Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Ans
gen unvollendet geblieben, weil er größere Sum-
men gekostet hat, als man geglaubt hatte. Wenn
ein Anschlag so richtig gemacht ist, als nur möglich
scheinet, so thut man doch wol, sich auf ein Drittel
desselben mehr, gefaßt zu machen.

Anschlagende Noten.

Werden in einem Tonstük diejenigen Noten oder
Töne genennt, auf welche ein Accent gesetzt wird;
sie werden den durchgehenden, die ohne allen Accent
vorgetragen werden, entgegen gesetzt. Also sind
alle Töne, die in die guten Zeiten des Takts fal-
(*) S.
Zeiten.
len, anschlagend. (*) Jn vielen zu einer Figur
verbundenen Noten ist die erste, dritte, fünfte, eine
anschlagende, die andern sind durchgehende Noten.

Nur die anschlagenden Töne werden zur Harmo-
nie gerechnet, und in der Fortschreitung derselben
in Betrachtung gezogen, weil die durchgehenden Töne,
so wol wegen ihrer geschwinden Bewegung, als
wegen des Mangels an Nachdruk, keinen merkli-
chen Einfluß auf die Harmonie haben.

Ansehen.
(Schöne Künste.)

Der Charakter der äußerlichen Form einer Sache.
Man sagt von einem Gebäude, es habe ein gutes
oder schlechtes, ein edles oder gemeines Ansehen.
Bey Personen ist das Ansehen das, was in der fran-
zösischen Sprache Air genennt wird. Es entsteht aus
dem ganzen der Form, und ist von dem Charakter,
der aus einzelen Theilen entsteht, verschieden. Das
Gesicht eines Menschen zeiget bisweilen einen an-
dern Charakter, als derjenige ist, den seine ganze
Person ausdrükt.

Da die unbelebten Formen an einem andern Orte
(*) S.
Form.
betrachtet worden sind; (*) so ist hier die Rede blos
von der menschlichen Gestalt, in so fern ihr Ansehen
ein Gegenstand der Kunst ist. Für den Mahler,
den Bildhauer und den Schauspieler, ist das Stu-
dium des Ansehens der wichtigste Theil der Kunst;
dem Redner und dem epischen Dichter, ist selbiges
unentbehrlich.

Schon an sich selbst betrachtet, ist das Ansehen
ein wichtiger Gegenstand der Künste; weil es eine
sehr merkwürdige Sache ist, Eigenschaften eines
(*) S.
Aehnlich-
keit.
denkenden und empfindenden Wesens, in körper-
lichen Formen zu entdeken. (*) Also kann der Künst-
[Spaltenumbruch]

Ans
ler, dem es gelinget einen Gemüthscharakter, oder
auch nur einen vorübergehenden Gemüthszustand,
durch das Ansehen der Personen, genau abzubilden,
gewisse Rechnung auf unsern Beyfall machen. Selbst
die bäurischen Figuren eines Teiniers oder Ostade
und der von Hogarth gezeichnete Pöbel, (*) erweken(*) S.
Hog. Ku-
pfer zu
Buttlers
Hudi-
bras.

einiger maßen Bewunderung; auch würde ein
Schauspiel, in welchem jede Person, durch ihr An-
sehen, ihren Charakter oder ihren Gemüthszustand,
bestimmt zu erkennen gäbe, schon allein dadurch ge-
fallen.

Weit wichtiger wird die Würkung des Ansehens
in Werken, die auf etwas höheres, als die bloße
Belustigung ist, abzielen. Wir werden für oder
wider Personen, Handlungen und Gesinnungen,
durch das äußerliche Ansehen, mit unwiderstehlicher
Kraft eingenommen. So wird uns Thersites schon
durch sein Ansehen verächtlich, ehe er noch etwas
gethan oder geredet hat.

