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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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ständig Octaven gegen einander machen. Man hat
das Wiedrige dieses Gesanges durch die Orgeln et-
was zu verbessern gesucht; wiewol es nicht hinläng-
lich ist. Als man nachher mehr über die Harmo-
nie nachgedacht hatte, wurde der Gesang vierstim-
mig, wie er noch gegenwärtig in dem gemeinen
Choral an einigen Orten ist. Die ursprüngliche
Melodie wurde der Cantus Firmus, oder der ein-
mal festgesezte Gesang genennt, zu welchem noch
andre Stimmen mußten verfertiget werden.

Daher geschiehet es noch itzt, daß in den meisten
Kirchen von der Gemeinde nur die ursprüngliche
Melodie, oder der Cantus Firmus gesungen wird,
da die andern Stimmen unter einen besonders da-
zu bestellten Chor von Sängern vertheilt werden;
ferner daß jeder Tonsetzer, der für die Kirchen ar-
heitet, mit Beybehaltung eines bekannten Cantus
Firmus, nach seinem Gefühl die andern Stimmen
neu dazu verfertiget. Und hieraus läßt sich auch
verstehen, was die Lehrer der Musik damit sagen
wollen, wenn sie in der Anweisung zum Satz vor-
schreiben, daß der Cantus Firmus bald in diese,
bald in eine andre Stimme soll verlegt werden.
Von diesem unverzierten und schlechten Choral ist in
einem besondern Artikel gesprochen worden. (*)

Man hat hernach diesen Choral nicht nur noch
mehrstimmig gemacht, sondern ihm noch verschiedene
andre Formen gegeben, und einige Stimmen davon
verschiedentlich ausgeziert: daher der sogenannte
figurirte Gesang entstanden ist, von dem gegenwär-
tig so viel Mißbrauch gemacht wird, daß man ofte
sich bey der Kirchenmusik besinnen muß, ob man
in der Kirche, oder in der Oper sey.

Der sigurirte Kirchengesang hat nach Verschie-
denheit der Gelegenheiten mancherley Gestalt ange-
nommen. Der Choralgesang selbst wird bisweilen
figurirt, indem der Cantus Firmus zwar in einer
der vier Hauptstimmen beybehalten, aber von figu-
rirten Stimmen, welche allerley Nachahmungen
machen, oder auch wol nach Fugenart gesezt sind,
begleitet wird. Diese Art kann von großer Wür-
kung seyn, wenn der Tonsetzer sich nur keine Aus-
schweiffungen dabey erlaubt, und allezeit auf den
wahren Ausdruk sieht. Sie schiket sich auch nicht
zu jedem Jnhalt des Gesanges, sondern nur da, wo
natürlicher Weise eine Menge Menschen zugleich ver-
schiedentliche Empfindungen äussern können. Es
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würde höchst ungereimt seyn, stille Empfindungen
der Andacht auf solche Weise setzen zu wollen.

Um den Gesang noch feyerlicher zu machen, und
zugleich die Harmonie zu unterstützen, wurden auch
Jnstrumente dabey eingeführt. Die Orgel, oder
große Contraviolone wurden zum begleitenden Baß,
und die Posaunen um einige Singestimmen zu ver-
stärken, gebraucht; endlich aber führte man all-
mählig alle übrigen Jnstrumente in die begleitenden
Mittelstimmen ein.

Um dem Kirchengesang mehr Mannigfaltigkeit
zu geben, suchte man auch darin Abwechslungen,
daß einige Strophen als Chöre, andre, oder einzele
Verse nur von einem Sänger, als ein Solo, andre
als Duette, oder Terzette; einige Choralmäßig,
andre durchgehends als Fugen gesetzt, und denn
verschiedentlich von ausfüllenden Jnstrumentstimmen
begleitet wurden. Auf diese Art werden bisweilen
Psalmen und Hymnen gesetzt. Dabey hat nun
der Tonsetzer vorzüglich darauf zu achten, daß diese
Abwechslungen nicht willkührlich seyen, sondern sich
nach dem Texte richten. Es kann allerdings ein
Hymnus so gemacht seyn, daß einige Verse desselben
am besten nach Art eines Chors, andre, als eine
rauschende Fuge, und noch andre, nur von einem
oder von zwey, oder drey Sängern, gesungen wer-
den. Dieses muß der Tonsetzer genau beurtheilen,
um jeden Theil des Hymnus, auf die schiklichste
Art zu bearbeiten. Vorher aber muß der Dichter,
der den Text zu einer solchen Musik macht, den Jn-
halt zu diesen Abwechslungen einrichten.

