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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ana
Genuß gehabt hatte. Nachdem diese ehrwürdige
Gesellschaft von gutem Weine etwas munter wor-
den, fieng man, nach Art der damaligen Zeiten, an,
Anagrammen zu machen. Einer nahm den Na-
men Tobianus zum Text, und sagte, das Glas in
der Hand:

Obit Anus.
Der andere: Abit Onus.
Der dritte: Tua Nobis
Sunto; abi.
Der vierte: Vbi sonat
Tuba Sion.
Tobianus: Ita bonus (optavit)
Tobianus.

Von einer edlern und geistreichern Art ist folgen-
des:

Als der König Stanislaus von Pohlen in seiner
Jugend von Reisen zurücke kam, versammelte
sich das ganze hohe Lescinskische Haus in Lissa,
um seinen Stammerben zu bewillkommen. Der
nachherige preußische Hofprediger in Berlin, Herr
Jablonsky, welcher damals Rector der Schule zu
Lissa war, hielt bey dieser Gelegenheit einen Actum
oratorium,
zu dessen Beschluß er 13 als junge
Helden gekleidete Tänzer auftreten ließ, einige
Ballete zu tanzen. Jeder hatte einen Schild,
auf welchem einer der Buchstaben dieser zwey Wör-
ter, DOMVS LESCINIA, in Gold geschrieben
war.

Nach dem ersten Ballet fanden sich die Tänzer
so gestellt, daß die Ordnung ihrer Schilder die
Worte Domus Lescinia lesen ließe, die sich nach
dem andern Ballet in diese verwandelten:

Ades incolumis.
Nach dem dritten in diese: Omnis es lucida.
Nach dem vierten: Omnis sis lucida.
Nach dem fünften: Mane sidus loci.
Nach dem sechsten: Sis Columna Dei.
Und zum Beschluß: I! Scande solium.

Welches letztere als eine Art der Prophezeyhung
kann angesehen werden.

Anakreon.

Ein griechischer Liederdichter aus der Stadt Thejos
in Jonien gebürtig. Er hat zu den Zeiten des Cy-
rus und Cambyses gelebt, und sich meistentheils an
dem Hofe des Polycrates, Tyrannen der Jnsel
[Spaltenumbruch]

Ana
Samos aufgehalten, wie wol er auch eine Zeitlang
in Athen an dem Hofe des Tyrannen Hipxarchus
gelebt hat. Man hat noch ein und siebenzig Lieder
und einige Uberschriften von ihm. Jene sind alle
in dreyfüßigen Jamben und scheinen recht eigen zu
einem leichten fröhlichen Gesang abgemessen. Jhr
Jnhalt ist durchgehends die Fröhlichkeit, die den Ge-
nuß der Liebe und des Weines begleitet. Sie be-
zeichnen den Charakter eines feinen Wollüstlings,
der sein ganzes Leben dem Bachus und der Venus
gewidmet hat, dabey aber immer vergnügt und scherz-
haft geblieben ist.

Man muß also seine Lieder, blos als artige Klei-
nigkeiten ansehen, die zum absingen in Gesellschaften
gemacht worden, wo die sinnliche Lust durch feinen
Wiz sollte gewürzt werden. Jn dieser Absicht sind
sie unvergleichlich. Eine große Munterkeit ohne
alle ernsthafte Leidenschaft, ein überaus feiner Wiz,
und die angenehmste Art sich auszudrüken, sind
überall darin anzutreffen. Der Dichter sieht in
der ganzen Welt und in allen Händeln der Menschen
nichts, als was sich auf Wein und Liebe bezieht;
alles ist Scherz und Tändeley mit Beziehung auf die-
se beyden Gegenstände. Seine Laune ist die ange-
nehmste von der Welt, und lieblich, wie der schönste
Frühlingstag. Auf die allerleichteste Art mahlt
er tausend angenehme Phantomen, die mit wol-
lüstigem Sumsen vor unsrer Einbildungskraft herum-
flattern, und versezt uns in eine Welt, woraus aller
Ernst, alles Nachdenken, verbannet ist, wo nichts
als Schwärmereyen einer leichten, die Seele wenig
angreifenden Wollust herrschen.