Der Künstler also, der diesen Theil der Kunst in
seiner Gewalt hat, ist Meister über unsre Empfindun-
gen. Die höchste Würkung der Kunst liegt in
diesem Theile. Man sehe in welche Entzükung
Winkelmann über das Ansehen eines bloßen Rumpfs
geräth, und erkenne daraus die Wichtigkeit des
Ansehens.

Es ist aber nur den größten Künstlern gegeben,
hierin glüklich zu seyn: Regeln wären hier vollkom-
men unnüze, wo das Genie allein würken muß.
Das einzige was man dem Künstler hierüber sagen
kann, wenn man ihm das Studium der Natur em-
pfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine
höchst empfindliche Seele hat, die sich mit der größ-
ten Leichtigkeit, gänzlich in jeden Zustand setzen,
und ihrem Körper jede Gestalt geben kann. Man
trifft bisweilen Menschen von sehr mittelmäßigen
Gaben an, die mit der größten Leichtigkeit, das An-
sehen jeder Person, annehmen. Diese sind ge-
bohrne Schauspieler.

Doch ist nicht zu zweifeln, daß nicht eine fleißige
Uebung auch mittelmäßige Anlagen zu diesem Ta-
lent, merklich verstärken sollte. Der Künstler, den
eine genaue Aufmerksamkeit auf das Ansehen, über-
all begleitet; der alle Classen der Menschen, der
viele Völker gesehen, und nicht blos ins Auge, son-
dern fest in die Einbildungskraft gefaßt hat, wird
darin nicht ganz unglüklich seyn; zumal wenn er
sich unauf hörlich übet, sich selbst in jeden Gemüths-

Zustand

[Spaltenumbruch]

Anſ
gen unvollendet geblieben, weil er groͤßere Sum-
men gekoſtet hat, als man geglaubt hatte. Wenn
ein Anſchlag ſo richtig gemacht iſt, als nur moͤglich
ſcheinet, ſo thut man doch wol, ſich auf ein Drittel
deſſelben mehr, gefaßt zu machen.

Anſchlagende Noten.

Werden in einem Tonſtuͤk diejenigen Noten oder
Toͤne genennt, auf welche ein Accent geſetzt wird;
ſie werden den durchgehenden, die ohne allen Accent
vorgetragen werden, entgegen geſetzt. Alſo ſind
alle Toͤne, die in die guten Zeiten des Takts fal-
(*) S.
Zeiten.
len, anſchlagend. (*) Jn vielen zu einer Figur
verbundenen Noten iſt die erſte, dritte, fuͤnfte, eine
anſchlagende, die andern ſind durchgehende Noten.

Nur die anſchlagenden Toͤne werden zur Harmo-
nie gerechnet, und in der Fortſchreitung derſelben
in Betrachtung gezogen, weil die durchgehenden Toͤne,
ſo wol wegen ihrer geſchwinden Bewegung, als
wegen des Mangels an Nachdruk, keinen merkli-
chen Einfluß auf die Harmonie haben.

Anſehen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Der Charakter der aͤußerlichen Form einer Sache.
Man ſagt von einem Gebaͤude, es habe ein gutes
oder ſchlechtes, ein edles oder gemeines Anſehen.
Bey Perſonen iſt das Anſehen das, was in der fran-
zoͤſiſchen Sprache Air genennt wird. Es entſteht aus
dem ganzen der Form, und iſt von dem Charakter,
der aus einzelen Theilen entſteht, verſchieden. Das
Geſicht eines Menſchen zeiget bisweilen einen an-
dern Charakter, als derjenige iſt, den ſeine ganze
Perſon ausdruͤkt.

Da die unbelebten Formen an einem andern Orte
(*) S.
Form.
betrachtet worden ſind; (*) ſo iſt hier die Rede blos
von der menſchlichen Geſtalt, in ſo fern ihr Anſehen
ein Gegenſtand der Kunſt iſt. Fuͤr den Mahler,
den Bildhauer und den Schauſpieler, iſt das Stu-
dium des Anſehens der wichtigſte Theil der Kunſt;
dem Redner und dem epiſchen Dichter, iſt ſelbiges
unentbehrlich.

