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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Jli
Jlias.

Ein Heldengedicht, darin Homer die fatalen Fol-
gen der Entzweyung zwischen Agamemnon und Achil-
les, bey der Belagerung der Stadt Troja, besingt.
Die Personen des Gedichts fallen also in ein sehr
entferntes Weltalter, und der Dichter selbst ist uns
nicht merklich näher. Er erzählt Begebenheiten,
schildert Menschen und Sachen, die uns in mancher-
ley Absichten ganz fremd sind. Man wird dadurch
mit Sitten, Künsten, Wissenschaften, Politik und
Staaten bekannt, die von den Unsrigen sehr entfernt
sind. Das Gedicht enthält eine bewundrungswür-
dige Menge und Verschiedenheit von Begebenheiten,
von kriegerischen und politischen Thaten, und macht
uns mit sehr viel Menschen von merkwürdigen Cha-
rakteren genau bekannt. Wir lernen fast alle Häup-
ter der so zahlreichen griechischen Stämme und klei-
ner Völkerschaften, jeden nach seinen eigenthümlichen
Charakter, kennen. Die Begebenheiten fließen in ei-
ner sehr genauen Verknüpfung aus einander, und
sind mit der größten Geschiklichkeit angebracht, diese
in das volleste Licht zu setzen. Die Charaktere sind
gleichsam der Reyhe nach geordnet, und eigene Theile
des Gedichts scheinen gewidmet gewisse besondere
Stüke in jedem auszuarbeiten.

Die meisten Personen dieses Gedichts sind von ho-
hem Muth, ungestühmen Neigungen, voll von Na-
tional-oder Familienstoltz, und sind in der gewalt-
thätigen Unternehmung, ein mächtiges Volk aus-
zurotten, zusammen verbunden. Alles was Kühnheit,
Rache, Eigensinn, kriegerische Ruhmbegierde in
Menschen, die von keinem Zwang wissen, hervor-
bringen kann, erscheint in diesem wunderbaren Ge-
dicht in seiner eigentlichsten Gestalt, mit den na-
türlichsten Farben, und durch die kräftigste Zeichnug
ausgedrükt.

Jhre Religion und ihre Sitten zeugen von der
Einfalt der rohen Natur und von unüberlegten, oder
noch nicht verfeinerten, Empfindungen, einer noch
halb wilden Nation. Eben so einfältig, wild und
unabgemessen ist auch das Genie des Dichters, der
von seiner Materie ganz angefüllt sich hinreißen läßt
und selten Zeit nihmt, sich umzusehen, oder seine
Schritte abzumessen. Unbekümmert ob ihm jemand
zuhörn, und was andre dabey fühlen können, singt
er mit voller Stimme, was er fühlt. Man stellt
sich immer dabey vor, daß er alles, was er erzählt,
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Jli
itzt würklich vor seinen Augen entstehen sehe, und
allemal mit dem richtigsten Ausdruk beschreibe. Er
sieht aber alles, als ein Mensch, dem von den Sit-
ten, der Gemüthsart der Personen, von den
Künsten, und von den Ländern seiner Zeit nichts
unbekannt ist.

Der erste Held der Jlias, auf dessen Charakter
sich alles gründet, ist Achilles, ein höchst ungestühmer,
zorniger, trotziger und äußerst eigensinniger Jüng-
ling. Er stößt alles vor sich her zu Boden, und
je größer der Tumult wird, desto mehr glänzt er.
So groß dieser im kriegerischen Muth ist, so
groß ist Ulysses in Politik und Verschlagenheit, und
Nestor in gesetzter Weißheit eines, durch mancher-
ley Erfahrungen klugen Alters. Neben diesen
sehen wir eine ganze Schaar andrer Helden, deren
jeder der Anführer eines besondern Stammes ist,
und der seine, ihm völlig eigene Art zu denken
und zu handeln hat. Wir lernen nicht nur alle
diese Helden, sondern auch die Völker, die sie an-
führen, die Länder aus denen sie hergekommen,
vieles von ihren besondern Sitten und Gebräu-
chen, kennen. Alle diese Helden haben sich verei-
niget einen mächtigen Staat zu zerstöhren, den
selbst viele Götter aus allen Kräften unterstützen,
dem mehrere Nationen zu Hülfe kommen, dessen
Haupt ein ehrwürdiger Greis ist, für welchen eine
Schaar Helden, die seine Söhne sind, ihr Leben
mit Freuden wagen. Alles, was im Himmel und
auf Erden an Macht, an kriegerischem Muth, und
an politischer Verschlagenhelt, groß ist, kommt hier,
bald als Angreifer, bald als Vertheidiger, dem Le-
ser so vors Gesicht, daß er alles mit Augen zu sehen
und mit Ohren zu hören glaubt.

