyde, und im deut-
ſchen Hexameter alle drey Arten des Fußes, koͤnnen
verſchiedentlich abwechſeln, bald kann die eine, bald
die andre darin herrſchen. Dadurch bekommt der
Dichter eine große Freyheit den Vers nach ſeiner
Abſicht bald eilender, bald langſamer zu machen,
ihm bald einen hohen, bald einen gemaͤßigten oder
gemeinen Ton zu geben. Er iſt nur an das einzige
Geſetz gebunden, daß der fuͤnfte Fuß ein Daktylus
und der ſechſte ein Spondaͤus ſey, damit der Vers ſei-
[Spaltenumbruch]

Her
nen Fall am Ende habe; wiewol auch dieſes Ge-
ſetz nicht ohne Ausnahm iſt.

Dieſer Vers hat vor allen andern wegen der
Freyheit, die er dem Dichter verſtattet, große Vor-
theile. Man iſt dabey nicht an beſtimmte Ruhe-
punkte gebunden; er noͤthiget nicht zu muͤßigen
Woͤrtern, weil er ſich ſelbſt nicht gleich bleiben daͤrf;
er verſtattet der Rede eine große Mannigfaltigkeit
des Tones, und kann majeſtaͤtiſch oder fluͤchtig ſeyn,
einen praͤchtigern oder nachlaͤßigern Gang anzuneh-
men. Dadurch wird er zum Heldengedicht tuͤchti-
ger, als irgend ein andrer Vers. Denn der epi-
ſche Dichter muß nothwendig den Ton, nach Maaß-
gebung ſeiner Materie, verſchiedentlich abaͤndern.
Doch bemerkt man oft an dem deutſchen Hexameter,
daß er, um voll zu werden, manches unnoͤthiges
Beywort veranlaſet.

Nach dem Urtheil des Diomedes, welches das
Urtheil aller Menſchen iſt, die Gehoͤr haben, iſt der
Hexameter der ſchoͤnſte, deſſen Fuͤße ſo in einander
geſchlungen ſind, daß keiner weder mit einem Wort
anfaͤngt noch aufhoͤrt, es ſey denn der erſte und
letzte, ſo wie dieſer

Oceanum interea ſurgens aurora reliquit. Virg.
Am ſchlechteſten iſt er, wenn die Woͤrter die Fuͤße
machen.
Præter cætera Romæ, mene poemata cenſes
Scribere? Hor.

Seine Laͤnge erfodert, daß man ihm irgendwo einen
kleinen Ruhepunkt oder Abſchnitt gebe, den man
verſchiedentlich verſetzt. (*)

(*) S.
Abſchnitt.
Caͤſur.

Es waͤre ſeltſam, wenn man ietzt noch unterſu-
chen wollte, ob die deutſche Sprache faͤhig genug
ſey, den griechiſchen Hexameter nachzuahmen, nach-
dem wir den Meßias haben, ein Gedicht, das
auch in dem Ton und Klang, mit der Jlias oder
Aeneis um den Vorzug ſtreiten kann. Daß es
aber den Deutſchen mehr Muͤhe macht in wolklin-
genden Hexametern zu ſchreiben, als der Griech’
oder der Roͤmer noͤthig gehabt hat, kann wol
nicht geleugnet werden; genug daß einige unſrer
Dichter die Schwierigkeiten gluͤklich uͤberwunden
haben.

Man muß Klopſtok und Kleiſt, die zu gleicher
Zeit, und ohne daß einer von den Verſuchen des
andern etwas gewußt, verſucht haben deutſche
Hexameter zu machen, als die Erfinder derſelben
anſehen; denn die wenigen Verſuche, die aͤltere