Schon an ſich ſelbſt betrachtet, iſt das Anſehen
ein wichtiger Gegenſtand der Kuͤnſte; weil es eine
ſehr merkwuͤrdige Sache iſt, Eigenſchaften eines
(*) S.
Aehnlich-
keit.
denkenden und empfindenden Weſens, in koͤrper-
lichen Formen zu entdeken. (*) Alſo kann der Kuͤnſt-
[Spaltenumbruch]

Anſ
ler, dem es gelinget einen Gemuͤthscharakter, oder
auch nur einen voruͤbergehenden Gemuͤthszuſtand,
durch das Anſehen der Perſonen, genau abzubilden,
gewiſſe Rechnung auf unſern Beyfall machen. Selbſt
die baͤuriſchen Figuren eines Teiniers oder Oſtade
und der von Hogarth gezeichnete Poͤbel, (*) erweken(*) S.
Hog. Ku-
pfer zu
Buttlers
Hudi-
bras.

einiger maßen Bewunderung; auch wuͤrde ein
Schauſpiel, in welchem jede Perſon, durch ihr An-
ſehen, ihren Charakter oder ihren Gemuͤthszuſtand,
beſtimmt zu erkennen gaͤbe, ſchon allein dadurch ge-
fallen.

Weit wichtiger wird die Wuͤrkung des Anſehens
in Werken, die auf etwas hoͤheres, als die bloße
Beluſtigung iſt, abzielen. Wir werden fuͤr oder
wider Perſonen, Handlungen und Geſinnungen,
durch das aͤußerliche Anſehen, mit unwiderſtehlicher
Kraft eingenommen. So wird uns Therſites ſchon
durch ſein Anſehen veraͤchtlich, ehe er noch etwas
gethan oder geredet hat.

Der Kuͤnſtler alſo, der dieſen Theil der Kunſt in
ſeiner Gewalt hat, iſt Meiſter uͤber unſre Empfindun-
gen. Die hoͤchſte Wuͤrkung der Kunſt liegt in
dieſem Theile. Man ſehe in welche Entzuͤkung
Winkelmann uͤber das Anſehen eines bloßen Rumpfs
geraͤth, und erkenne daraus die Wichtigkeit des
Anſehens.

Es iſt aber nur den groͤßten Kuͤnſtlern gegeben,
hierin gluͤklich zu ſeyn: Regeln waͤren hier vollkom-
men unnuͤze, wo das Genie allein wuͤrken muß.
Das einzige was man dem Kuͤnſtler hieruͤber ſagen
kann, wenn man ihm das Studium der Natur em-
pfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine
hoͤchſt empfindliche Seele hat, die ſich mit der groͤß-
ten Leichtigkeit, gaͤnzlich in jeden Zuſtand ſetzen,
und ihrem Koͤrper jede Geſtalt geben kann. Man
trifft bisweilen Menſchen von ſehr mittelmaͤßigen
Gaben an, die mit der groͤßten Leichtigkeit, das An-
ſehen jeder Perſon, annehmen. Dieſe ſind ge-
bohrne Schauſpieler.

Doch iſt nicht zu zweifeln, daß nicht eine fleißige
Uebung auch mittelmaͤßige Anlagen zu dieſem Ta-
lent, merklich verſtaͤrken ſollte. Der Kuͤnſtler, den
eine genaue Aufmerkſamkeit auf das Anſehen, uͤber-
all begleitet; der alle Claſſen der Menſchen, der
viele Voͤlker geſehen, und nicht blos ins Auge, ſon-
dern feſt in die Einbildungskraft gefaßt hat, wird
darin nicht ganz ungluͤklich ſeyn; zumal wenn er
ſich unauf hoͤrlich uͤbet, ſich ſelbſt in jeden Gemuͤths-