Jn der römisch Catholischen Kirche hat die Kir-
chenmusik ihre bestimmten und festgesezten Formen,
die unverändert beybehalten werden; bey den Pro-
testanten aber haben Dichter und Tonsetzer sich
neue Formen erlaubt, und sind nicht allemal glük-
lich dabey gewesen. Mit der Einführung geistlicher
Cantaten haben sich auch die Recitative und Arien
in der Kirchenmusik eingefunden, und mit ihnen ist
der ausschweiffende Geschmak der Opermusik herein
gekommen. Jn einigen protestantischen Kirchen
Deutschlands ist man so gar auf den abgeschmakten
Einfall gekommen, die Kirchenmusik bisweilen dra-
matisch zu machen. Man hat Oratorien, wie kleine
Opern, wo Recitative, Arien und Duette nach
Opernart beständig untereinander abwechseln; so
daß eine Handlung von verschiedenen Personen vor-
gestellt wird. Eine Erfindung eines wahnwitzigen

Kop-
(*) S.
Choral.

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Kir
ſtaͤndig Octaven gegen einander machen. Man hat
das Wiedrige dieſes Geſanges durch die Orgeln et-
was zu verbeſſern geſucht; wiewol es nicht hinlaͤng-
lich iſt. Als man nachher mehr uͤber die Harmo-
nie nachgedacht hatte, wurde der Geſang vierſtim-
mig, wie er noch gegenwaͤrtig in dem gemeinen
Choral an einigen Orten iſt. Die urſpruͤngliche
Melodie wurde der Cantus Firmus, oder der ein-
mal feſtgeſezte Geſang genennt, zu welchem noch
andre Stimmen mußten verfertiget werden.

Daher geſchiehet es noch itzt, daß in den meiſten
Kirchen von der Gemeinde nur die urſpruͤngliche
Melodie, oder der Cantus Firmus geſungen wird,
da die andern Stimmen unter einen beſonders da-
zu beſtellten Chor von Saͤngern vertheilt werden;
ferner daß jeder Tonſetzer, der fuͤr die Kirchen ar-
heitet, mit Beybehaltung eines bekannten Cantus
Firmus, nach ſeinem Gefuͤhl die andern Stimmen
neu dazu verfertiget. Und hieraus laͤßt ſich auch
verſtehen, was die Lehrer der Muſik damit ſagen
wollen, wenn ſie in der Anweiſung zum Satz vor-
ſchreiben, daß der Cantus Firmus bald in dieſe,
bald in eine andre Stimme ſoll verlegt werden.
Von dieſem unverzierten und ſchlechten Choral iſt in
einem beſondern Artikel geſprochen worden. (*)

Man hat hernach dieſen Choral nicht nur noch
mehrſtimmig gemacht, ſondern ihm noch verſchiedene
andre Formen gegeben, und einige Stimmen davon
verſchiedentlich ausgeziert: daher der ſogenannte
figurirte Geſang entſtanden iſt, von dem gegenwaͤr-
tig ſo viel Mißbrauch gemacht wird, daß man ofte
ſich bey der Kirchenmuſik beſinnen muß, ob man
in der Kirche, oder in der Oper ſey.

Der ſigurirte Kirchengeſang hat nach Verſchie-
denheit der Gelegenheiten mancherley Geſtalt ange-
nommen. Der Choralgeſang ſelbſt wird bisweilen
figurirt, indem der Cantus Firmus zwar in einer
der vier Hauptſtimmen beybehalten, aber von figu-
rirten Stimmen, welche allerley Nachahmungen
machen, oder auch wol nach Fugenart geſezt ſind,
begleitet wird. Dieſe Art kann von großer Wuͤr-
kung ſeyn, wenn der Tonſetzer ſich nur keine Aus-
ſchweiffungen dabey erlaubt, und allezeit auf den
wahren Ausdruk ſieht. Sie ſchiket ſich auch nicht
zu jedem Jnhalt des Geſanges, ſondern nur da, wo
natuͤrlicher Weiſe eine Menge Menſchen zugleich ver-
ſchiedentliche Empfindungen aͤuſſern koͤnnen. Es
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Kir
wuͤrde hoͤchſt ungereimt ſeyn, ſtille Empfindungen
der Andacht auf ſolche Weiſe ſetzen zu wollen.

Um den Geſang noch feyerlicher zu machen, und
zugleich die Harmonie zu unterſtuͤtzen, wurden auch
Jnſtrumente dabey eingefuͤhrt. Die Orgel, oder
große Contraviolone wurden zum begleitenden Baß,
und die Poſaunen um einige Singeſtimmen zu ver-
ſtaͤrken, gebraucht; endlich aber fuͤhrte man all-
maͤhlig alle uͤbrigen Jnſtrumente in die begleitenden
Mittelſtimmen ein.

