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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ans
bung; es läßt seine Seele in der Ruhe, die dem Anstand
wesentlich ist. Wenn aber der Redner in die Stärke
seiner Vorstellungen ein Mißtrauen setzet, alsdenn
sucht er die ihr mangelnde Kraft durch den Vortrag
zu ersetzen; er will mit Stimme und Gebehrden
die Würkung erzwingen, und verlieret darüber den
Anstand.

Der Redner bedenke allemal, daß die Hauptsa-
che der Rede in der Materie liegt, und daß der
Vortrag sie nur verstärkt, aber ihren Mangel nie-
mals ersetzet. Deswegen vermeide er die unnütze
Bestrebungen, seinen Worten durch den Vortrag
eine Kraft zu geben, die ihnen mangelt. Der
Pantomime, der kein ander Mittel hat, verständlich
zu seyn, als die Gebehrden, muß darin die ganze
Kraft der Vorstellung setzen; der Redner aber muß
dadurch eine schon vorhandene Kraft blos unter-
stützen.

Große Fehler gegen den Anstand sind, eine über-
triebene Stimme auf einer Seite, und eine ganz
nachläßige auf der andern; ein zu schneller Vortrag
schadet ihm mehr, als wenn er zu langsam ist. Am
allermeisten aber schadet ihm die Unbescheidenheit des
Redners, wenn er seine Zuhörer mit dreisten
Bliken gleichsam mustert, oder zu seiner Bewun-
drung auffodert; wenn er einen zu dreisten oder
zu kühnen Ton annimmt. Der Anstand will, daß
der Redner seine Sache, und nicht seine Person se-
hen lasse; daß er bescheiden und gerade vor sich
hin sehe, und wenn es nöthig ist, sich sanft und
bescheiden gegen eine andre Seite hinwende. Doch
muß er auch nicht zaghaft seyn, sondern ein mäßi-
ges Zutrauen in seine Vorstellungen von sich bliken
lassen. Er muß seine Zuhörer als eine Versamm-
lung ansehen, welcher er Hochachtung schuldig ist,
aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn unge-
hört verurtheilen.

Ein angehender Redner, der dieses wol und
ernstlich überlegt, wird bald zu einem gewissen An-
stand in seinem Vortrage kommen. Aber die Voll-
kommenheit desselben ist vielleicht der schwerste Theil
dessen, was zum Vortrage gehört.

Anständig.
(Schöne Künste.)

Die Uebereinstimmung des Zufälligen in sittlichen
Dingen, mit dem Wesentlichen derselben. Jede
Uebereinstimmung des Zufälligen mit dem Wesentli-
[Spaltenumbruch]

Ans
chen ist eine nothwendige Eigenschaft der Werke des
Geschmaks; sie vermehrt ihre Vollkommenheit
und das Gegentheil hat allemal etwas unangeneh-
mes: in sittlichen Gegenständen aber ist diese Ueber-
einstimmung um so viel nothwendiger, da das Ge-
gentheil anstößig ist. Es ist darin, was das übliche
(il costume) in den Gebräuchen und Moden ist.
Die Fehler gegen das übliche streiten gegen die zu-
fällige Wahrheit unsrer Vorstellungen; aber die
Fehler gegen das Anständige beleidigen unsre Em-
pfindungen, und sind darum um so viel wichtiger.
Der Mahler, welcher bey der Einsetzung des Abend-
mahls unter der Tafel einen Hund und eine Katze
vorstellt, die sich um einen Knochen zanken, erwekt
zufällige Empfindungen, welche der Ernsthaftigkeit
der Hauptsache ganz zu wider sind und sehr an-
stößig werden. Eben so anstößig ist es, wenn bey
ernsthaften Handlungen, Personen von poßirlichem
Wesen, Kinder die mit Hunden spielen, oder diese
Thiere, welche die Scene verunreinigen, mit ein-
geführt werden; wie dieses vielfältig von unbe-
dachtsamen Mahlern geschehen ist.