Dichter
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[536/0548] Her Hex Her von dem Sipha nihmt, da er ihm mit heiterm Ge- muͤthe ſagt: Geh, ich halte dich nicht, und meine nicht eitele Thraͤnen, Daß du im Porte ſchon ſtehſt, indem ich den Sturm noch beſegle. Unbethraͤnt ſieht das Auge dir nach, wie wohl das Gemuͤthe Blutend den Troſt uͤberdenkt, der meinem Leben geraubt wird (*) iſt nicht weniger heroiſch, als der Heldenmuth einem ſichern Tod ruhig entgegen zu gehen. Sollte jemand fragen, wie das Heroiſche von dem Großen uͤberhaupt unterſchieden ſey; ſo waͤre vielleicht dieſes die richtigſte Antwort, daß das Große, da wo es angetroffen wird, ungewoͤhnlich iſt, und daß das Heroiſche eine nicht ungewoͤhnliche, ſondern natuͤrliche Aeußerung groͤßerer Menſchen ſey. Man hat naͤmlich von dem Helden den Begriff, daß er nach ſeinem ganzen Charakter und nach ſeinen Umſtaͤnden, um etliche Stufen hoͤher ſtehe, als an- dre Menſchen; darum iſt das Große nichts Unge- woͤhnliches bey ihm; es iſt ſeinem Maaß der Kraͤfte angemeſſen. Wenn aber ein Menſch wie andre Menſchen, ſeine Kraͤfte durch außerordentliches Be- ſtreben anſtrenget, um etwas großes zu thun, ſo wuͤrde dieſes nur Groß und nicht Heroiſch ſeyn. Hexameter. (Dichtkunſt.) Ein Vers von ſechs drey- und zwey-ſylbigen Fuͤßen, der auch der heroiſche Vers genennet wird, weil die Griechen, die Erfinder deſſelben, ihn in ihren Hel- dengedichten gebraucht haben. Die lateiniſchen Dichter haben ihn den Griechen abgeborget, und vor nicht langer Zeit iſt er auch in der deutſchen Sprache mit gluͤklichem Erfolg verſucht worden. Er vertraͤgt zwey Arten der Fuͤße, die Daktylen und Spondeen, an deſſen Stelle die Deutſchen auch, was ſie Tro- cheen nennen, gebrauchen. Beyde, und im deut- ſchen Hexameter alle drey Arten des Fußes, koͤnnen verſchiedentlich abwechſeln, bald kann die eine, bald die andre darin herrſchen. Dadurch bekommt der Dichter eine große Freyheit den Vers nach ſeiner Abſicht bald eilender, bald langſamer zu machen, ihm bald einen hohen, bald einen gemaͤßigten oder gemeinen Ton zu geben. Er iſt nur an das einzige Geſetz gebunden, daß der fuͤnfte Fuß ein Daktylus und der ſechſte ein Spondaͤus ſey, damit der Vers ſei- nen Fall am Ende habe; wiewol auch dieſes Ge- ſetz nicht ohne Ausnahm iſt. Dieſer Vers hat vor allen andern wegen der Freyheit, die er dem Dichter verſtattet, große Vor- theile. Man iſt dabey nicht an beſtimmte Ruhe- punkte gebunden; er noͤthiget nicht zu muͤßigen Woͤrtern, weil er ſich ſelbſt nicht gleich bleiben daͤrf; er verſtattet der Rede eine große Mannigfaltigkeit des Tones, und kann majeſtaͤtiſch oder fluͤchtig ſeyn, einen praͤchtigern oder nachlaͤßigern Gang anzuneh- men. Dadurch wird er zum Heldengedicht tuͤchti- ger, als irgend ein andrer Vers. Denn der epi- ſche Dichter muß nothwendig den Ton, nach Maaß- gebung ſeiner Materie, verſchiedentlich abaͤndern. Doch bemerkt man oft an dem deutſchen Hexameter, daß er, um voll zu werden, manches unnoͤthiges Beywort veranlaſet. Nach dem Urtheil des Diomedes, welches das Urtheil aller Menſchen iſt, die Gehoͤr haben, iſt der Hexameter der ſchoͤnſte, deſſen Fuͤße ſo in einander geſchlungen ſind, daß keiner weder mit einem Wort anfaͤngt noch aufhoͤrt, es ſey denn der erſte und letzte, ſo wie dieſer Oceanum interea ſurgens aurora reliquit. Virg. Am ſchlechteſten iſt er, wenn die Woͤrter die Fuͤße machen. Præter cætera Romæ, mene poemata cenſes Scribere? Hor. Seine Laͤnge erfodert, daß man ihm irgendwo einen kleinen Ruhepunkt oder Abſchnitt gebe, den man verſchiedentlich verſetzt. (*) Es waͤre ſeltſam, wenn man ietzt noch unterſu- chen wollte, ob die deutſche Sprache faͤhig genug ſey, den griechiſchen Hexameter nachzuahmen, nach- dem wir den Meßias haben, ein Gedicht, das auch in dem Ton und Klang, mit der Jlias oder Aeneis um den Vorzug ſtreiten kann. Daß es aber den Deutſchen mehr Muͤhe macht in wolklin- genden Hexametern zu ſchreiben, als der Griech’ oder der Roͤmer noͤthig gehabt hat, kann wol nicht geleugnet werden; genug daß einige unſrer Dichter die Schwierigkeiten gluͤklich uͤberwunden haben. Man muß Klopſtok und Kleiſt, die zu gleicher Zeit, und ohne daß einer von den Verſuchen des andern etwas gewußt, verſucht haben deutſche Hexameter zu machen, als die Erfinder derſelben anſehen; denn die wenigen Verſuche, die aͤltere Dichter

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/548>, abgerufen am 22.11.2024.