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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Jdi
wissen. Darum muß man Ausdrüke, die ihren
Grund in einem Bilde, Gebrauch, oder in einer Vor-
stellung haben, deswegen noch nicht für Jdiotismen
halten, weil sie in gewissen Sprachen so häufig vor-
kommen, daß man sich des Grundes, worauf sie be-
ruhen, kaum mehr bewußt ist. Bey solchen Aus-
drüken, sie seyen in der römischen, griechischen, oder
in einer morgenländischen Sprache, kommt es da-
rauf an, ob das Bild uns bekannt sey, und, wenn
dieses ist, ob es bey uns, auf der Stelle, da es vor-
kommt, seine Würkung thue.

Wenn demnach einige Kunstrichter uns die Erin-
nerung geben, daß man dem morgenländischen Aus-
druk in einer gewissen Entfernung folgen müsse, so
sagen sie uns etwas so unbestimmtes, daß die Erin-
nerung völlig unnütze wird. Wollen sie sagen, daß
man Personen aus unsern Zeiten, die in unserm
Clima, bey unsern Gebräuchen und zu unsrer Den-
kungsart erzogen sind, keine orientalische Bilder und
Ausdrüke in den Mund legen soll, (ein gegründetes
Verboth) so haben sie sich unrichtig ausgedükt.
Wollen sie aber verbiethen, daß man morgenländi-
sche Personen, in orientalischen Redensarten soll spre-
chen lassen, so verwerfen sie etwas, das charakteri-
stisch und gut ist. Man braucht überhaupt nicht
zu verbiethen, fremde Jdiotismen in unsre Sprach
einzuführen; denn wahre Jdiotismen lassen sich nicht
in andre Sprachen versetzen. Es scheinet zwar, daß
man fremde Jdiotismen in seine Sprache aufneh-
men könne: im Grund aber ist es nur ein Schein;
weil kein Mensch sie versteht, als in so fern er sie
wieder in die fremde Sprach, daraus sie genommen
sind, übersetzt. Darum hat die Barbarey fremde
Jdiotismen zu gebrauchen nur da statt, wo zwey
Sprachen gleich bekannt und geläufig sind; wo die
redenden Personen in der einen denken und in der
andern sprechen. So höret man bisweilen in Ber-
lin, den Ausdruk: er hat sich gut genommen, der
den französischen Jdiotismus il s'est bien pris aus-
drüket. Aber der deutsche Ausdruk ist für den, der
nicht französisch kann, vollkommen unverständlich.
Jndessen kann die Tyranney der Gewohnheit bis-
weilen gewisse fremde Jdiotismen allmählig verständ-
lich und brauchbar machen. So hat die deutsche
Sprach unzählige Jdiotismen der lateinischen Sprach
dadurch bekommen, daß man gewisse Wörter, die
in der lateinischen Sprach aus einer Präposition und
einem andern Wort zusammengesetzt worden, auf
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Jdi
eine ähnliche Weise zusammengesetzt hat, wie z. E.
Anfangen, von incipere, Vorwurff (anstatt Ge-
genstand) von objectum. Ursprünglich waren diese
Jdiotismen eben so unverständlich und barbarisch,
als wenn man das deutsche Wort Vormauer (Schutz)
durch Antemurus, oder Mannheit durch Virtus
übersetzen wollte. Man sieht wol daß diese Wör-
ter durch die Mönchen, denen die lateinische Spra-
che geläufiger, als die Deutsche war, wenn sie deutsch
schreiben mußten, eingeführt worden sind. Wäre
die lateinische Sprache nicht so durchgehends in
Deutschland bekannt worden, so würden auch solche
Wörter unverständlich geblieben seyn.

Man kann sagen, daß der Dichter oder Redner,
welcher die Jdiotismen seiner Sprach am glüklichsten
zu brauchen weiß, seinen Ausdruk dadurch ausneh-
mend belebt und natürlich mache. Am allernoth-
wendigsten wird dieses dem comischen Dichter, der
sowol das Nationale, als das persönlich Jdiomatische
durchaus zu treffen sich befleißigen muß. Dann
dadurch kann er den Zuhörer am meisten täuschen,
und ihn glauben machen, daß er die Natur selbst
vor sich sehe. Man kann dem comischen Dichter
nie genug empfehlen, daß er gewissen Personen keine
Wörter in den Mund lege, die würkliche Jdiotis-
men einer ganz andern Gattung von Menschen sind.
So ist es höchst unnatürlich, wenn man Menschen,
die, nach ihrem Stand und nach ihrer Lebensart
blos sinnliche Begriffe haben können, philosophische,
oder aus der Sprach einer verfeinerten Lebensart
entlehnte Ausdrüke in den Mund legt; wie wenn
man einen Helden aus den trojanischen Zeiten das
Wort Tugend, in dem Verstand, in welchem es unsre
Moralisten nehmen, wollte brauchen lassen. Man
hat um so viel mehr Ursache den Dichtern, die für
die Schaubühue arbeiten, die genaueste Beobachtung
des Ausdruks und der Sprache, die jeder Classe der
Menschen einigermaaßen idiomatisch sind, zu empfeh-
len, da auch die besten Dichter hierin vielfältig fehlen.
Man wird in den gelobtesten französischen Trauer-
spielen die Helden des Alterthums ofte die Sprache
eines französischen Hoffmannes reden hören, und
auf unsrer deutschen Schaubühne höret man nur
gar zu ofte vornehmere und gemeinere Personen eine
Sprache reden, die von der Sprache des Umganges
der geringern, oder vornehmern Welt, völlig ver-
schieden, und die eigentlich die Sprache der Schrift-
steller ist.