Ungeachtet dergleichen Fehler gegen das Anstän-
dige meistentheils von Mahlern begangen werden,
so sind die andern Künste gar nicht frey davon. Jn der
Baukunst sieht man ofte christliche Tempel mit Zie-
rathen des heidnischen Götzendienstes, oder Häuser
gemeiner Menschen mit Tropheen behangen; Ge-
bäude von einem ernsthaften Charakter, mit Ver-
ziehrungen der ausschweifendsten und wollüstigsten
Einbildungskraft. Auch große Dichter fallen bis-
weilen in diesen Fehler. Ein Beyspiel davon giebt
uns Milton, der dem erhabensten Wesen eine
Sprache in den Mund legt, die einem finstern
Schultheologen besser anstünde, wie Pope sehr rich-
tig angemerkt hat. Von dem unanständigen der
geistlichen Redner, so wol in Sachen, als in Wor-
ten und dem ganzen Vortrag, bedürfen wir keiner
Beyspiele, deren eine Menge jedem Menschen von
Geschmak bekannt seyn müssen.

Das anständige wird nicht blos durch Vermei-
dung des unanständigen erhalten, ob gleich auch
hier die Anmerkung des Horaz gilt:

Virtus est vitio caruisse.

Es muß sich durch Einmischung so vollkommen
übereinstimmender Zufälligkeiten bemerken lassen,
daß die Würkung desselben lebhaft empfunden wird.

Dieses

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Anſ
bung; es laͤßt ſeine Seele in der Ruhe, die dem Anſtand
weſentlich iſt. Wenn aber der Redner in die Staͤrke
ſeiner Vorſtellungen ein Mißtrauen ſetzet, alsdenn
ſucht er die ihr mangelnde Kraft durch den Vortrag
zu erſetzen; er will mit Stimme und Gebehrden
die Wuͤrkung erzwingen, und verlieret daruͤber den
Anſtand.

Der Redner bedenke allemal, daß die Hauptſa-
che der Rede in der Materie liegt, und daß der
Vortrag ſie nur verſtaͤrkt, aber ihren Mangel nie-
mals erſetzet. Deswegen vermeide er die unnuͤtze
Beſtrebungen, ſeinen Worten durch den Vortrag
eine Kraft zu geben, die ihnen mangelt. Der
Pantomime, der kein ander Mittel hat, verſtaͤndlich
zu ſeyn, als die Gebehrden, muß darin die ganze
Kraft der Vorſtellung ſetzen; der Redner aber muß
dadurch eine ſchon vorhandene Kraft blos unter-
ſtuͤtzen.

Große Fehler gegen den Anſtand ſind, eine uͤber-
triebene Stimme auf einer Seite, und eine ganz
nachlaͤßige auf der andern; ein zu ſchneller Vortrag
ſchadet ihm mehr, als wenn er zu langſam iſt. Am
allermeiſten aber ſchadet ihm die Unbeſcheidenheit des
Redners, wenn er ſeine Zuhoͤrer mit dreiſten
Bliken gleichſam muſtert, oder zu ſeiner Bewun-
drung auffodert; wenn er einen zu dreiſten oder
zu kuͤhnen Ton annimmt. Der Anſtand will, daß
der Redner ſeine Sache, und nicht ſeine Perſon ſe-
hen laſſe; daß er beſcheiden und gerade vor ſich
hin ſehe, und wenn es noͤthig iſt, ſich ſanft und
beſcheiden gegen eine andre Seite hinwende. Doch
muß er auch nicht zaghaft ſeyn, ſondern ein maͤßi-
ges Zutrauen in ſeine Vorſtellungen von ſich bliken
laſſen. Er muß ſeine Zuhoͤrer als eine Verſamm-
lung anſehen, welcher er Hochachtung ſchuldig iſt,
aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn unge-
hoͤrt verurtheilen.

Ein angehender Redner, der dieſes wol und
ernſtlich uͤberlegt, wird bald zu einem gewiſſen An-
ſtand in ſeinem Vortrage kommen. Aber die Voll-
kommenheit deſſelben iſt vielleicht der ſchwerſte Theil
deſſen, was zum Vortrage gehoͤrt.

Anſtaͤndig.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Uebereinſtimmung des Zufaͤlligen in ſittlichen
Dingen, mit dem Weſentlichen derſelben. Jede
Uebereinſtimmung des Zufaͤlligen mit dem Weſentli-
[Spaltenumbruch]