Zuſtand
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0082" n="70"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">An&#x017F;</hi></fw><lb/>
gen unvollendet geblieben, weil er gro&#x0364;ßere Sum-<lb/>
men geko&#x017F;tet hat, als man geglaubt hatte. Wenn<lb/>
ein An&#x017F;chlag &#x017F;o richtig gemacht i&#x017F;t, als nur mo&#x0364;glich<lb/>
&#x017F;cheinet, &#x017F;o thut man doch wol, &#x017F;ich auf ein Drittel<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben mehr, gefaßt zu machen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>An&#x017F;chlagende Noten.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>erden in einem Ton&#x017F;tu&#x0364;k diejenigen Noten oder<lb/>
To&#x0364;ne genennt, auf welche ein Accent ge&#x017F;etzt wird;<lb/>
&#x017F;ie werden den durchgehenden, die ohne allen Accent<lb/>
vorgetragen werden, entgegen ge&#x017F;etzt. Al&#x017F;o &#x017F;ind<lb/>
alle To&#x0364;ne, die in die guten Zeiten des Takts fal-<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Zeiten.</note>len, an&#x017F;chlagend. (*) Jn vielen zu einer Figur<lb/>
verbundenen Noten i&#x017F;t die er&#x017F;te, dritte, fu&#x0364;nfte, eine<lb/>
an&#x017F;chlagende, die andern &#x017F;ind durchgehende Noten.</p><lb/>
          <p>Nur die an&#x017F;chlagenden To&#x0364;ne werden zur Harmo-<lb/>
nie gerechnet, und in der Fort&#x017F;chreitung der&#x017F;elben<lb/>
in Betrachtung gezogen, weil die durchgehenden To&#x0364;ne,<lb/>
&#x017F;o wol wegen ihrer ge&#x017F;chwinden Bewegung, als<lb/>
wegen des Mangels an Nachdruk, keinen merkli-<lb/>
chen Einfluß auf die Harmonie haben.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">An&#x017F;ehen.</hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>er Charakter der a&#x0364;ußerlichen Form einer Sache.<lb/>
Man &#x017F;agt von einem Geba&#x0364;ude, es habe ein gutes<lb/>
oder &#x017F;chlechtes, ein edles oder gemeines An&#x017F;ehen.<lb/>
Bey Per&#x017F;onen i&#x017F;t das An&#x017F;ehen das, was in der fran-<lb/>
zo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Sprache Air genennt wird. Es ent&#x017F;teht aus<lb/>
dem ganzen der Form, und i&#x017F;t von dem Charakter,<lb/>
der aus einzelen Theilen ent&#x017F;teht, ver&#x017F;chieden. Das<lb/>
Ge&#x017F;icht eines Men&#x017F;chen zeiget bisweilen einen an-<lb/>
dern Charakter, als derjenige i&#x017F;t, den &#x017F;eine ganze<lb/>
Per&#x017F;on ausdru&#x0364;kt.</p><lb/>
          <p>Da die unbelebten Formen an einem andern Orte<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Form.</note>betrachtet worden &#x017F;ind; (*) &#x017F;o i&#x017F;t hier die Rede blos<lb/>
von der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt, in &#x017F;o fern ihr An&#x017F;ehen<lb/>
ein Gegen&#x017F;tand der Kun&#x017F;t i&#x017F;t. Fu&#x0364;r den Mahler,<lb/>
den Bildhauer und den Schau&#x017F;pieler, i&#x017F;t das Stu-<lb/>
dium des An&#x017F;ehens der wichtig&#x017F;te Theil der Kun&#x017F;t;<lb/>
