Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hom vor den Anfang der christlichen Zeitrechnung, hun-dert und funfzig, bis zweyhundert Jahre späther, als der trojanische Krieg, den er besungen hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er ein Jonier aus klein Asien, und vermuthlich nicht von ganz geringer Her- kunft gewesen; denn seine Gesänge kündigen einen Mann an, der alle Wissenschaft, alle Kenntnis der Länder, der Künste und der Weltgeschäfte, gehabt, die zu seiner Zeit möglich gewesen. Es ist auch wahr- scheinlich, daß er bey Verfertigung seiner Gesänge etwas größeres zur Absicht gehabt habe, als seinem dichterischen Genie nachzugeben. Wenn man be- denkt, daß Homer zu einer Zeit gelebt hat, da die Griechen nur kurz vorher angefangen verschiedene Colonien in ein Land zu schiken, in welchem sie vor nicht langer Zeit den hartnäkigsten und berühmte- sten Krieg geführt haben; so entsteht die Vermu- thung, daß etwas von dem Nationalintresse der asia- tischen Griechen die Hauptabsicht dieser Gesänge ge- wesen sey. Wie dem aber sey, so ist bey itziger Beurtheilung Man wundert sich nicht ohne Grund, wie es Hom Dies ist eben so viel, als dem Alexander vorwerfen,daß er lieber Mauerbrecher, als Canonen, lieber Pfeile, als Flinten gebraucht habe. Homer schil- dert den Menschen, wie er zu seiner Zeit gewesen, mit dem Charakter, mit dem Aberglauben, mit der Einfalt der Sitten, mit den Gebräuchen, und mit der Sprache, die er damals gehabt hat. Er ist der Natur völlig treu geblieben, und hat gar nicht nach einem Jdeal gearbeitet. Denn man sieht wol, daß es ihm höchst leichte gewesen wäre, die Perso- nen besser oder schlimmer zu machen, wenn er ge- wollt hätte. Er hatte nicht nöthig an das Jdeal zu denken, da die Natur selbst zu seiner Absicht hinrei- chend war. Wer diesen Dichter in seinem wahren Lichte sieht, schil- (+) # # -- -- # #. Strabo. L. I. (++) Gravina. L. I. c. IV. Man sehe auch die meister, hafte Schilderung dieses Dichters in Shastesburys Advice to an Author. P. I. Sect. 3. auf der 196 u. 197. Seite. Z z z 2
[Spaltenumbruch] Hom vor den Anfang der chriſtlichen Zeitrechnung, hun-dert und funfzig, bis zweyhundert Jahre ſpaͤther, als der trojaniſche Krieg, den er beſungen hat. Aller Wahrſcheinlichkeit nach iſt er ein Jonier aus klein Aſien, und vermuthlich nicht von ganz geringer Her- kunft geweſen; denn ſeine Geſaͤnge kuͤndigen einen Mann an, der alle Wiſſenſchaft, alle Kenntnis der Laͤnder, der Kuͤnſte und der Weltgeſchaͤfte, gehabt, die zu ſeiner Zeit moͤglich geweſen. Es iſt auch wahr- ſcheinlich, daß er bey Verfertigung ſeiner Geſaͤnge etwas groͤßeres zur Abſicht gehabt habe, als ſeinem dichteriſchen Genie nachzugeben. Wenn man be- denkt, daß Homer zu einer Zeit gelebt hat, da die Griechen nur kurz vorher angefangen verſchiedene Colonien in ein Land zu ſchiken, in welchem ſie vor nicht langer Zeit den hartnaͤkigſten und beruͤhmte- ſten Krieg gefuͤhrt haben; ſo entſteht die Vermu- thung, daß etwas von dem Nationalintreſſe der aſia- tiſchen Griechen die Hauptabſicht