Anſ
chen iſt eine nothwendige Eigenſchaft der Werke des
Geſchmaks; ſie vermehrt ihre Vollkommenheit
und das Gegentheil hat allemal etwas unangeneh-
mes: in ſittlichen Gegenſtaͤnden aber iſt dieſe Ueber-
einſtimmung um ſo viel nothwendiger, da das Ge-
gentheil anſtoͤßig iſt. Es iſt darin, was das uͤbliche
(il coſtume) in den Gebraͤuchen und Moden iſt.
Die Fehler gegen das uͤbliche ſtreiten gegen die zu-
faͤllige Wahrheit unſrer Vorſtellungen; aber die
Fehler gegen das Anſtaͤndige beleidigen unſre Em-
pfindungen, und ſind darum um ſo viel wichtiger.
Der Mahler, welcher bey der Einſetzung des Abend-
mahls unter der Tafel einen Hund und eine Katze
vorſtellt, die ſich um einen Knochen zanken, erwekt
zufaͤllige Empfindungen, welche der Ernſthaftigkeit
der Hauptſache ganz zu wider ſind und ſehr an-
ſtoͤßig werden. Eben ſo anſtoͤßig iſt es, wenn bey
ernſthaften Handlungen, Perſonen von poßirlichem
Weſen, Kinder die mit Hunden ſpielen, oder dieſe
Thiere, welche die Scene verunreinigen, mit ein-
gefuͤhrt werden; wie dieſes vielfaͤltig von unbe-
dachtſamen Mahlern geſchehen iſt.

Ungeachtet dergleichen Fehler gegen das Anſtaͤn-
dige meiſtentheils von Mahlern begangen werden,
ſo ſind die andern Kuͤnſte gar nicht frey davon. Jn der
Baukunſt ſieht man ofte chriſtliche Tempel mit Zie-
rathen des heidniſchen Goͤtzendienſtes, oder Haͤuſer
gemeiner Menſchen mit Tropheen behangen; Ge-
baͤude von einem ernſthaften Charakter, mit Ver-
ziehrungen der ausſchweifendſten und wolluͤſtigſten
Einbildungskraft. Auch große Dichter fallen bis-
weilen in dieſen Fehler. Ein Beyſpiel davon giebt
uns Milton, der dem erhabenſten Weſen eine
Sprache in den Mund legt, die einem finſtern
Schultheologen beſſer anſtuͤnde, wie Pope ſehr rich-
tig angemerkt hat. Von dem unanſtaͤndigen der
geiſtlichen Redner, ſo wol in Sachen, als in Wor-
ten und dem ganzen Vortrag, beduͤrfen wir keiner
Beyſpiele, deren eine Menge jedem Menſchen von
Geſchmak bekannt ſeyn muͤſſen.

Das anſtaͤndige wird nicht blos durch Vermei-
dung des unanſtaͤndigen erhalten, ob gleich auch
hier die Anmerkung des Horaz gilt:

Virtus eſt vitio caruiſſe.

Es muß ſich durch Einmiſchung ſo vollkommen
uͤbereinſtimmender Zufaͤlligkeiten bemerken laſſen,
daß die Wuͤrkung deſſelben lebhaft empfunden wird.