dem Redner und dem epi&#x017F;chen Dichter, i&#x017F;t &#x017F;elbiges<lb/>
unentbehrlich.</p><lb/>
          <p>Schon an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t betrachtet, i&#x017F;t das An&#x017F;ehen<lb/>
ein wichtiger Gegen&#x017F;tand der Ku&#x0364;n&#x017F;te; weil es eine<lb/>
&#x017F;ehr merkwu&#x0364;rdige Sache i&#x017F;t, Eigen&#x017F;chaften eines<lb/><note place="left">(*) S.<lb/>
Aehnlich-<lb/>
keit.</note>denkenden und empfindenden We&#x017F;ens, in ko&#x0364;rper-<lb/>
lichen Formen zu entdeken. (*) Al&#x017F;o kann der Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">An&#x017F;</hi></fw><lb/>
ler, dem es gelinget einen Gemu&#x0364;thscharakter, oder<lb/>
auch nur einen voru&#x0364;bergehenden Gemu&#x0364;thszu&#x017F;tand,<lb/>
durch das An&#x017F;ehen der Per&#x017F;onen, genau abzubilden,<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Rechnung auf un&#x017F;ern Beyfall machen. Selb&#x017F;t<lb/>
die ba&#x0364;uri&#x017F;chen Figuren eines <hi rendition="#fr">Teiniers</hi> oder <hi rendition="#fr">O&#x017F;tade</hi><lb/>
und der von <hi rendition="#fr">Hogarth</hi> gezeichnete Po&#x0364;bel, (*) erweken<note place="right">(*) S.<lb/>
Hog. Ku-<lb/>
pfer zu<lb/>
Buttlers<lb/>
Hudi-<lb/>
bras.</note><lb/>
einiger maßen Bewunderung; auch wu&#x0364;rde ein<lb/>
Schau&#x017F;piel, in welchem jede Per&#x017F;on, durch ihr An-<lb/>
&#x017F;ehen, ihren Charakter oder ihren Gemu&#x0364;thszu&#x017F;tand,<lb/>
be&#x017F;timmt zu erkennen ga&#x0364;be, &#x017F;chon allein dadurch ge-<lb/>
fallen.</p><lb/>
          <p>Weit wichtiger wird die Wu&#x0364;rkung des An&#x017F;ehens<lb/>
in Werken, die auf etwas ho&#x0364;heres, als die bloße<lb/>
Belu&#x017F;tigung i&#x017F;t, abzielen. Wir werden fu&#x0364;r oder<lb/>
wider Per&#x017F;onen, Handlungen und Ge&#x017F;innungen,<lb/>
durch das a&#x0364;ußerliche An&#x017F;ehen, mit unwider&#x017F;tehlicher<lb/>
Kraft eingenommen. So wird uns <hi rendition="#fr">Ther&#x017F;ites</hi> &#x017F;chon<lb/>
durch &#x017F;ein An&#x017F;ehen vera&#x0364;chtlich, ehe er noch etwas<lb/>
gethan oder geredet hat.</p><lb/>
          <p>Der Ku&#x0364;n&#x017F;tler al&#x017F;o, der die&#x017F;en Theil der Kun&#x017F;t in<lb/>
&#x017F;einer Gewalt hat, i&#x017F;t Mei&#x017F;ter u&#x0364;ber un&#x017F;re Empfindun-<lb/>
gen. Die ho&#x0364;ch&#x017F;te Wu&#x0364;rkung der Kun&#x017F;t liegt in<lb/>
die&#x017F;em Theile. Man &#x017F;ehe in welche Entzu&#x0364;kung<lb/>
Winkelmann u&#x0364;ber das An&#x017F;ehen eines bloßen Rumpfs<lb/>
gera&#x0364;th, und erkenne daraus die Wichtigkeit des<lb/>
An&#x017F;ehens.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t aber nur den gro&#x0364;ßten Ku&#x0364;n&#x017F;tlern gegeben,<lb/>
hierin glu&#x0364;klich zu &#x017F;eyn: Regeln wa&#x0364;ren hier vollkom-<lb/>
men unnu&#x0364;ze, wo das Genie allein wu&#x0364;rken muß.<lb/>
Das einzige was man dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler hieru&#x0364;ber &#x017F;agen<lb/>