Das menschliche Genie hat nichts hervorgebracht,
daß diesem Werk an Mannigfaltigkeit der Erfindung
und an Lebhaftigkeit der Abbildungen gleich komme,
und im Ganzen genommen wird die Jlias vermuth-
lich das erste Werk des poetischen Genies bleiben.
Denn wenn auch ein zweyter, oder größerer Homer
aufstehen sollte, so würde es ihm allem Ansehen nach,
an einem Stoffe fehlen, der ihm Gelegenheit gäbe,
so viel berühmte Helden und Häupter so vieler
würklich merkwürdiger und mit so völliger innerer
Freyheit handelnder Völker, auf den Schauplatz tre-
ten zu lassen.

Jn-
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Jli
Jlias.

Ein Heldengedicht, darin Homer die fatalen Fol-
gen der Entzweyung zwiſchen Agamemnon und Achil-
les, bey der Belagerung der Stadt Troja, beſingt.
Die Perſonen des Gedichts fallen alſo in ein ſehr
entferntes Weltalter, und der Dichter ſelbſt iſt uns
nicht merklich naͤher. Er erzaͤhlt Begebenheiten,
ſchildert Menſchen und Sachen, die uns in mancher-
ley Abſichten ganz fremd ſind. Man wird dadurch
mit Sitten, Kuͤnſten, Wiſſenſchaften, Politik und
Staaten bekannt, die von den Unſrigen ſehr entfernt
ſind. Das Gedicht enthaͤlt eine bewundrungswuͤr-
dige Menge und Verſchiedenheit von Begebenheiten,
von kriegeriſchen und politiſchen Thaten, und macht
uns mit ſehr viel Menſchen von merkwuͤrdigen Cha-
rakteren genau bekannt. Wir lernen faſt alle Haͤup-
ter der ſo zahlreichen griechiſchen Staͤmme und klei-
ner Voͤlkerſchaften, jeden nach ſeinen eigenthuͤmlichen
Charakter, kennen. Die Begebenheiten fließen in ei-
ner ſehr genauen Verknuͤpfung aus einander, und
ſind mit der groͤßten Geſchiklichkeit angebracht, dieſe
in das volleſte Licht zu ſetzen. Die Charaktere ſind
gleichſam der Reyhe nach geordnet, und eigene Theile
des Gedichts ſcheinen gewidmet gewiſſe beſondere
Stuͤke in jedem auszuarbeiten.

Die meiſten Perſonen dieſes Gedichts ſind von ho-
hem Muth, ungeſtuͤhmen Neigungen, voll von Na-
tional-oder Familienſtoltz, und ſind in der gewalt-
thaͤtigen Unternehmung, ein maͤchtiges Volk aus-
zurotten, zuſammen verbunden. Alles was Kuͤhnheit,
Rache, Eigenſinn, kriegeriſche Ruhmbegierde in
Menſchen, die von keinem Zwang wiſſen, hervor-
bringen kann, erſcheint in dieſem wunderbaren Ge-
dicht in ſeiner eigentlichſten Geſtalt, mit den na-
tuͤrlichſten Farben, und durch die kraͤftigſte Zeichnug
ausgedruͤkt.