Jlias.
A a a a 3

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Jdi
wiſſen. Darum muß man Ausdruͤke, die ihren
Grund in einem Bilde, Gebrauch, oder in einer Vor-
ſtellung haben, deswegen noch nicht fuͤr Jdiotismen
halten, weil ſie in gewiſſen Sprachen ſo haͤufig vor-
kommen, daß man ſich des Grundes, worauf ſie be-
ruhen, kaum mehr bewußt iſt. Bey ſolchen Aus-
druͤken, ſie ſeyen in der roͤmiſchen, griechiſchen, oder
in einer morgenlaͤndiſchen Sprache, kommt es da-
rauf an, ob das Bild uns bekannt ſey, und, wenn
dieſes iſt, ob es bey uns, auf der Stelle, da es vor-
kommt, ſeine Wuͤrkung thue.

Wenn demnach einige Kunſtrichter uns die Erin-
nerung geben, daß man dem morgenlaͤndiſchen Aus-
druk in einer gewiſſen Entfernung folgen muͤſſe, ſo
ſagen ſie uns etwas ſo unbeſtimmtes, daß die Erin-
nerung voͤllig unnuͤtze wird. Wollen ſie ſagen, daß
man Perſonen aus unſern Zeiten, die in unſerm
Clima, bey unſern Gebraͤuchen und zu unſrer Den-
kungsart erzogen ſind, keine orientaliſche Bilder und
Ausdruͤke in den Mund legen ſoll, (ein gegruͤndetes
Verboth) ſo haben ſie ſich unrichtig ausgeduͤkt.
Wollen ſie aber verbiethen, daß man morgenlaͤndi-
ſche Perſonen, in orientaliſchen Redensarten ſoll ſpre-
chen laſſen, ſo verwerfen ſie etwas, das charakteri-
ſtiſch und gut iſt. Man braucht uͤberhaupt nicht
zu verbiethen, fremde Jdiotismen in unſre Sprach
einzufuͤhren; denn wahre Jdiotismen laſſen ſich nicht
in andre Sprachen verſetzen. Es ſcheinet zwar, daß
man fremde Jdiotismen in ſeine Sprache aufneh-
men koͤnne: im Grund aber iſt es nur ein Schein;
weil kein Menſch ſie verſteht, als in ſo fern er ſie
wieder in die fremde Sprach, daraus ſie genommen
ſind, uͤberſetzt. Darum hat die Barbarey fremde
Jdiotismen zu gebrauchen nur da ſtatt, wo zwey
Sprachen gleich bekannt und gelaͤufig ſind; wo die
redenden Perſonen in der einen denken und in der
andern ſprechen. So hoͤret man bisweilen in Ber-
lin, den Ausdruk: er hat ſich gut genommen, der
den franzoͤſiſchen Jdiotismus il s’eſt bien pris aus-
druͤket. Aber der deutſche Ausdruk iſt fuͤr den, der
nicht franzoͤſiſch kann, vollkommen unverſtaͤndlich.
Jndeſſen kann die Tyranney der Gewohnheit bis-
weilen gewiſſe fremde Jdiotismen allmaͤhlig verſtaͤnd-
lich und brauchbar machen. So hat die deutſche
Sprach unzaͤhlige Jdiotismen der lateiniſchen Sprach
dadurch bekommen, daß man gewiſſe Woͤrter, die
in der lateiniſchen Sprach aus einer Praͤpoſition und
einem andern Wort zuſammengeſetzt worden, auf
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Jdi
eine aͤhnliche Weiſe zuſammengeſetzt hat, wie z. E.
Anfangen, von incipere, Vorwurff (anſtatt Ge-
genſtand) von objectum. Urſpruͤnglich waren dieſe
Jdiotismen eben ſo unverſtaͤndlich und barbariſch,
als wenn man das deutſche Wort Vormauer (Schutz)
durch Antemurus, oder Mannheit durch Virtus
uͤberſetzen wollte. Man ſieht wol daß dieſe Woͤr-
ter durch die Moͤnchen, denen die lateiniſche Spra-
che gelaͤufiger, als die Deutſche war, wenn ſie deutſch
ſchreiben mußten, eingefuͤhrt worden ſind. Waͤre
die lateiniſche Sprache nicht ſo durchgehends in
Deutſchland bekannt worden, ſo wuͤrden auch ſolche
Woͤrter unverſtaͤndlich geblieben ſeyn.

