Kopfes, die zur Schande des guten Geschmaks noch an vielen Orten beybehalten wird. (*)
Rousseau hält davor, daß die einfacheste Kirchen- musik, aus den Trümmern der alten griechischen Musik entstanden sey. Es ist der Mühe wol werth, daß wir seine Gedanken hierüber hersetzen." Der Cantus Firmus, sagt er, so wie er gegenwärtig noch vorhanden ist, ist ein, zwar sehr verstellter, aber höchstschäzbarer Ueberrest der alten griechischen Mu- sik, welche selbst von den Barbaren, in deren Hände sie gefallen ist, ihrer ursprünglichen Schönheiten nicht ganz beranbet worden ist. Noch bleibet ihr genug davon übrig, um ihr, einen großen Vorzug über die weibische, theatralische oder elende und platte Musik, die man in einigen Kirchen höret, zu geben, worin weder Ernsthaftigkeit, noch Geschmak, noch Anständigkeit, noch Ehrerbietung für den Ort, den man dadurch entheiliget, zu bemerken ist."
"Zu der Zeit da die Christen anfiengen, Kirchen zu haben, und in denselben Psalmen und andre Hymnen zu singen, hatte die Musik bereits fast allen ihren ehemaligen Nachdruk verloren. Die Christen nah- men sie, so wie sie dieselbe fanden, und beraubten sie noch ihrer größten Kraft, des Zeitmaaßes und Rhythmus, da sie dieselbe von der gebundenen Rede, die ihr immer zum Grunde gedient hatte, auf die Prose der heiligen Bücher, oder, auf eine völlig barbarische Poesie, die für die Musik noch ärger, als Prose war, anwendeten. Damals verschwand einer der zwey wesentlichen Theile der Musik, und der Gesang, der izt, ohne Takt und immer mit einer- ley Schritten fortgeschlept wurd, verlohr mit dem rhythmischen Gang, alle Kraft, die er ehmals von ihm gehabt hatte. Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verse, weil das Zeit- maaß der Sylben und die Füße darin beybehal- ten wurden. "--
"Aber dieser wesentlichen Mängel ungeachtet, fin- den Kenner in dem Choral, den die Priester der rö- mischen Kirche, so wie alles, was zum äusserlichen des Gottesdienstes gehöret, in seinem ursprüngli- chen Charakter erhalten haben, höchst schäzbare Ueberbleibsel des alten Gesanges und seiner verschie- denen Tonarten, so weit es möglich war, sie ohne Takt und Rhythmus, und blos in dem diatonischen Klanggeschlecht zu erhalten. Das wahre diatonische Geschlecht hat sich nur in diesen Chorälen in seiner Reinigkeit erhalten, und die verschiedenen Tonarten [Spaltenumbruch]
Kir
der Alten haben darin noch ihre beyden Hauptabzei- chen, davon das eine von der Tonica, oder dem Hauptton, woraus der Gesang geht, das andre von der Lage der halben Töne hergenommen ist.
Diese Tonarten, so wie sie in alten Kirchenliedern auf uns gekommen sind, haben würklich das Charak- teristische, das jeder eigen ist, und die Mannigfal- tigkeit des leidenschaftlichen Ausdruks, so behalten, daß es jedem Kenner fühlbar ist."
So urtheilet Roussean von dem Geschmak der Kirchenmusik (*), und an einem andern Orte (**) sagt er, man müsse nicht nur alles Gefühls der Andacht, sondern alles Geschmaks beraubet seyn, um in den Kirchen die neumodische Musik, dem al- ten Choral vorzuziehen.