Jhre Religion und ihre Sitten zeugen von der
Einfalt der rohen Natur und von unuͤberlegten, oder
noch nicht verfeinerten, Empfindungen, einer noch
halb wilden Nation. Eben ſo einfaͤltig, wild und
unabgemeſſen iſt auch das Genie des Dichters, der
von ſeiner Materie ganz angefuͤllt ſich hinreißen laͤßt
und ſelten Zeit nihmt, ſich umzuſehen, oder ſeine
Schritte abzumeſſen. Unbekuͤmmert ob ihm jemand
zuhoͤrn, und was andre dabey fuͤhlen koͤnnen, ſingt
er mit voller Stimme, was er fuͤhlt. Man ſtellt
ſich immer dabey vor, daß er alles, was er erzaͤhlt,
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itzt wuͤrklich vor ſeinen Augen entſtehen ſehe, und
allemal mit dem richtigſten Ausdruk beſchreibe. Er
ſieht aber alles, als ein Menſch, dem von den Sit-
ten, der Gemuͤthsart der Perſonen, von den
Kuͤnſten, und von den Laͤndern ſeiner Zeit nichts
unbekannt iſt.

Der erſte Held der Jlias, auf deſſen Charakter
ſich alles gruͤndet, iſt Achilles, ein hoͤchſt ungeſtuͤhmer,
zorniger, trotziger und aͤußerſt eigenſinniger Juͤng-
ling. Er ſtoͤßt alles vor ſich her zu Boden, und
je groͤßer der Tumult wird, deſto mehr glaͤnzt er.
So groß dieſer im kriegeriſchen Muth iſt, ſo
groß iſt Ulyſſes in Politik und Verſchlagenheit, und
Neſtor in geſetzter Weißheit eines, durch mancher-
ley Erfahrungen klugen Alters. Neben dieſen
ſehen wir eine ganze Schaar andrer Helden, deren
jeder der Anfuͤhrer eines beſondern Stammes iſt,
und der ſeine, ihm voͤllig eigene Art zu denken
und zu handeln hat. Wir lernen nicht nur alle
dieſe Helden, ſondern auch die Voͤlker, die ſie an-
fuͤhren, die Laͤnder aus denen ſie hergekommen,
vieles von ihren beſondern Sitten und Gebraͤu-
chen, kennen. Alle dieſe Helden haben ſich verei-
niget einen maͤchtigen Staat zu zerſtoͤhren, den
ſelbſt viele Goͤtter aus allen Kraͤften unterſtuͤtzen,
dem mehrere Nationen zu Huͤlfe kommen, deſſen
Haupt ein ehrwuͤrdiger Greis iſt, fuͤr welchen eine
Schaar Helden, die ſeine Soͤhne ſind, ihr Leben
mit Freuden wagen. Alles, was im Himmel und
auf Erden an Macht, an kriegeriſchem Muth, und
an politiſcher Verſchlagenhelt, groß iſt, kommt hier,
bald als Angreifer, bald als Vertheidiger, dem Le-
ſer ſo vors Geſicht, daß er alles mit Augen zu ſehen
und mit Ohren zu hoͤren glaubt.

Das menſchliche Genie hat nichts hervorgebracht,
daß dieſem Werk an Mannigfaltigkeit der Erfindung
und an Lebhaftigkeit der Abbildungen gleich komme,
und im Ganzen genommen wird die Jlias vermuth-
lich das erſte Werk des poetiſchen Genies bleiben.
Denn wenn auch ein zweyter, oder groͤßerer Homer
aufſtehen ſollte, ſo wuͤrde es ihm allem Anſehen nach,
an einem Stoffe fehlen, der ihm Gelegenheit gaͤbe,
ſo viel beruͤhmte Helden und Haͤupter ſo vieler
wuͤrklich merkwuͤrdiger und mit ſo voͤlliger innerer
Freyheit handelnder Voͤlker, auf den Schauplatz tre-
ten zu laſſen.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/570>, abgerufen am 24.11.2024.