Hieraus ist zu sehen, daß diese Lieder nicht zum
Lesen in einsamen und ernsthaften Stunden, die
man besser anwenden kann, sondern als ein artiges
Spiel zur Ermunterung in Gesellschaften, und zur
Erquikung des Geistes geschrieben sind. Sie sind
ein Blumengarten, wo tausend liebliche Gerüche
herum flattern, aber keine einzige nahrhafte Frucht
anzutreffen ist.

Anakreontische Lieder, werden alle die genennt,
welche in dem Geiste des Anakreons geschrieben sind.
Jhr leichter Jnhalt erfodert eine leichte und kurze
Versart, so wie Anakreon sie gebraucht hat. Jns-
gemein wird ein dreyfüßiger jambischer Vers mit
einer übrigen kurzen Sylbe am Ende gewählt.
Gleim ist der erste Deutsche, der glüklich in der
Art des Anakreons gedichtet hat. Der Beyfall,

womit
Erster Theil. G

[Spaltenumbruch]

Ana
Genuß gehabt hatte. Nachdem dieſe ehrwuͤrdige
Geſellſchaft von gutem Weine etwas munter wor-
den, fieng man, nach Art der damaligen Zeiten, an,
Anagrammen zu machen. Einer nahm den Na-
men Tobianus zum Text, und ſagte, das Glas in
der Hand:

Obit Anus.
Der andere: Abit Onus.
Der dritte: Tua Nobis
Sunto; abi.
Der vierte: Vbi ſonat
Tuba Sion.
Tobianus: Ita bonus (optavit)
Tobianus.

Von einer edlern und geiſtreichern Art iſt folgen-
des:

Als der Koͤnig Stanislaus von Pohlen in ſeiner
Jugend von Reiſen zuruͤcke kam, verſammelte
ſich das ganze hohe Lescinskiſche Haus in Liſſa,
um ſeinen Stammerben zu bewillkommen. Der
nachherige preußiſche Hofprediger in Berlin, Herr
Jablonsky, welcher damals Rector der Schule zu
Liſſa war, hielt bey dieſer Gelegenheit einen Actum
oratorium,
zu deſſen Beſchluß er 13 als junge
Helden gekleidete Taͤnzer auftreten ließ, einige
Ballete zu tanzen. Jeder hatte einen Schild,
auf welchem einer der Buchſtaben dieſer zwey Woͤr-
ter, DOMVS LESCINIA, in Gold geſchrieben
war.

Nach dem erſten Ballet fanden ſich die Taͤnzer
ſo geſtellt, daß die Ordnung ihrer Schilder die
Worte Domus Leſcinia leſen ließe, die ſich nach
dem andern Ballet in dieſe verwandelten:

Ades incolumis.
Nach dem dritten in dieſe: Omnis es lucida.
Nach dem vierten: Omnis ſis lucida.
Nach dem fuͤnften: Mane ſidus loci.
Nach dem ſechsten: Sis Columna Dei.
Und zum Beſchluß: I! Scande ſolium.

Welches letztere als eine Art der Prophezeyhung
kann angeſehen werden.

Anakreon.

Ein griechiſcher Liederdichter aus der Stadt Thejos
in Jonien gebuͤrtig. Er hat zu den Zeiten des Cy-
rus und Cambyſes gelebt, und ſich meiſtentheils an
dem Hofe des Polycrates, Tyrannen der Jnſel
[Spaltenumbruch]

Ana
Samos aufgehalten, wie wol er auch eine Zeitlang
in Athen an dem Hofe des Tyrannen Hipxarchus
gelebt hat. Man hat noch ein und ſiebenzig Lieder
und einige Uberſchriften von ihm. Jene ſind alle
in dreyfuͤßigen Jamben und ſcheinen recht eigen zu
einem leichten froͤhlichen Geſang abgemeſſen. Jhr
Jnhalt iſt durchgehends die Froͤhlichkeit, die den Ge-
nuß der Liebe und des Weines begleitet. Sie be-
zeichnen den Charakter eines feinen Wolluͤſtlings,
der ſein ganzes Leben dem Bachus und der Venus
gewidmet hat, dabey aber immer vergnuͤgt und ſcherz-
haft geblieben iſt.