Diese Gedanken eines so feinen Kenners desto richtiger zu verstehen, muß hier angemerkt werden, daß es in der ächten Kirchenmusik, wovon wir unsre völlig nach dem Geschmak des Theaters eingerichtete geistliche Cantaten, die man in der römischen Kirche noch nicht kennet, ausschließen, ein Gesetz ist, alles nach den Tonarten der Alten zu behandeln (*), die aber meistentheils nur auf unser diatonisches Ge- schlecht eingeschränkt sind, weil die andern Geschlech- ter, das enharmonische und chromatische, zur Zeit, da die Kirchenmusik aufgekommen ist, schon aus der Uebung gekommen waren. Also wählt der Ton- setzer für jedes besondere Stük, es sey Choral, Fuge, oder was für Gestalt es sonst habe, eine der alten Tonarten, die sich zu dem Affekt des Stüks am be- sten schiket, und bindet sich an den ihr vorgeschrie- benen Umfang, der entweder von der Tonica zur Dominante, oder von der Dominante zur To- nica geht. Da nach diesem Gesetze, jede Stimme nur einen kleinen Umfang hat, so geht auch der Ge- sang selbst meistentheils durch kleine Jntervalle, wo- durch das Hüpfende und Springende, der so ge- nannten galanten Musik, aus der Kirche verbannet wird. Dieser Einschränkung ungeachtet, weiß ein erfahrner Tonsetzer, dennoch eine große Mannig- faltigkeit von melodischen und harmonischen Sätzen in ein Stük zu bringen.
Seine vornehmste Sorge, nach einer guten Wahl der Tonart, und einer höchst einfachen Fortschrei- tung, geht auf die Beobachtung der richtigen De- klamation des Texts; welche sowol durch die Haupt- stimmen selbst, als auch durch die Harmonie kann fühlbar gemacht werden Denn schon durch diese
allein,
(*) S. Oratorium
(*)Dictio. de Musiq. Art. Plai[n-] chant.
(**)Art. Motett.
(*) S. Tonarten der Alten.
[Spaltenumbruch]
Kir
Kopfes, die zur Schande des guten Geſchmaks noch an vielen Orten beybehalten wird. (*)
Rouſſeau haͤlt davor, daß die einfacheſte Kirchen- muſik, aus den Truͤmmern der alten griechiſchen Muſik entſtanden ſey. Es iſt der Muͤhe wol werth, daß wir ſeine Gedanken hieruͤber herſetzen.„ Der Cantus Firmus, ſagt er, ſo wie er gegenwaͤrtig noch vorhanden iſt, iſt ein, zwar ſehr verſtellter, aber hoͤchſtſchaͤzbarer Ueberreſt der alten griechiſchen Mu- ſik, welche ſelbſt von den Barbaren, in deren Haͤnde ſie gefallen iſt, ihrer urſpruͤnglichen Schoͤnheiten nicht ganz beranbet worden iſt. Noch bleibet ihr genug davon uͤbrig, um ihr, einen großen Vorzug uͤber die weibiſche, theatraliſche oder elende und platte Muſik, die man in einigen Kirchen hoͤret, zu geben, worin weder Ernſthaftigkeit, noch Geſchmak, noch Anſtaͤndigkeit, noch Ehrerbietung fuͤr den Ort, den man dadurch entheiliget, zu bemerken iſt.“