Man kann ſagen, daß der Dichter oder Redner,
welcher die Jdiotismen ſeiner Sprach am gluͤklichſten
zu brauchen weiß, ſeinen Ausdruk dadurch ausneh-
mend belebt und natuͤrlich mache. Am allernoth-
wendigſten wird dieſes dem comiſchen Dichter, der
ſowol das Nationale, als das perſoͤnlich Jdiomatiſche
durchaus zu treffen ſich befleißigen muß. Dann
dadurch kann er den Zuhoͤrer am meiſten taͤuſchen,
und ihn glauben machen, daß er die Natur ſelbſt
vor ſich ſehe. Man kann dem comiſchen Dichter
nie genug empfehlen, daß er gewiſſen Perſonen keine
Woͤrter in den Mund lege, die wuͤrkliche Jdiotis-
men einer ganz andern Gattung von Menſchen ſind.
So iſt es hoͤchſt unnatuͤrlich, wenn man Menſchen,
die, nach ihrem Stand und nach ihrer Lebensart
blos ſinnliche Begriffe haben koͤnnen, philoſophiſche,
oder aus der Sprach einer verfeinerten Lebensart
entlehnte Ausdruͤke in den Mund legt; wie wenn
man einen Helden aus den trojaniſchen Zeiten das
Wort Tugend, in dem Verſtand, in welchem es unſre
Moraliſten nehmen, wollte brauchen laſſen. Man
hat um ſo viel mehr Urſache den Dichtern, die fuͤr
die Schaubuͤhue arbeiten, die genaueſte Beobachtung
des Ausdruks und der Sprache, die jeder Claſſe der
Menſchen einigermaaßen idiomatiſch ſind, zu empfeh-
len, da auch die beſten Dichter hierin vielfaͤltig fehlen.
Man wird in den gelobteſten franzoͤſiſchen Trauer-
ſpielen die Helden des Alterthums ofte die Sprache
eines franzoͤſiſchen Hoffmannes reden hoͤren, und
auf unſrer deutſchen Schaubuͤhne hoͤret man nur
gar zu ofte vornehmere und gemeinere Perſonen eine
Sprache reden, die von der Sprache des Umganges
der geringern, oder vornehmern Welt, voͤllig ver-
ſchieden, und die eigentlich die Sprache der Schrift-
ſteller iſt.

