Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Ans Dieses geschieht, wenn durch das zufällige die So wissen Künstler von glüklichem Genie und Einige Neuere haben an den Alten manches un- Nur Künstler von großem Verstand erreichen Ans nichts unanständiges; sondern alles, bis auf diekleinsten Rebenumstände, ist immer so, wie es seyn mußte. Dieses gehört unstreitig mit zum höchsten der Kunst. Und da eine starke Beurthei- lungskraft vielleicht seltener ist, als ein starkes Genie; so ist die völlige Beobachtung des Anstän- digen in Werken der Kunst seltener, als irgend eine andre gute Eigenschaft derselben. Anstößig. (Schöne Künste.) Man braucht dieses Wort gemeiniglich um das- So ist es in einem Gebäude anstößig, wenn eine Aber Erster Theil. K
[Spaltenumbruch]
Anſ Dieſes geſchieht, wenn durch das zufaͤllige die So wiſſen Kuͤnſtler von gluͤklichem Genie und Einige Neuere haben an den Alten manches un- Nur Kuͤnſtler von großem Verſtand erreichen Anſ nichts unanſtaͤndiges; ſondern alles, bis auf diekleinſten Rebenumſtaͤnde, iſt immer ſo, wie es ſeyn mußte. Dieſes gehoͤrt unſtreitig mit zum hoͤchſten der Kunſt. Und da eine ſtarke Beurthei- lungskraft vielleicht ſeltener iſt, als ein ſtarkes Genie; ſo iſt die voͤllige Beobachtung des Anſtaͤn- digen in Werken der Kunſt ſeltener, als irgend eine andre gute Eigenſchaft derſelben. Anſtoͤßig. (Schoͤne Kuͤnſte.) Man braucht dieſes Wort gemeiniglich um das- So iſt es in einem Gebaͤude anſtoͤßig, wenn eine Aber Erſter Theil. K
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Dieſes iſt vielleicht gegen<lb/> das Uebliche; aber fuͤr dieſe Perſonen von der groͤß-<lb/> ten Anſtaͤndigkeit, und thut die beſte Wuͤrkung auf<lb/> das Ganze.</p><lb/> <p>So wiſſen Kuͤnſtler von gluͤklichem Genie und<lb/> gruͤndlicher Beurtheilung dem weſentlichen zufaͤllige<lb/> Dinge an die Seite zu ſetzen, durch welche ſie den<lb/> Ausdruk verſtaͤrken, indem ſie das hoͤchſt Anſtaͤndige<lb/> dabey beobachten.</p><lb/> <p>Einige Neuere haben an den Alten manches un-<lb/> anſtaͤndig gefunden, was keinem von den Alten an-<lb/> ſtoͤßig geweſen. Das heftige Betragen einiger Hel-<lb/> den der Jlias gegen andre, ſcheinet vielen unan-<lb/> ſtaͤndig, weil ſie es nach unſern Sitten, nicht nach<lb/> den Sitten jener Helden beurtheilen. Eben dieſes<lb/> Urtheil muß man von der hoͤchſt unanſtaͤndig<lb/> ſcheinenden Vermahnung des Reſtors faͤllen, die<lb/> wir in dem Artikel uͤber die <hi rendition="#fr">Alten</hi> angefuͤhrt haben.<lb/> Es ſtreitet keinesweges gegen die Art der Sitten,<lb/> welche durch die ganze Jlias zum Grund aller Vor-<lb/> ſtellung gelegt worden. Das Betragen des Her-<lb/> kules in dem Trauerſpiel des Euripides <hi rendition="#fr">Alce-<lb/> ſtis,</hi> da er in dem Hauſe des Adraſtus, zu der Zeit<lb/> da dieſer in der hoͤchſten Trauer war, munter zecht,<lb/> iſt nicht ganz anſtaͤndig, wie wol doch verſchiedenes<lb/> zu deſſen Vertheidigung kann geſagt werden.</p><lb/> <p>Nur Kuͤnſtler von großem Verſtand erreichen<lb/> das Anſtaͤndige uͤberall; denn das bloße Genie iſt<lb/> dazu nicht hinreichend. Homer iſt der groͤßte Meiſter<lb/> darin. Vermuthlich iſt es deßwegen, daß Horaz ihn<lb/> denjenigen nennt, <hi rendition="#aq">qui nil molitur inepte.