„Zu der Zeit da die Chriſten anfiengen, Kirchen zu haben, und in denſelben Pſalmen und andre Hymnen zu ſingen, hatte die Muſik bereits faſt allen ihren ehemaligen Nachdruk verloren. Die Chriſten nah- men ſie, ſo wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten ſie noch ihrer groͤßten Kraft, des Zeitmaaßes und Rhythmus, da ſie dieſelbe von der gebundenen Rede, die ihr immer zum Grunde gedient hatte, auf die Proſe der heiligen Buͤcher, oder, auf eine voͤllig barbariſche Poeſie, die fuͤr die Muſik noch aͤrger, als Proſe war, anwendeten. Damals verſchwand einer der zwey weſentlichen Theile der Muſik, und der Geſang, der izt, ohne Takt und immer mit einer- ley Schritten fortgeſchlept wurd, verlohr mit dem rhythmiſchen Gang, alle Kraft, die er ehmals von ihm gehabt hatte. Nur in einigen Hymnen merkte man noch den Fall der Verſe, weil das Zeit- maaß der Sylben und die Fuͤße darin beybehal- ten wurden. „—
„Aber dieſer weſentlichen Maͤngel ungeachtet, fin- den Kenner in dem Choral, den die Prieſter der roͤ- miſchen Kirche, ſo wie alles, was zum aͤuſſerlichen des Gottesdienſtes gehoͤret, in ſeinem urſpruͤngli- chen Charakter erhalten haben, hoͤchſt ſchaͤzbare Ueberbleibſel des alten Geſanges und ſeiner verſchie- denen Tonarten, ſo weit es moͤglich war, ſie ohne Takt und Rhythmus, und blos in dem diatoniſchen Klanggeſchlecht zu erhalten. Das wahre diatoniſche Geſchlecht hat ſich nur in dieſen Choraͤlen in ſeiner Reinigkeit erhalten, und die verſchiedenen Tonarten [Spaltenumbruch]
Kir
der Alten haben darin noch ihre beyden Hauptabzei- chen, davon das eine von der Tonica, oder dem Hauptton, woraus der Geſang geht, das andre von der Lage der halben Toͤne hergenommen iſt.
Dieſe Tonarten, ſo wie ſie in alten Kirchenliedern auf uns gekommen ſind, haben wuͤrklich das Charak- teriſtiſche, das jeder eigen iſt, und die Mannigfal- tigkeit des leidenſchaftlichen Ausdruks, ſo behalten, daß es jedem Kenner fuͤhlbar iſt.„
So urtheilet Rouſſean von dem Geſchmak der Kirchenmuſik (*), und an einem andern Orte (**) ſagt er, man muͤſſe nicht nur alles Gefuͤhls der Andacht, ſondern alles Geſchmaks beraubet ſeyn, um in den Kirchen die neumodiſche Muſik, dem al- ten Choral vorzuziehen.
Dieſe Gedanken eines ſo feinen Kenners deſto richtiger zu verſtehen, muß hier angemerkt werden, daß es in der aͤchten Kirchenmuſik, wovon wir unſre voͤllig nach dem Geſchmak des Theaters eingerichtete geiſtliche Cantaten, die man in der roͤmiſchen Kirche noch nicht kennet, ausſchließen, ein Geſetz iſt, alles nach den Tonarten der Alten zu behandeln (*), die aber meiſtentheils nur auf unſer diatoniſches Ge- ſchlecht eingeſchraͤnkt ſind, weil die andern Geſchlech- ter, das enharmoniſche und chromatiſche, zur Zeit, da die Kirchenmuſik aufgekommen iſt, ſchon aus der Uebung gekommen waren. Alſo waͤhlt der Ton- ſetzer fuͤr jedes beſondere Stuͤk, es ſey Choral, Fuge, oder was fuͤr Geſtalt es ſonſt habe, eine der alten Tonarten, die ſich zu dem Affekt des Stuͤks am be- ſten ſchiket, und bindet ſich an den ihr vorgeſchrie- benen Umfang, der entweder von der Tonica zur Dominante, oder von der Dominante zur To- nica geht. Da nach dieſem Geſetze, jede Stimme nur einen kleinen Umfang hat, ſo geht auch der Ge- ſang ſelbſt meiſtentheils durch kleine Jntervalle, wo- durch das Huͤpfende und Springende, der ſo ge- nannten galanten Muſik, aus der Kirche verbannet wird. Dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet, weiß ein erfahrner Tonſetzer, dennoch eine große Mannig- faltigkeit von melodiſchen und harmoniſchen Saͤtzen in ein Stuͤk zu bringen.