kann, wenn man ihm das Studium der Natur em-<lb/>
pfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;t empfindliche Seele hat, die &#x017F;ich mit der gro&#x0364;ß-<lb/>
ten Leichtigkeit, ga&#x0364;nzlich in jeden Zu&#x017F;tand &#x017F;etzen,<lb/>
und ihrem Ko&#x0364;rper jede Ge&#x017F;talt geben kann. Man<lb/>
trifft bisweilen Men&#x017F;chen von &#x017F;ehr mittelma&#x0364;ßigen<lb/>
Gaben an, die mit der gro&#x0364;ßten Leichtigkeit, das An-<lb/>
&#x017F;ehen jeder Per&#x017F;on, annehmen. Die&#x017F;e &#x017F;ind ge-<lb/>
bohrne Schau&#x017F;pieler.</p><lb/>
          <p>Doch i&#x017F;t nicht zu zweifeln, daß nicht eine fleißige<lb/>
Uebung auch mittelma&#x0364;ßige Anlagen zu die&#x017F;em Ta-<lb/>
lent, merklich ver&#x017F;ta&#x0364;rken &#x017F;ollte. Der Ku&#x0364;n&#x017F;tler, den<lb/>
eine genaue Aufmerk&#x017F;amkeit auf das An&#x017F;ehen, u&#x0364;ber-<lb/>
all begleitet; der alle Cla&#x017F;&#x017F;en der Men&#x017F;chen, der<lb/>
viele Vo&#x0364;lker ge&#x017F;ehen, und nicht blos ins Auge, &#x017F;on-<lb/>
dern fe&#x017F;t in die Einbildungskraft gefaßt hat, wird<lb/>
darin nicht ganz unglu&#x0364;klich &#x017F;eyn; zumal wenn er<lb/>
&#x017F;ich unauf ho&#x0364;rlich u&#x0364;bet, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t in jeden Gemu&#x0364;ths-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Zu&#x017F;tand</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0082] Anſ Anſ gen unvollendet geblieben, weil er groͤßere Sum- men gekoſtet hat, als man geglaubt hatte. Wenn ein Anſchlag ſo richtig gemacht iſt, als nur moͤglich ſcheinet, ſo thut man doch wol, ſich auf ein Drittel deſſelben mehr, gefaßt zu machen. Anſchlagende Noten. Werden in einem Tonſtuͤk diejenigen Noten oder Toͤne genennt, auf welche ein Accent geſetzt wird; ſie werden den durchgehenden, die ohne allen Accent vorgetragen werden, entgegen geſetzt. Alſo ſind alle Toͤne, die in die guten Zeiten des Takts fal- len, anſchlagend. (*) Jn vielen zu einer Figur verbundenen Noten iſt die erſte, dritte, fuͤnfte, eine anſchlagende, die andern ſind durchgehende Noten. (*) S. Zeiten. Nur die anſchlagenden Toͤne werden zur Harmo- nie gerechnet, und in der Fortſchreitung derſelben in Betrachtung gezogen, weil die durchgehenden Toͤne, ſo wol wegen ihrer geſchwinden Bewegung, als wegen des Mangels an Nachdruk, keinen merkli- chen Einfluß auf die Harmonie haben. Anſehen. (Schoͤne Kuͤnſte.) Der Charakter der aͤußerlichen Form einer Sache. Man ſagt von einem Gebaͤude, es habe ein gutes oder ſchlechtes, ein edles oder gemeines Anſehen. Bey Perſonen iſt das Anſehen das, was in der fran- zoͤſiſchen Sprache Air genennt wird. Es entſteht aus dem ganzen der Form, und iſt von dem Charakter, der aus einzelen Theilen entſteht, verſchieden. Das Geſicht eines Menſchen zeiget bisweilen einen an- dern Charakter, als derjenige iſt, den ſeine ganze Perſon ausdruͤkt. Da die unbelebten Formen an einem andern Orte betrachtet worden ſind; (*) ſo iſt hier die Rede blos von der