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[72/0084] Anſ Anſ bung; es laͤßt ſeine Seele in der Ruhe, die dem Anſtand weſentlich iſt. Wenn aber der Redner in die Staͤrke ſeiner Vorſtellungen ein Mißtrauen ſetzet, alsdenn ſucht er die ihr mangelnde Kraft durch den Vortrag zu erſetzen; er will mit Stimme und Gebehrden die Wuͤrkung erzwingen, und verlieret daruͤber den Anſtand. Der Redner bedenke allemal, daß die Hauptſa- che der Rede in der Materie liegt, und daß der Vortrag ſie nur verſtaͤrkt, aber ihren Mangel nie- mals erſetzet. Deswegen vermeide er die unnuͤtze Beſtrebungen, ſeinen Worten durch den Vortrag eine Kraft zu geben, die ihnen mangelt. Der Pantomime, der kein ander Mittel hat, verſtaͤndlich zu ſeyn, als die Gebehrden, muß darin die ganze Kraft der Vorſtellung ſetzen; der Redner aber muß dadurch eine ſchon vorhandene Kraft blos unter- ſtuͤtzen. Große Fehler gegen den Anſtand ſind, eine uͤber- triebene Stimme auf einer Seite, und eine ganz nachlaͤßige auf der andern; ein zu ſchneller Vortrag ſchadet ihm mehr, als wenn er zu langſam iſt. Am allermeiſten aber ſchadet ihm die Unbeſcheidenheit des Redners, wenn er ſeine Zuhoͤrer mit dreiſten Bliken gleichſam muſtert, oder zu ſeiner Bewun- drung auffodert; wenn er einen zu dreiſten oder zu kuͤhnen Ton annimmt. Der Anſtand will, daß der Redner ſeine Sache, und nicht ſeine Perſon ſe- hen laſſe; daß er beſcheiden und gerade vor ſich hin ſehe, und wenn es noͤthig iſt, ſich ſanft und beſcheiden gegen eine andre Seite hinwende. Doch muß er auch nicht zaghaft ſeyn, ſondern ein maͤßi- ges Zutrauen in ſeine Vorſtellungen von ſich bliken laſſen. Er muß ſeine Zuhoͤrer als eine Verſamm- lung anſehen, welcher er Hochachtung ſchuldig iſt, aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn unge- hoͤrt verurtheilen. Ein angehender Redner, der dieſes wol und ernſtlich uͤberlegt, wird bald zu einem gewiſſen An- ſtand in ſeinem Vortrage kommen. Aber die Voll- kommenheit deſſelben iſt vielleicht der ſchwerſte Theil deſſen, was zum Vortrage gehoͤrt. Anſtaͤndig. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Uebereinſtimmung des Zufaͤlligen in ſittlichen Dingen, mit dem Weſentlichen derſelben. Jede Uebereinſtimmung des Zufaͤlligen mit dem Weſentli- chen iſt eine nothwendige Eigenſchaft der Werke des Geſchmaks; ſie vermehrt ihre Vollkommenheit und das Gegentheil hat allemal etwas unangeneh- mes: in ſittlichen Gegenſtaͤnden aber iſt dieſe Ueber- einſtimmung um ſo viel nothwendiger, da das Ge- gentheil anſtoͤßig iſt. Es iſt darin, was das uͤbliche (il coſtume) in den Gebraͤuchen und Moden iſt. Die Fehler gegen das uͤbliche ſtreiten gegen die zu- faͤllige Wahrheit unſrer Vorſtellungen; aber die Fehler gegen das Anſtaͤndige beleidigen unſre Em- pfindungen, und ſind darum um ſo viel wichtiger. Der Mahler, welcher bey der Einſetzung des Abend- mahls unter der Tafel einen Hund und eine Katze vorſtellt, die ſich um einen Knochen zanken, erwekt zufaͤllige Empfindungen, welche der Ernſthaftigkeit der Hauptſache ganz zu wider ſind und ſehr an- ſtoͤßig werden. Eben ſo anſtoͤßig iſt es, wenn bey ernſthaften Handlungen, Perſonen von poßirlichem Weſen, Kinder die mit Hunden ſpielen, oder dieſe Thiere, welche die Scene verunreinigen, mit ein- gefuͤhrt werden; wie dieſes vielfaͤltig von unbe- dachtſamen Mahlern geſchehen iſt. Ungeachtet dergleichen Fehler gegen das Anſtaͤn- dige meiſtentheils von Mahlern begangen werden, ſo ſind die andern Kuͤnſte gar nicht frey davon. Jn der Baukunſt ſieht man ofte chriſtliche Tempel mit Zie- rathen des heidniſchen Goͤtzendienſtes, oder Haͤuſer gemeiner Menſchen mit Tropheen behangen; Ge- baͤude von einem ernſthaften Charakter, mit Ver- ziehrungen der ausſchweifendſten und wolluͤſtigſten Einbildungskraft. Auch große Dichter fallen bis- weilen in dieſen Fehler. Ein Beyſpiel davon giebt uns Milton, der dem erhabenſten Weſen eine Sprache in den Mund legt, die einem finſtern Schultheologen beſſer anſtuͤnde, wie Pope ſehr rich- tig angemerkt hat. Von dem unanſtaͤndigen der geiſtlichen Redner, ſo wol in Sachen, als in Wor- ten und dem ganzen Vortrag, beduͤrfen wir keiner Beyſpiele, deren eine Menge jedem Menſchen von Geſchmak bekannt ſeyn muͤſſen. Das anſtaͤndige wird nicht blos durch Vermei- dung des unanſtaͤndigen erhalten, ob gleich auch hier die Anmerkung des Horaz gilt: Virtus eſt vitio caruiſſe. Es muß ſich durch Einmiſchung ſo vollkommen uͤbereinſtimmender Zufaͤlligkeiten bemerken laſſen, daß die Wuͤrkung deſſelben lebhaft empfunden wird. Dieſes

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/84>, abgerufen am 21.11.2024.