Seine vornehmſte Sorge, nach einer guten Wahl der Tonart, und einer hoͤchſt einfachen Fortſchrei- tung, geht auf die Beobachtung der richtigen De- klamation des Texts; welche ſowol durch die Haupt- ſtimmen ſelbſt, als auch durch die Harmonie kann fuͤhlbar gemacht werden Denn ſchon durch dieſe
allein,
(*) S. Oratorium
(*)Dictio. de Muſiq. Art. Plai[n-] chant.
(**)Art. Motett.
(*) S. Tonarten der Alten.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0018"n="583"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kir</hi></fw><lb/>
Kopfes, die zur Schande des guten Geſchmaks noch<lb/>
an vielen Orten beybehalten wird. <noteplace="foot"n="(*)">S.<lb/>
Oratorium</note></p><lb/><p>Rouſſeau haͤlt davor, daß die einfacheſte Kirchen-<lb/>
muſik, aus den Truͤmmern der alten griechiſchen<lb/>
Muſik entſtanden ſey. Es iſt der Muͤhe wol werth,<lb/>
daß wir ſeine Gedanken hieruͤber herſetzen.„ Der<lb/>
Cantus Firmus, ſagt er, ſo wie er gegenwaͤrtig<lb/>
noch vorhanden iſt, iſt ein, zwar ſehr verſtellter, aber<lb/>
hoͤchſtſchaͤzbarer Ueberreſt der alten griechiſchen Mu-<lb/>ſik, welche ſelbſt von den Barbaren, in deren Haͤnde<lb/>ſie gefallen iſt, ihrer urſpruͤnglichen Schoͤnheiten<lb/>
nicht ganz beranbet worden iſt. Noch bleibet ihr<lb/>
genug davon uͤbrig, um ihr, einen großen Vorzug<lb/>
uͤber die weibiſche, theatraliſche oder elende und<lb/>
platte Muſik, die man in einigen Kirchen hoͤret, zu<lb/>
geben, worin weder Ernſthaftigkeit, noch Geſchmak,<lb/>
noch Anſtaͤndigkeit, noch Ehrerbietung fuͤr den Ort,<lb/>
den man dadurch entheiliget, zu bemerken iſt.“</p><lb/><p>„Zu der Zeit da die Chriſten anfiengen, Kirchen zu<lb/>
haben, und in denſelben Pſalmen und andre Hymnen<lb/>
zu ſingen, hatte die Muſik bereits faſt allen ihren<lb/>
ehemaligen Nachdruk verloren. Die Chriſten nah-<lb/>
men ſie, ſo wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten<lb/>ſie noch ihrer groͤßten Kraft, des Zeitmaaßes und<lb/>
Rhythmus, da ſie dieſelbe von der gebundenen Rede,<lb/>
die ihr immer zum Grunde gedient hatte, auf die<lb/>
Proſe der heiligen Buͤcher, oder, auf eine voͤllig<lb/>
barbariſche Poeſie, die fuͤr die Muſik noch aͤrger,<lb/>
als Proſe war, anwendeten. Damals verſchwand<lb/>
einer der zwey weſentlichen Theile der Muſik, und der<lb/>
Geſang, der izt, ohne Takt und immer mit einer-<lb/>
ley Schritten fortgeſchlept wurd, verlohr mit dem<lb/>
rhythmiſchen Gang, alle Kraft, die er ehmals von<lb/>
ihm gehabt hatte. Nur in einigen Hymnen merkte<lb/>
man noch den Fall der Verſe, weil das Zeit-<lb/>
maaß der Sylben und die Fuͤße darin beybehal-<lb/>
ten wurden. „—</p><lb/><p>„Aber dieſer weſentlichen Maͤngel ungeachtet, fin-<lb/>
den Kenner in dem Choral, den die Prieſter der roͤ-<lb/>
miſchen Kirche, ſo wie alles, was zum aͤuſſerlichen<lb/>
des Gottesdienſtes gehoͤret, in ſeinem urſpruͤngli-<lb/>
chen Charakter erhalten haben, hoͤchſt ſchaͤzbare<lb/>
Ueberbleibſel des alten Geſanges und ſeiner verſchie-<lb/>