menſchlichen Geſtalt, in ſo fern ihr Anſehen ein Gegenſtand der Kunſt iſt. Fuͤr den Mahler, den Bildhauer und den Schauſpieler, iſt das Stu- dium des Anſehens der wichtigſte Theil der Kunſt; dem Redner und dem epiſchen Dichter, iſt ſelbiges unentbehrlich. (*) S. Form. Schon an ſich ſelbſt betrachtet, iſt das Anſehen ein wichtiger Gegenſtand der Kuͤnſte; weil es eine ſehr merkwuͤrdige Sache iſt, Eigenſchaften eines denkenden und empfindenden Weſens, in koͤrper- lichen Formen zu entdeken. (*) Alſo kann der Kuͤnſt- ler, dem es gelinget einen Gemuͤthscharakter, oder auch nur einen voruͤbergehenden Gemuͤthszuſtand, durch das Anſehen der Perſonen, genau abzubilden, gewiſſe Rechnung auf unſern Beyfall machen. Selbſt die baͤuriſchen Figuren eines Teiniers oder Oſtade und der von Hogarth gezeichnete Poͤbel, (*) erweken einiger maßen Bewunderung; auch wuͤrde ein Schauſpiel, in welchem jede Perſon, durch ihr An- ſehen, ihren Charakter oder ihren Gemuͤthszuſtand, beſtimmt zu erkennen gaͤbe, ſchon allein dadurch ge- fallen. (*) S. Aehnlich- keit. (*) S. Hog. Ku- pfer zu Buttlers Hudi- bras. Weit wichtiger wird die Wuͤrkung des Anſehens in Werken, die auf etwas hoͤheres, als die bloße Beluſtigung iſt, abzielen. Wir werden fuͤr oder wider Perſonen, Handlungen und Geſinnungen, durch das aͤußerliche Anſehen, mit unwiderſtehlicher Kraft eingenommen. So wird uns Therſites ſchon durch ſein Anſehen veraͤchtlich, ehe er noch etwas gethan oder geredet hat. Der Kuͤnſtler alſo, der dieſen Theil der Kunſt in ſeiner Gewalt hat, iſt Meiſter uͤber unſre Empfindun- gen. Die hoͤchſte Wuͤrkung der Kunſt liegt in dieſem Theile. Man ſehe in welche Entzuͤkung Winkelmann uͤber das Anſehen eines bloßen Rumpfs geraͤth, und erkenne daraus die Wichtigkeit des Anſehens. Es iſt aber nur den groͤßten Kuͤnſtlern gegeben, hierin gluͤklich zu ſeyn: Regeln waͤren hier vollkom- men unnuͤze, wo das Genie allein wuͤrken muß. Das einzige was man dem Kuͤnſtler hieruͤber ſagen kann, wenn man ihm das Studium der Natur em- pfiehlt, hilft ihm doch nichts, wenn er nicht eine hoͤchſt empfindliche Seele hat, die ſich mit der groͤß- ten Leichtigkeit, gaͤnzlich in jeden Zuſtand ſetzen, und ihrem Koͤrper jede Geſtalt geben kann. Man trifft bisweilen Menſchen von ſehr mittelmaͤßigen Gaben an, die mit der groͤßten Leichtigkeit, das An- ſehen jeder Perſon, annehmen. Dieſe ſind ge- bohrne Schauſpieler. Doch iſt nicht zu zweifeln, daß nicht eine fleißige Uebung auch mittelmaͤßige Anlagen zu dieſem Ta- lent, merklich verſtaͤrken ſollte. Der Kuͤnſtler, den eine genaue Aufmerkſamkeit auf das Anſehen, uͤber- all begleitet; der alle Claſſen der Menſchen, der viele Voͤlker geſehen, und nicht blos ins Auge, ſon- dern feſt in die Einbildungskraft gefaßt hat, wird darin nicht ganz ungluͤklich ſeyn; zumal wenn er ſich unauf hoͤrlich uͤbet, ſich ſelbſt in jeden Gemuͤths- Zuſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/82
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/82>, abgerufen am 05.05.2024.