Jlias.
A a a a 3
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[557/0569] Jdi Jdi wiſſen. Darum muß man Ausdruͤke, die ihren Grund in einem Bilde, Gebrauch, oder in einer Vor- ſtellung haben, deswegen noch nicht fuͤr Jdiotismen halten, weil ſie in gewiſſen Sprachen ſo haͤufig vor- kommen, daß man ſich des Grundes, worauf ſie be- ruhen, kaum mehr bewußt iſt. Bey ſolchen Aus- druͤken, ſie ſeyen in der roͤmiſchen, griechiſchen, oder in einer morgenlaͤndiſchen Sprache, kommt es da- rauf an, ob das Bild uns bekannt ſey, und, wenn dieſes iſt, ob es bey uns, auf der Stelle, da es vor- kommt, ſeine Wuͤrkung thue. Wenn demnach einige Kunſtrichter uns die Erin- nerung geben, daß man dem morgenlaͤndiſchen Aus- druk in einer gewiſſen Entfernung folgen muͤſſe, ſo ſagen ſie uns etwas ſo unbeſtimmtes, daß die Erin- nerung voͤllig unnuͤtze wird. Wollen ſie ſagen, daß man Perſonen aus unſern Zeiten, die in unſerm Clima, bey unſern Gebraͤuchen und zu unſrer Den- kungsart erzogen ſind, keine orientaliſche Bilder und Ausdruͤke in den Mund legen ſoll, (ein gegruͤndetes Verboth) ſo haben ſie ſich unrichtig ausgeduͤkt. Wollen ſie aber verbiethen, daß man morgenlaͤndi- ſche Perſonen, in orientaliſchen Redensarten ſoll ſpre- chen laſſen, ſo verwerfen ſie etwas, das charakteri- ſtiſch und gut iſt. Man braucht uͤberhaupt nicht zu verbiethen, fremde Jdiotismen in unſre Sprach einzufuͤhren; denn wahre Jdiotismen laſſen ſich nicht in andre Sprachen verſetzen. Es ſcheinet zwar, daß man fremde Jdiotismen in ſeine Sprache aufneh- men koͤnne: im Grund aber iſt es nur ein Schein; weil kein Menſch ſie verſteht, als in ſo fern er ſie wieder in die fremde Sprach, daraus ſie genommen ſind, uͤberſetzt. Darum hat die Barbarey fremde Jdiotismen zu gebrauchen nur da ſtatt, wo zwey Sprachen gleich bekannt und gelaͤufig ſind; wo die redenden Perſonen in der einen denken und in der andern ſprechen. So hoͤret man bisweilen in Ber- lin, den Ausdruk: er hat ſich gut genommen, der den franzoͤſiſchen Jdiotismus il s’eſt bien pris aus- druͤket. Aber der deutſche Ausdruk iſt fuͤr den, der nicht franzoͤſiſch kann, vollkommen unverſtaͤndlich. Jndeſſen kann die Tyranney der Gewohnheit bis- weilen gewiſſe fremde Jdiotismen allmaͤhlig verſtaͤnd- lich und brauchbar machen. So hat die deutſche Sprach unzaͤhlige Jdiotismen der lateiniſchen Sprach dadurch bekommen, daß man gewiſſe Woͤrter, die in der lateiniſchen Sprach aus einer Praͤpoſition und einem andern Wort zuſammengeſetzt worden, auf eine aͤhnliche Weiſe zuſammengeſetzt hat, wie z. E. Anfangen, von incipere, Vorwurff (anſtatt Ge- genſtand) von objectum. Urſpruͤnglich waren dieſe Jdiotismen eben ſo unverſtaͤndlich und barbariſch, als wenn man das deutſche Wort Vormauer (Schutz) durch Antemurus, oder Mannheit durch Virtus uͤberſetzen wollte. Man ſieht wol daß dieſe Woͤr- ter durch die Moͤnchen, denen die lateiniſche Spra- che gelaͤufiger, als die Deutſche war, wenn ſie deutſch ſchreiben mußten, eingefuͤhrt worden ſind. Waͤre die lateiniſche Sprache nicht ſo durchgehends in Deutſchland bekannt worden, ſo wuͤrden auch ſolche Woͤrter unverſtaͤndlich geblieben ſeyn. Man kann ſagen, daß der Dichter oder Redner, welcher die Jdiotismen ſeiner Sprach am gluͤklichſten zu brauchen weiß, ſeinen Ausdruk dadurch ausneh- mend belebt und natuͤrlich mache. Am allernoth- wendigſten wird dieſes dem comiſchen Dichter, der ſowol das Nationale, als das perſoͤnlich Jdiomatiſche durchaus zu treffen ſich befleißigen muß. Dann dadurch kann er den Zuhoͤrer am meiſten taͤuſchen, und ihn glauben machen, daß er die Natur ſelbſt vor ſich ſehe. Man kann dem comiſchen Dichter nie genug empfehlen, daß er gewiſſen Perſonen keine Woͤrter in den Mund lege, die wuͤrkliche Jdiotis- men einer ganz andern Gattung von Menſchen ſind. So iſt es hoͤchſt unnatuͤrlich, wenn man Menſchen, die, nach ihrem Stand und nach ihrer Lebensart blos ſinnliche Begriffe haben koͤnnen, philoſophiſche, oder aus der Sprach einer verfeinerten Lebensart entlehnte Ausdruͤke in den Mund legt; wie wenn man einen Helden aus den trojaniſchen Zeiten das Wort Tugend, in dem Verſtand, in welchem es unſre Moraliſten nehmen, wollte brauchen laſſen. Man hat um ſo viel mehr Urſache den Dichtern, die fuͤr die Schaubuͤhue arbeiten, die genaueſte Beobachtung des Ausdruks und der Sprache, die jeder Claſſe der Menſchen einigermaaßen idiomatiſch ſind, zu empfeh- len, da auch die beſten Dichter hierin vielfaͤltig fehlen. Man wird in den gelobteſten franzoͤſiſchen Trauer- ſpielen die Helden des Alterthums ofte die Sprache eines franzoͤſiſchen Hoffmannes reden hoͤren, und auf unſrer deutſchen Schaubuͤhne hoͤret man nur gar zu ofte vornehmere und gemeinere Perſonen eine Sprache reden, die von der Sprache des Umganges der geringern, oder vornehmern Welt, voͤllig ver- ſchieden, und die eigentlich die Sprache der Schrift- ſteller iſt. Jlias. A a a a 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/569>, abgerufen am 29.04.2024.