</hi> Denn<lb/> in Wahrheit; man findet bey der unendlichen<lb/> Menge der Gegenſtaͤnde, die er beſchreibt, nicht nur<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Anſ</hi></fw><lb/> nichts unanſtaͤndiges; ſondern alles, bis auf die<lb/> kleinſten Rebenumſtaͤnde, iſt immer ſo, wie es<lb/> ſeyn mußte. Dieſes gehoͤrt unſtreitig mit zum<lb/> hoͤchſten der Kunſt. 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Es zeigen ſich naͤmlich in den<lb/> Werken der Kunſt bisweilen ſolche Fehler, die den<lb/> nothwendigſten Grundbegriffen entgegen ſind, die<lb/> man deßwegen mit dem Namen des <hi rendition="#fr">Anſtoͤßigen</hi> be-<lb/> legen kann; ſolche Fehler alſo, uͤber welche niemal<lb/> ein Zweifel entſtehen kann, weil ſie geradezu dem<lb/> entgegen ſind, was jederman erwartet.</p><lb/> <p>So iſt es in einem Gebaͤude anſtoͤßig, wenn eine<lb/> Saͤule, die nothwendig ſenkrecht ſtehen muß, uͤber-<lb/> haͤngt; oder wenn ein Boden, der nothwendig<lb/> wagenrecht liegen ſollte, ſich ſenkt. So auch in<lb/> andern Sachen iſt das Anſtoͤßige allezeit dem Weſen<lb/> der Sachen gerade entgegen. Es geſchieht oͤfterer,<lb/> als man es vermuthen ſollte, daß Kuͤnſtler das<lb/> Weſen der Sachen aus dem Geſichte verliehren, und<lb/> alsdenn mit Zuverſichtlichkeit ganz anſtoͤßige Sa-<lb/> chen zulaſſen. Am oͤfterſten trifft man dieſes in<lb/> der Baukunſt an, wo auch gute Baumeiſter die<lb/> wahre Natur, oder die urſpruͤngliche Beſchaffenheit<lb/> einiger Sachen, aus der Acht laſſen. Daher kommt<lb/> es, daß man ſo oft das, was ſeiner Natur nach<lb/> ganz iſt, gebrochen, was nothwendig gerade ſeyn<lb/> ſollte, krumm, was ſtark ſeyn ſollte, ſchwach macht.<lb/> Gebrochene <hi rendition="#fr">Giebel,</hi> verkroͤpfte <hi rendition="#fr">Gebaͤlke,</hi> Saͤulen<lb/> oder Pfeiler, die nichts tragen, oder von nichts<lb/> getragen werden. Am meiſten kommt das Anſtoͤßige<lb/> in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stuͤrze<lb/> uͤber Camine, die nothwendig ein Gebaͤlke vorſtellen<lb/> muͤſſen, in zwey gegen einander laufende Schnuͤrkel,<lb/> die in der Mitte durch eine Muſchel, oder auch wol<lb/> durch Eiszapfen mit einander verbunden ſind, und<lb/> man laͤßt Laſten auf Laubwerk ruhen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Erſter Theil.</hi> K</fw> <fw place="bottom" type="catch">Aber</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0085]
Anſ
Anſ
Dieſes geſchieht, wenn durch das zufaͤllige die
Wuͤrkung des weſentlichen verſtaͤrkt wird, welches
die bloße Vermeidung des unanſtaͤndigen niemals
thut. Einen ſolchen Erfolg hat es, wenn es dem
Kuͤnſtler gelingt, durch das zufaͤllige eine unerwar-
tete Empfindung zu erweken, die mit der, worauf
das weſentliche geht, uͤbereinſtimmt; denn dadurch
bekommt unſre Aufmerkſamkeit einen neuen Stoß,
welcher uns das ganze lebhafter macht. Eine ſolche
Wuͤrkung thut ein zufaͤlliger Umſtand in einem Ge-
maͤhlde von Raphael, welches die Anbetung des
Heilandes von den Hirten vorſtellt. Einer dieſer
geringen, dem Anſehen nach der einfaͤltigſte und
ſchlechteſte, welcher ſich kaum getraut nahe heran zu
treten, bezeuget ſeine Ehrfurcht dadurch, daß er
ſeine Muͤtze abnimmt. Dieſes iſt vielleicht gegen
das Uebliche; aber fuͤr dieſe Perſonen von der groͤß-
ten Anſtaͤndigkeit, und thut die beſte Wuͤrkung auf
das Ganze.
So wiſſen Kuͤnſtler von gluͤklichem Genie und
gruͤndlicher Beurtheilung dem weſentlichen zufaͤllige
Dinge an die Seite zu ſetzen, durch welche ſie den
Ausdruk verſtaͤrken, indem ſie das hoͤchſt Anſtaͤndige
dabey beobachten.