dieſer Geſaͤnge ge- weſen ſey. Wie dem aber ſey, ſo iſt bey itziger Beurtheilung Man wundert ſich nicht ohne Grund, wie es Hom Dies iſt eben ſo viel, als dem Alexander vorwerfen,daß er lieber Mauerbrecher, als Canonen, lieber Pfeile, als Flinten gebraucht habe. Homer ſchil- dert den Menſchen, wie er zu ſeiner Zeit geweſen, mit dem Charakter, mit dem Aberglauben, mit der Einfalt der Sitten, mit den Gebraͤuchen, und mit der Sprache, die er damals gehabt hat. Er iſt der Natur voͤllig treu geblieben, und hat gar nicht nach einem Jdeal gearbeitet. Denn man ſieht wol, daß es ihm hoͤchſt leichte geweſen waͤre, die Perſo- nen beſſer oder ſchlimmer zu machen, wenn er ge- wollt haͤtte. Er hatte nicht noͤthig an das Jdeal zu denken, da die Natur ſelbſt zu ſeiner Abſicht hinrei- chend war. Wer dieſen Dichter in ſeinem wahren Lichte ſieht, ſchil- (†) # # — — # #. Strabo. L. I. (††) Gravina. L. I. c. IV. Man ſehe auch die meiſter, hafte Schilderung dieſes Dichters in Shaſtesburys Advice to an Author. P. I. Sect. 3. auf der 196 u. 197. Seite. Z z z 2
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Bald fliegt er, bald ſchleicht er am Bo-<lb/> den; bald donnert er, bald lispelt er ſanft; allezeit<lb/> wird die Einbildungskraft dergeſtalt von ſeinen Ver-<lb/> ſen geruͤhrt, daß er ſich unſrer Kraͤfte bemaͤchtiget,<lb/> und durch ſeine Worte, der Kraft der Natur nach-<lb/> eyfert. <note place="foot" n="(††)"><hi rendition="#aq">Gravina. L. I. c. IV.</hi> Man ſehe auch die meiſter,<lb/> hafte Schilderung dieſes Dichters in <hi rendition="#aq">Shaſtesburys Advice<lb/> to an Author. P. I. Sect.</hi> 3. auf der 196 u. 197. 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Hom
Hom
vor den Anfang der chriſtlichen Zeitrechnung, hun-
dert und funfzig, bis zweyhundert Jahre ſpaͤther,
als der trojaniſche Krieg, den er beſungen hat. Aller
Wahrſcheinlichkeit nach iſt er ein Jonier aus klein
Aſien, und vermuthlich nicht von ganz geringer Her-
kunft geweſen; denn ſeine Geſaͤnge kuͤndigen einen
Mann an, der alle Wiſſenſchaft, alle Kenntnis der
Laͤnder, der Kuͤnſte und der Weltgeſchaͤfte, gehabt,
die zu ſeiner Zeit moͤglich geweſen. Es iſt auch wahr-
ſcheinlich, daß er bey Verfertigung ſeiner Geſaͤnge
etwas groͤßeres zur Abſicht gehabt habe, als ſeinem
dichteriſchen Genie nachzugeben. Wenn man be-
denkt, daß Homer zu einer Zeit gelebt hat, da die
Griechen nur kurz vorher angefangen verſchiedene
Colonien in ein Land zu ſchiken, in welchem ſie vor
nicht langer Zeit den hartnaͤkigſten und beruͤhmte-
ſten Krieg gefuͤhrt haben; ſo entſteht die Vermu-
thung, daß etwas von dem Nationalintreſſe der aſia-
tiſchen Griechen die Hauptabſicht dieſer Geſaͤnge ge-
weſen ſey.
Wie dem aber ſey, ſo iſt bey itziger Beurtheilung
derſelben allemal genau darauf zu ſehen, daß ſie
uns ganz fremde ſind, und uns unmittelbar nicht
weiter angehen, als in ſo fern ſie uns das Genie
eines der groͤßten Dichter zeigen, auch die Gemuͤths-
art und die Sitten vieler Voͤlker, und der beruͤhmteſten
Helden des Alterthums, auf das natuͤrlichſte ſchildern.