denen Tonarten, ſo weit es moͤglich war, ſie ohne<lb/>
Takt und Rhythmus, und blos in dem diatoniſchen<lb/>
Klanggeſchlecht zu erhalten. Das wahre diatoniſche<lb/>
Geſchlecht hat ſich nur in dieſen Choraͤlen in ſeiner<lb/>
Reinigkeit erhalten, und die verſchiedenen Tonarten<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Kir</hi></fw><lb/>
der Alten haben darin noch ihre beyden Hauptabzei-<lb/>
chen, davon das eine von der Tonica, oder dem<lb/>
Hauptton, woraus der Geſang geht, das andre<lb/>
von der Lage der halben Toͤne hergenommen iſt.</p><lb/><p>Dieſe Tonarten, ſo wie ſie in alten Kirchenliedern<lb/>
auf uns gekommen ſind, haben wuͤrklich das Charak-<lb/>
teriſtiſche, das jeder eigen iſt, und die Mannigfal-<lb/>
tigkeit des leidenſchaftlichen Ausdruks, ſo behalten,<lb/>
daß es jedem Kenner fuͤhlbar iſt.„</p><lb/><p>So urtheilet Rouſſean von dem Geſchmak der<lb/>
Kirchenmuſik <noteplace="foot"n="(*)"><hirendition="#aq">Dictio.<lb/>
de Muſiq.<lb/>
Art. <hirendition="#i">Plai<supplied>n-</supplied><lb/>
chant.</hi></hi></note>, und an einem andern Orte <noteplace="foot"n="(**)"><hirendition="#aq">Art.<lb/>
Motett.</hi></note><lb/>ſagt er, man muͤſſe nicht nur alles Gefuͤhls der<lb/>
Andacht, ſondern alles Geſchmaks beraubet ſeyn,<lb/>
um in den Kirchen die neumodiſche Muſik, dem al-<lb/>
ten Choral vorzuziehen.</p><lb/><p>Dieſe Gedanken eines ſo feinen Kenners deſto<lb/>
richtiger zu verſtehen, muß hier angemerkt werden,<lb/>
daß es in der aͤchten Kirchenmuſik, wovon wir unſre<lb/>
voͤllig nach dem Geſchmak des Theaters eingerichtete<lb/>
geiſtliche Cantaten, die man in der roͤmiſchen Kirche<lb/>
noch nicht kennet, ausſchließen, ein Geſetz iſt,<lb/>
alles nach den Tonarten der Alten zu behandeln <noteplace="foot"n="(*)">S.<lb/>
Tonarten<lb/>
der Alten.</note>,<lb/>
die aber meiſtentheils nur auf unſer diatoniſches Ge-<lb/>ſchlecht eingeſchraͤnkt ſind, weil die andern Geſchlech-<lb/>
ter, das enharmoniſche und chromatiſche, zur Zeit,<lb/>
da die Kirchenmuſik aufgekommen iſt, ſchon aus der<lb/>
Uebung gekommen waren. Alſo waͤhlt der Ton-<lb/>ſetzer fuͤr jedes beſondere Stuͤk, es ſey Choral, Fuge,<lb/>
oder was fuͤr Geſtalt es ſonſt habe, eine der alten<lb/>
Tonarten, die ſich zu dem Affekt des Stuͤks am be-<lb/>ſten ſchiket, und bindet ſich an den ihr vorgeſchrie-<lb/>
benen Umfang, der entweder von der Tonica zur<lb/>
Dominante, oder von der Dominante zur To-<lb/>
nica geht. Da nach dieſem Geſetze, jede Stimme<lb/>
nur einen kleinen Umfang hat, ſo geht auch der Ge-<lb/>ſang ſelbſt meiſtentheils durch kleine Jntervalle, wo-<lb/>
durch das Huͤpfende und Springende, der ſo ge-<lb/>
nannten galanten Muſik, aus der Kirche verbannet<lb/>
wird. Dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet, weiß ein<lb/>
erfahrner Tonſetzer, dennoch eine große Mannig-<lb/>
faltigkeit von melodiſchen und harmoniſchen Saͤtzen<lb/>
in ein Stuͤk zu bringen.</p><lb/><p>Seine vornehmſte Sorge, nach einer guten Wahl<lb/>