Man muß alſo ſeine Lieder, blos als artige Klei-
nigkeiten anſehen, die zum abſingen in Geſellſchaften
gemacht worden, wo die ſinnliche Luſt durch feinen
Wiz ſollte gewuͤrzt werden. Jn dieſer Abſicht ſind
ſie unvergleichlich. Eine große Munterkeit ohne
alle ernſthafte Leidenſchaft, ein uͤberaus feiner Wiz,
und die angenehmſte Art ſich auszudruͤken, ſind
uͤberall darin anzutreffen. Der Dichter ſieht in
der ganzen Welt und in allen Haͤndeln der Menſchen
nichts, als was ſich auf Wein und Liebe bezieht;
alles iſt Scherz und Taͤndeley mit Beziehung auf die-
ſe beyden Gegenſtaͤnde. Seine Laune iſt die ange-
nehmſte von der Welt, und lieblich, wie der ſchoͤnſte
Fruͤhlingstag. Auf die allerleichteſte Art mahlt
er tauſend angenehme Phantomen, die mit wol-
luͤſtigem Sumſen vor unſrer Einbildungskraft herum-
flattern, und verſezt uns in eine Welt, woraus aller
Ernſt, alles Nachdenken, verbannet iſt, wo nichts
als Schwaͤrmereyen einer leichten, die Seele wenig
angreifenden Wolluſt herrſchen.

Hieraus iſt zu ſehen, daß dieſe Lieder nicht zum
Leſen in einſamen und ernſthaften Stunden, die
man beſſer anwenden kann, ſondern als ein artiges
Spiel zur Ermunterung in Geſellſchaften, und zur
Erquikung des Geiſtes geſchrieben ſind. Sie ſind
ein Blumengarten, wo tauſend liebliche Geruͤche
herum flattern, aber keine einzige nahrhafte Frucht
anzutreffen iſt.

Anakreontiſche Lieder, werden alle die genennt,
welche in dem Geiſte des Anakreons geſchrieben ſind.
Jhr leichter Jnhalt erfodert eine leichte und kurze
Versart, ſo wie Anakreon ſie gebraucht hat. Jns-
gemein wird ein dreyfuͤßiger jambiſcher Vers mit
einer uͤbrigen kurzen Sylbe am Ende gewaͤhlt.
Gleim iſt der erſte Deutſche, der gluͤklich in der
Art des Anakreons gedichtet hat. Der Beyfall,