Wir muͤſſen davon auf die Art urtheilen, nach wel-
cher ein Heerfuͤhrer unſrer Zeiten von den Kriegs-
verrichtungen Alexanders urtheilt, wobey er nicht
die itzigen Waffen, nicht die gegenwaͤrtige Politik,
ſondern die damalige Lage der Sachen in Be-
trachtung ziehet. So wie es einem erfahrnen
Kriegsmann nicht ſchweer fallen wuͤrde zu beſtim-
men, wie Alexander nach der itzigen Verfaſſung
wuͤrde gehandelt haben, ſo kann auch ein guter
Kunſtrichter ſehen, wie eine Epopoͤe ſeyn wuͤrde, die
itzt in dem Geiſt des Homers verfaßt waͤre.
Man wundert ſich nicht ohne Grund, wie es
neuern Kunſtrichtern hat einfallen koͤnnen, es dem
Homer zur Laſt zu legen, daß er ſeine Goͤtter und
Menſchen anders handeln und reden laͤßt, als un-
ſre Begriffe es zu erfodern ſcheinen, und daß ihm Sa-
chen wichtig geſchienen, die wir fuͤr unwichtig halten.
Dies iſt eben ſo viel, als dem Alexander vorwerfen,
daß er lieber Mauerbrecher, als Canonen, lieber
Pfeile, als Flinten gebraucht habe. Homer ſchil-
dert den Menſchen, wie er zu ſeiner Zeit geweſen,
mit dem Charakter, mit dem Aberglauben, mit
der Einfalt der Sitten, mit den Gebraͤuchen, und
mit der Sprache, die er damals gehabt hat. Er iſt
der Natur voͤllig treu geblieben, und hat gar nicht
nach einem Jdeal gearbeitet. Denn man ſieht wol,
daß es ihm hoͤchſt leichte geweſen waͤre, die Perſo-
nen beſſer oder ſchlimmer zu machen, wenn er ge-
wollt haͤtte. Er hatte nicht noͤthig an das Jdeal zu
denken, da die Natur ſelbſt zu ſeiner Abſicht hinrei-
chend war.
Wer dieſen Dichter in ſeinem wahren Lichte ſieht,
wird ohne Zweifel dem Urtheil des Strabo beyſtim-
men, der ihn nicht blos wegen des poetiſchen Ge-
nies, ſondern auch wegen ſeiner Einſicht in Sachen
des Lebens, und der Politik allen andern Dichtern
vorzieht. (†) Wir wollen ſeinen poetiſchen Charakter
mit den Worten des Gravina abbilden, „Homer
iſt ein ſo viel maͤchtigerer und weiſerer Zauberer,
da er ſeine Sprache, nicht ſowol zur Reizung des
Gehoͤrs, als zum Ausdruk der Einbildungskraft und
zur Bezeichnung der Sachen angewendet, und ſei-
nen ganzen Fleis darauf gerichtet hat, jede Sache
natuͤrlich auszudruken. Bald ſcheinet er die Sa-
chen nur fluͤchtig zu beruͤhren, bald ſie aus dem Ge-
ſichte zu verlieren; aber dann kommt er wieder durch
einen andern Weg ihr zu Huͤlfe. Am rechten Orte
und zur rechten Zeit miſcht er in die Reden, welche
er anfuͤhrt, gemeine Ausdruͤke und Redensarten: als
ein andrer Proteus nihmt er alle Geſtalten und Na-
turen an. Bald fliegt er, bald ſchleicht er am Bo-
den; bald donnert er, bald lispelt er ſanft; allezeit
wird die Einbildungskraft dergeſtalt von ſeinen Ver-
ſen geruͤhrt, daß er ſich unſrer Kraͤfte bemaͤchtiget,
und durch ſeine Worte, der Kraft der Natur nach-
eyfert. (††) Nicht ohne Bewundrung ſieht man die
unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge, die er beſchrei-
bet; von den lieblichſten und gemeinſten Gegenſtaͤn-
den in der Natur und den Sitten, bis auf die fuͤrch-
terlichſten und erhabenſten: fuͤrnehmlich wenn man
dabey bedenkt, wie er jedes nach der eigentlichſten Art
ſchil-
(†) #
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#. Strabo. L. I.
(††) Gravina. L. I. c. IV. Man ſehe auch die meiſter,
hafte Schilderung dieſes Dichters in Shaſtesburys Advice
to an Author. P. I. Sect. 3. auf der 196 u. 197. Seite.
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