der Tonart, und einer hoͤchſt einfachen Fortſchrei-<lb/>
tung, geht auf die Beobachtung der richtigen De-<lb/>
klamation des Texts; welche ſowol durch die Haupt-<lb/>ſtimmen ſelbſt, als auch durch die Harmonie kann<lb/>
fuͤhlbar gemacht werden Denn ſchon durch dieſe<lb/><fwplace="bottom"type="catch">allein,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[583/0018]
Kir
Kir
Kopfes, die zur Schande des guten Geſchmaks noch
an vielen Orten beybehalten wird. (*)
Rouſſeau haͤlt davor, daß die einfacheſte Kirchen-
muſik, aus den Truͤmmern der alten griechiſchen
Muſik entſtanden ſey. Es iſt der Muͤhe wol werth,
daß wir ſeine Gedanken hieruͤber herſetzen.„ Der
Cantus Firmus, ſagt er, ſo wie er gegenwaͤrtig
noch vorhanden iſt, iſt ein, zwar ſehr verſtellter, aber
hoͤchſtſchaͤzbarer Ueberreſt der alten griechiſchen Mu-
ſik, welche ſelbſt von den Barbaren, in deren Haͤnde
ſie gefallen iſt, ihrer urſpruͤnglichen Schoͤnheiten
nicht ganz beranbet worden iſt. Noch bleibet ihr
genug davon uͤbrig, um ihr, einen großen Vorzug
uͤber die weibiſche, theatraliſche oder elende und
platte Muſik, die man in einigen Kirchen hoͤret, zu
geben, worin weder Ernſthaftigkeit, noch Geſchmak,
noch Anſtaͤndigkeit, noch Ehrerbietung fuͤr den Ort,
den man dadurch entheiliget, zu bemerken iſt.“
„Zu der Zeit da die Chriſten anfiengen, Kirchen zu
haben, und in denſelben Pſalmen und andre Hymnen
zu ſingen, hatte die Muſik bereits faſt allen ihren
ehemaligen Nachdruk verloren. Die Chriſten nah-
men ſie, ſo wie ſie dieſelbe fanden, und beraubten
ſie noch ihrer groͤßten Kraft, des Zeitmaaßes und
Rhythmus, da ſie dieſelbe von der gebundenen Rede,
die ihr immer zum Grunde gedient hatte, auf die
Proſe der heiligen Buͤcher, oder, auf eine voͤllig
barbariſche Poeſie, die fuͤr die Muſik noch aͤrger,
als Proſe war, anwendeten. Damals verſchwand
einer der zwey weſentlichen Theile der Muſik, und der
Geſang, der izt, ohne Takt und immer mit einer-
ley Schritten fortgeſchlept wurd, verlohr mit dem
rhythmiſchen Gang, alle Kraft, die er ehmals von
ihm gehabt hatte. Nur in einigen Hymnen merkte
man noch den Fall der Verſe, weil das Zeit-
maaß der Sylben und die Fuͤße darin beybehal-
ten wurden. „—
„Aber dieſer weſentlichen Maͤngel ungeachtet, fin-
den Kenner in dem Choral, den die Prieſter der roͤ-
miſchen Kirche, ſo wie alles, was zum aͤuſſerlichen
des Gottesdienſtes gehoͤret, in ſeinem urſpruͤngli-
chen Charakter erhalten haben, hoͤchſt ſchaͤzbare
Ueberbleibſel des alten Geſanges und ſeiner verſchie-
denen Tonarten, ſo weit es moͤglich war, ſie ohne
Takt und Rhythmus, und blos in dem diatoniſchen
Klanggeſchlecht zu erhalten. Das wahre diatoniſche
Geſchlecht hat ſich nur in dieſen Choraͤlen in ſeiner
Reinigkeit erhalten, und die verſchiedenen Tonarten
der Alten haben darin noch ihre beyden Hauptabzei-
chen, davon das eine von der Tonica, oder dem
Hauptton, woraus der Geſang geht, das andre
von der Lage der halben Toͤne hergenommen iſt.