Einige Neuere haben an den Alten manches un-
anſtaͤndig gefunden, was keinem von den Alten an-
ſtoͤßig geweſen. Das heftige Betragen einiger Hel-
den der Jlias gegen andre, ſcheinet vielen unan-
ſtaͤndig, weil ſie es nach unſern Sitten, nicht nach
den Sitten jener Helden beurtheilen. Eben dieſes
Urtheil muß man von der hoͤchſt unanſtaͤndig
ſcheinenden Vermahnung des Reſtors faͤllen, die
wir in dem Artikel uͤber die Alten angefuͤhrt haben.
Es ſtreitet keinesweges gegen die Art der Sitten,
welche durch die ganze Jlias zum Grund aller Vor-
ſtellung gelegt worden. Das Betragen des Her-
kules in dem Trauerſpiel des Euripides Alce-
ſtis, da er in dem Hauſe des Adraſtus, zu der Zeit
da dieſer in der hoͤchſten Trauer war, munter zecht,
iſt nicht ganz anſtaͤndig, wie wol doch verſchiedenes
zu deſſen Vertheidigung kann geſagt werden.
Nur Kuͤnſtler von großem Verſtand erreichen
das Anſtaͤndige uͤberall; denn das bloße Genie iſt
dazu nicht hinreichend. Homer iſt der groͤßte Meiſter
darin. Vermuthlich iſt es deßwegen, daß Horaz ihn
denjenigen nennt, qui nil molitur inepte. Denn
in Wahrheit; man findet bey der unendlichen
Menge der Gegenſtaͤnde, die er beſchreibt, nicht nur
nichts unanſtaͤndiges; ſondern alles, bis auf die
kleinſten Rebenumſtaͤnde, iſt immer ſo, wie es
ſeyn mußte. Dieſes gehoͤrt unſtreitig mit zum
hoͤchſten der Kunſt. Und da eine ſtarke Beurthei-
lungskraft vielleicht ſeltener iſt, als ein ſtarkes
Genie; ſo iſt die voͤllige Beobachtung des Anſtaͤn-
digen in Werken der Kunſt ſeltener, als irgend eine
andre gute Eigenſchaft derſelben.
Anſtoͤßig.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Man braucht dieſes Wort gemeiniglich um das-
jenige anzudeuten, was den ſittlichen Grundbegrif-
fen entgegen iſt; es ſchiket ſich aber eben ſo gut,
einen in der Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte wichtigen
Begriff auszudruͤken, fuͤr den man noch kein Wort
angenommen hat. Es zeigen ſich naͤmlich in den
Werken der Kunſt bisweilen ſolche Fehler, die den
nothwendigſten Grundbegriffen entgegen ſind, die
man deßwegen mit dem Namen des Anſtoͤßigen be-
legen kann; ſolche Fehler alſo, uͤber welche niemal
ein Zweifel entſtehen kann, weil ſie geradezu dem
entgegen ſind, was jederman erwartet.
So iſt es in einem Gebaͤude anſtoͤßig, wenn eine
Saͤule, die nothwendig ſenkrecht ſtehen muß, uͤber-
haͤngt; oder wenn ein Boden, der nothwendig
wagenrecht liegen ſollte, ſich ſenkt. So auch in
andern Sachen iſt das Anſtoͤßige allezeit dem Weſen
der Sachen gerade entgegen. Es geſchieht oͤfterer,
als man es vermuthen ſollte, daß Kuͤnſtler das
Weſen der Sachen aus dem Geſichte verliehren, und
alsdenn mit Zuverſichtlichkeit ganz anſtoͤßige Sa-
chen zulaſſen. Am oͤfterſten trifft man dieſes in
der Baukunſt an, wo auch gute Baumeiſter die
wahre Natur, oder die urſpruͤngliche Beſchaffenheit
einiger Sachen, aus der Acht laſſen. Daher kommt
es, daß man ſo oft das, was ſeiner Natur nach
ganz iſt, gebrochen, was nothwendig gerade ſeyn
ſollte, krumm, was ſtark ſeyn ſollte, ſchwach macht.
Gebrochene Giebel, verkroͤpfte Gebaͤlke, Saͤulen
oder Pfeiler, die nichts tragen, oder von nichts
getragen werden. Am meiſten kommt das Anſtoͤßige
in den Verzierungen vor. Man verwandelt Stuͤrze
uͤber Camine, die nothwendig ein Gebaͤlke vorſtellen
muͤſſen, in zwey gegen einander laufende Schnuͤrkel,
die in der Mitte durch eine Muſchel, oder auch wol
durch Eiszapfen mit einander verbunden ſind, und
man laͤßt Laſten auf Laubwerk ruhen.
Aber
Erſter Theil. K
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