Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hom schildert. Eben dieses fühlt man bey den Reden undHandlungen, die er seinen Personen beylegt. Kein unnützes, kein überflüßiges Wort, keines, das nicht geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge- ringste Handlung, die nicht den bestimmtesten Cha- rakter anzeiget. Was jeder spricht oder thut, ge- schieht so, wie es sich für ihn schiket. Sein Aus- druk und sein Vers sind so, daß die Natur selbst sie auf den Lippen des Dichters zur besten Bezeichnung der Sachen scheint gebildet zu haben. Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet -- Qui nil molitur inepte. So hat das Alterthum fast ohne Ausnahm von Hor ken noch nicht veraltert war, und nach den dama-ligen Sitten gethan, so ist sehr zu zweifeln, daß jemand zeigen werde, wie er es besser hätte thun können. Man erkennt an diesem Dichter noch deutliche Horaz. Man würde sich einen zu niedrigen Begriff von Er war der Sohn eines freygelassenen, vermuth- -- purus et insons(*) Sat. L. 6. Sei-
[Spaltenumbruch] Hom ſchildert. Eben dieſes fuͤhlt man bey den Reden undHandlungen, die er ſeinen Perſonen beylegt. Kein unnuͤtzes, kein uͤberfluͤßiges Wort, keines, das nicht geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge- ringſte Handlung, die nicht den beſtimmteſten Cha- rakter anzeiget. Was jeder ſpricht oder thut, ge- ſchieht ſo, wie es ſich fuͤr ihn ſchiket. Sein Aus- druk und ſein Vers ſind ſo, daß die Natur ſelbſt ſie auf den Lippen des Dichters zur beſten Bezeichnung der Sachen ſcheint gebildet zu haben. Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet — Qui nil molitur inepte. So hat das Alterthum faſt ohne Ausnahm von Hor ken noch nicht veraltert war, und nach den dama-ligen Sitten gethan, ſo iſt ſehr zu zweifeln, daß jemand zeigen werde, wie er es beſſer haͤtte thun koͤnnen. Man erkennt an dieſem Dichter noch deutliche Horaz. Man wuͤrde ſich einen zu niedrigen Begriff von Er war der Sohn eines freygelaſſenen, vermuth- — purus et inſons(*) Sat. L. 6. Sei-
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Hom
Hor
ſchildert. Eben dieſes fuͤhlt man bey den Reden und
Handlungen, die er ſeinen Perſonen beylegt. Kein
unnuͤtzes, kein uͤberfluͤßiges Wort, keines, das nicht
geradezu den Zwek trift, keine, auch nicht die ge-
ringſte Handlung, die nicht den beſtimmteſten Cha-
rakter anzeiget. Was jeder ſpricht oder thut, ge-
ſchieht ſo, wie es ſich fuͤr ihn ſchiket. Sein Aus-
druk und ſein Vers ſind ſo, daß die Natur ſelbſt ſie
auf den Lippen des Dichters zur beſten Bezeichnung
der Sachen ſcheint gebildet zu haben.
Den Namen eines Vaters der Dichter verdienet
er fuͤrnehmlich dadurch, daß kaum eine Art des poe-
tiſchen Schwunges, oder der Herablaſſung zu der na-
tuͤrlichen Vorſtellung der Sachen; keine Wendung
der Gedanken; kein Theil der poetiſchen Kunſt iſt, da-
von er nicht Muſter gegeben. Der epiſche Dichter,
der dramatiſche, der lyriſche, und der Redner, koͤn-
nen ihr Genie an dem ſeinigen ſchaͤrfen. Dieſes
große poetiſche Genie wird uͤberall von Verſtand und
Weisheit geleitet, um auf das Zuverſichtlichſte auf
ſeinem Wege fortzuſchreiten. Er zeiget dem Ver-
ſtand nichts unerhebliches, nichts unuͤberlegtes; der
Einbildungskraft nichts kleines, nichts gekuͤnſteltes,
nichts ſubtiles; dem Gemuͤthe nichts unnatuͤrliches,
nichts uͤbertriebenes, nichts unbeſtimmtes. Darum
nennt ihn Horaz mit Recht den Mann,
— Qui nil molitur inepte.