Dieſe Tonarten, ſo wie ſie in alten Kirchenliedern
auf uns gekommen ſind, haben wuͤrklich das Charak-
teriſtiſche, das jeder eigen iſt, und die Mannigfal-
tigkeit des leidenſchaftlichen Ausdruks, ſo behalten,
daß es jedem Kenner fuͤhlbar iſt.„
So urtheilet Rouſſean von dem Geſchmak der
Kirchenmuſik (*), und an einem andern Orte (**)
ſagt er, man muͤſſe nicht nur alles Gefuͤhls der
Andacht, ſondern alles Geſchmaks beraubet ſeyn,
um in den Kirchen die neumodiſche Muſik, dem al-
ten Choral vorzuziehen.
Dieſe Gedanken eines ſo feinen Kenners deſto
richtiger zu verſtehen, muß hier angemerkt werden,
daß es in der aͤchten Kirchenmuſik, wovon wir unſre
voͤllig nach dem Geſchmak des Theaters eingerichtete
geiſtliche Cantaten, die man in der roͤmiſchen Kirche
noch nicht kennet, ausſchließen, ein Geſetz iſt,
alles nach den Tonarten der Alten zu behandeln (*),
die aber meiſtentheils nur auf unſer diatoniſches Ge-
ſchlecht eingeſchraͤnkt ſind, weil die andern Geſchlech-
ter, das enharmoniſche und chromatiſche, zur Zeit,
da die Kirchenmuſik aufgekommen iſt, ſchon aus der
Uebung gekommen waren. Alſo waͤhlt der Ton-
ſetzer fuͤr jedes beſondere Stuͤk, es ſey Choral, Fuge,
oder was fuͤr Geſtalt es ſonſt habe, eine der alten
Tonarten, die ſich zu dem Affekt des Stuͤks am be-
ſten ſchiket, und bindet ſich an den ihr vorgeſchrie-
benen Umfang, der entweder von der Tonica zur
Dominante, oder von der Dominante zur To-
nica geht. Da nach dieſem Geſetze, jede Stimme
nur einen kleinen Umfang hat, ſo geht auch der Ge-
ſang ſelbſt meiſtentheils durch kleine Jntervalle, wo-
durch das Huͤpfende und Springende, der ſo ge-
nannten galanten Muſik, aus der Kirche verbannet
wird. Dieſer Einſchraͤnkung ungeachtet, weiß ein
erfahrner Tonſetzer, dennoch eine große Mannig-
faltigkeit von melodiſchen und harmoniſchen Saͤtzen
in ein Stuͤk zu bringen.
Seine vornehmſte Sorge, nach einer guten Wahl
der Tonart, und einer hoͤchſt einfachen Fortſchrei-
tung, geht auf die Beobachtung der richtigen De-
klamation des Texts; welche ſowol durch die Haupt-
ſtimmen ſelbſt, als auch durch die Harmonie kann
fuͤhlbar gemacht werden Denn ſchon durch dieſe
allein,
(*) S.
Oratorium
(*) Dictio.
de Muſiq.
Art. Plain-
chant.
(**) Art.
Motett.
(*) S.
Tonarten
der Alten.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/18>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.