womit
Erſter Theil. G
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[49/0061] Ana Ana Genuß gehabt hatte. Nachdem dieſe ehrwuͤrdige Geſellſchaft von gutem Weine etwas munter wor- den, fieng man, nach Art der damaligen Zeiten, an, Anagrammen zu machen. Einer nahm den Na- men Tobianus zum Text, und ſagte, das Glas in der Hand: Obit Anus. Der andere: Abit Onus. Der dritte: Tua Nobis Sunto; abi. Der vierte: Vbi ſonat Tuba Sion. Tobianus: Ita bonus (optavit) Tobianus. Von einer edlern und geiſtreichern Art iſt folgen- des: Als der Koͤnig Stanislaus von Pohlen in ſeiner Jugend von Reiſen zuruͤcke kam, verſammelte ſich das ganze hohe Lescinskiſche Haus in Liſſa, um ſeinen Stammerben zu bewillkommen. Der nachherige preußiſche Hofprediger in Berlin, Herr Jablonsky, welcher damals Rector der Schule zu Liſſa war, hielt bey dieſer Gelegenheit einen Actum oratorium, zu deſſen Beſchluß er 13 als junge Helden gekleidete Taͤnzer auftreten ließ, einige Ballete zu tanzen. Jeder hatte einen Schild, auf welchem einer der Buchſtaben dieſer zwey Woͤr- ter, DOMVS LESCINIA, in Gold geſchrieben war. Nach dem erſten Ballet fanden ſich die Taͤnzer ſo geſtellt, daß die Ordnung ihrer Schilder die Worte Domus Leſcinia leſen ließe, die ſich nach dem andern Ballet in dieſe verwandelten: Ades incolumis. Nach dem dritten in dieſe: Omnis es lucida. Nach dem vierten: Omnis ſis lucida. Nach dem fuͤnften: Mane ſidus loci. Nach dem ſechsten: Sis Columna Dei. Und zum Beſchluß: I! Scande ſolium. Welches letztere als eine Art der Prophezeyhung kann angeſehen werden. Anakreon. Ein griechiſcher Liederdichter aus der Stadt Thejos in Jonien gebuͤrtig. Er hat zu den Zeiten des Cy- rus und Cambyſes gelebt, und ſich meiſtentheils an dem Hofe des Polycrates, Tyrannen der Jnſel Samos aufgehalten, wie wol er auch eine Zeitlang in Athen an dem Hofe des Tyrannen Hipxarchus gelebt hat. Man hat noch ein und ſiebenzig Lieder und einige Uberſchriften von ihm. Jene ſind alle in dreyfuͤßigen Jamben und ſcheinen recht eigen zu einem leichten froͤhlichen Geſang abgemeſſen. Jhr Jnhalt iſt durchgehends die Froͤhlichkeit, die den Ge- nuß der Liebe und des Weines begleitet. Sie be- zeichnen den Charakter eines feinen Wolluͤſtlings, der ſein ganzes Leben dem Bachus und der Venus gewidmet hat, dabey aber immer vergnuͤgt und ſcherz- haft geblieben iſt. Man muß alſo ſeine Lieder, blos als artige Klei- nigkeiten anſehen, die zum abſingen in Geſellſchaften gemacht worden, wo die ſinnliche Luſt durch feinen Wiz ſollte gewuͤrzt werden. Jn dieſer Abſicht ſind ſie unvergleichlich. Eine große Munterkeit ohne alle ernſthafte Leidenſchaft, ein uͤberaus feiner Wiz, und die angenehmſte Art ſich auszudruͤken, ſind uͤberall darin anzutreffen. Der Dichter ſieht in der ganzen Welt und in allen Haͤndeln der Menſchen nichts, als was ſich auf Wein und Liebe bezieht; alles iſt Scherz und Taͤndeley mit Beziehung auf die- ſe beyden Gegenſtaͤnde. Seine Laune iſt die ange- nehmſte von der Welt, und lieblich, wie der ſchoͤnſte Fruͤhlingstag. Auf die allerleichteſte Art mahlt er tauſend angenehme Phantomen, die mit wol- luͤſtigem Sumſen vor unſrer Einbildungskraft herum- flattern, und verſezt uns in eine Welt, woraus aller Ernſt, alles Nachdenken, verbannet iſt, wo nichts als Schwaͤrmereyen einer leichten, die Seele wenig angreifenden Wolluſt herrſchen. Hieraus iſt zu ſehen, daß dieſe Lieder nicht zum Leſen in einſamen und ernſthaften Stunden, die man beſſer anwenden kann, ſondern als ein artiges Spiel zur Ermunterung in Geſellſchaften, und zur Erquikung des Geiſtes geſchrieben ſind. Sie ſind ein Blumengarten, wo tauſend liebliche Geruͤche herum flattern, aber keine einzige nahrhafte Frucht anzutreffen iſt. Anakreontiſche Lieder, werden alle die genennt, welche in dem Geiſte des Anakreons geſchrieben ſind. Jhr leichter Jnhalt erfodert eine leichte und kurze Versart, ſo wie Anakreon ſie gebraucht hat. Jns- gemein wird ein dreyfuͤßiger jambiſcher Vers mit einer uͤbrigen kurzen Sylbe am Ende gewaͤhlt. Gleim iſt der erſte Deutſche, der gluͤklich in der Art des Anakreons gedichtet hat. Der Beyfall, womit Erſter Theil. G

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/61>, abgerufen am 21.11.2024.