So hat das Alterthum faſt ohne Ausnahm von
dem Vater der Dichter geurtheilt. Jn den neuern
Zeiten hat man unzaͤhlige Dinge an ihm auszuſetzen
gefunden. Man hat ihn beſchuldiget, daß er ungeſit-
tet, unphiloſophiſch und unmoraliſch ſey. Man
ſcheinet aber bey dieſen Vorwuͤrfen vorauszuſetzen,
daß Homer die Abſicht gehabt habe, nach den abſtrak-
ten und gereinigten Begriffen der Philoſophie und Mo-
ral ſeine Zeitgenoſſen zu lehren und zu bilden. Man
erwartet einen Philoſophen, der die Naturkunde, die
Sternkunde, die Theologie, nach den Begriffen der
heutigen Zeiten erkennt, der die moraliſche Voll-
kommenheit des Menſchen nach dem hoͤchſten Jdeal
gebildet habe. Jſt es ſeine Abſicht geweſen, einen idea-
liſchen Menſchen zu ſchildern, ſo hat er ſie ſchlecht er-
fuͤllt. Hat er ſich aber vorgeſetzt die Griechen, als die
groͤßten Helden zu ſchildern, den verſchiedenen Staͤm-
men derſelben den Stolz einer edlen Herkunft einzufloͤſ-
ſen, ihren Nationalcharakter durch Erzaͤhlung der
wichtigſten Thaten ihrer Vorfahren, feſter zu bilden;
hat er dieſes nach den Begebenheiten, deren Anden-
ken noch nicht veraltert war, und nach den dama-
ligen Sitten gethan, ſo iſt ſehr zu zweifeln, daß
jemand zeigen werde, wie er es beſſer haͤtte thun
koͤnnen.
Man erkennt an dieſem Dichter noch deutliche
Spuhren von dem Charakter eines Barden. (*) Er hat
nichts von dem vorſichtigen Weſen eines gelernten
Kuͤnſtlers. Er ſingt nicht, weil er ein Liebhaber der
Dichtkunſt iſt, ſondern weil er einen oͤffentlichen Be-
ruf dazu hat, Thaten, die noch in friſchem Andenken
waren, in dem Gedaͤchtnis der Nation zu erhalten.
Daß ſchon aͤltere Werke der Dichtkunſt vor ihm
vorhanden geweſen, nach denen er ſein Model ge-
nommen, kann man nirgend merken; ſo ſehr fließt
bey ihm der volle Strohm aus ſeiner eigenen Quelle,
ohne Spuhr einer kuͤnſtlichen Veranſtaltung.
(*) S.
Dichtkunſt
auf der
254 S.
Horaz.
Man wuͤrde ſich einen zu niedrigen Begriff von
einem der groͤßten Dichter des Alterthums machen,
wenn man ſich einbildete, daß Horaz aus bloßer
Liebhaberey ein Dichter geworden, daß er, wie es
etwa in unſern Zeiten zu geſchehen pflegt, ſeine Ju-
gend und ſein reiferes Alter angewendet habe, poeti-
ſche Gedanken und Bilder aufzuſuchen, und Sylben
abzuzaͤhlen, um bey verſchiedenen Gelegenheiten ſei-
nen Mitbuͤrgern etwas zu leſen zu geben, das ihnen
gefiele, und ihm den Ruhm eines witzigen Kopfs
erwuͤrbe. Der Graf Shaftesbury hat richtig ange-
merkt, daß die alten und neuen Kunſtrichter, die
dieſen Dichter mit ihren Anmerkungen erlaͤutert ha-
ben, uns den großen Mann in ihm gar nicht gezei-
get haben, der er wuͤrklich geweſen iſt. Wenn man
nur das, was er ſelbſt hier und da in ſeinen Ge-
dichten von ſeinen perſoͤnlichen Umſtaͤnden und von
ſeinem Charakter einfließen laͤßt, zuſammen nihmt,
ſo zeiget er ſich in einem ſehr vortheilhaften Lichte.
Er war der Sohn eines freygelaſſenen, vermuth-
lich griechiſchen, Mannes von Vermoͤgen und recht-
ſchaffenem Weſen, der ihm eine gute Erziehung ge-
geben. Er druͤkt ſich daruͤber an verſchiedenen Or-
ten ſehr deutlich aus; er ſchreibet es ſeinem Vater
zu, daß er ein redlicher und beliebter Mann ge-
worden:
— purus et inſons
— fi et vivo carus amicis:
Cauſa fuit pater his. (*)
Sei-
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