Um dem Kirchengeſang mehr Mannigfaltigkeit
zu geben, ſuchte man auch darin Abwechslungen,
daß einige Strophen als Choͤre, andre, oder einzele
Verſe nur von einem Saͤnger, als ein Solo, andre
als Duette, oder Terzette; einige Choralmaͤßig,
andre durchgehends als Fugen geſetzt, und denn
verſchiedentlich von ausfuͤllenden Jnſtrumentſtimmen
begleitet wurden. Auf dieſe Art werden bisweilen
Pſalmen und Hymnen geſetzt. Dabey hat nun
der Tonſetzer vorzuͤglich darauf zu achten, daß dieſe
Abwechslungen nicht willkuͤhrlich ſeyen, ſondern ſich
nach dem Texte richten. Es kann allerdings ein
Hymnus ſo gemacht ſeyn, daß einige Verſe deſſelben
am beſten nach Art eines Chors, andre, als eine
rauſchende Fuge, und noch andre, nur von einem
oder von zwey, oder drey Saͤngern, geſungen wer-
den. Dieſes muß der Tonſetzer genau beurtheilen,
um jeden Theil des Hymnus, auf die ſchiklichſte
Art zu bearbeiten. Vorher aber muß der Dichter,
der den Text zu einer ſolchen Muſik macht, den Jn-
halt zu dieſen Abwechslungen einrichten.

Jn der roͤmiſch Catholiſchen Kirche hat die Kir-
chenmuſik ihre beſtimmten und feſtgeſezten Formen,
die unveraͤndert beybehalten werden; bey den Pro-
teſtanten aber haben Dichter und Tonſetzer ſich
neue Formen erlaubt, und ſind nicht allemal gluͤk-
lich dabey geweſen. Mit der Einfuͤhrung geiſtlicher
Cantaten haben ſich auch die Recitative und Arien
in der Kirchenmuſik eingefunden, und mit ihnen iſt
der ausſchweiffende Geſchmak der Opermuſik herein
gekommen. Jn einigen proteſtantiſchen Kirchen
Deutſchlands iſt man ſo gar auf den abgeſchmakten
Einfall gekommen, die Kirchenmuſik bisweilen dra-
matiſch zu machen. Man hat Oratorien, wie kleine
Opern, wo Recitative, Arien und Duette nach
Opernart beſtaͤndig untereinander abwechſeln; ſo
daß eine Handlung von verſchiedenen Perſonen vor-
geſtellt wird. Eine Erfindung eines wahnwitzigen

Kop-
(*) S.
Choral.
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[582/0017] Kir Kir ſtaͤndig Octaven gegen einander machen. Man hat das Wiedrige dieſes Geſanges durch die Orgeln et- was zu verbeſſern geſucht; wiewol es nicht hinlaͤng- lich iſt. Als man nachher mehr uͤber die Harmo- nie nachgedacht hatte, wurde der Geſang vierſtim- mig, wie er noch gegenwaͤrtig in dem gemeinen Choral an einigen Orten iſt. Die urſpruͤngliche Melodie wurde der Cantus Firmus, oder der ein- mal feſtgeſezte Geſang genennt, zu welchem noch andre Stimmen mußten verfertiget werden. Daher geſchiehet es noch itzt, daß in den meiſten Kirchen von der Gemeinde nur die urſpruͤngliche Melodie, oder der Cantus Firmus geſungen wird, da die andern Stimmen unter einen beſonders da- zu beſtellten Chor von Saͤngern vertheilt werden; ferner daß jeder Tonſetzer, der fuͤr die Kirchen ar- heitet, mit Beybehaltung eines bekannten Cantus Firmus, nach ſeinem Gefuͤhl die andern Stimmen neu dazu verfertiget. Und hieraus laͤßt ſich auch verſtehen, was die Lehrer der Muſik damit ſagen wollen, wenn ſie in der Anweiſung zum Satz vor- ſchreiben, daß der Cantus Firmus bald in dieſe, bald in eine andre Stimme ſoll verlegt werden. Von dieſem unverzierten und ſchlechten Choral iſt in einem beſondern Artikel geſprochen worden. (*) Man hat hernach dieſen Choral nicht nur noch mehrſtimmig gemacht, ſondern ihm noch verſchiedene andre Formen gegeben, und einige Stimmen davon verſchiedentlich ausgeziert: daher der ſogenannte figurirte Geſang entſtanden iſt, von dem gegenwaͤr- tig ſo viel Mißbrauch gemacht wird, daß man ofte ſich bey der Kirchenmuſik beſinnen muß, ob man in der Kirche, oder in der Oper ſey. Der ſigurirte Kirchengeſang hat nach Verſchie- denheit der Gelegenheiten mancherley Geſtalt ange- nommen. Der Choralgeſang ſelbſt wird bisweilen figurirt, indem der Cantus Firmus zwar in einer der vier Hauptſtimmen beybehalten, aber von figu- rirten Stimmen, welche allerley Nachahmungen machen, oder auch wol nach Fugenart geſezt ſind, begleitet wird. Dieſe Art kann von großer Wuͤr- kung ſeyn, wenn der Tonſetzer ſich nur keine Aus- ſchweiffungen dabey erlaubt, und allezeit auf den wahren Ausdruk ſieht. Sie ſchiket ſich auch nicht zu jedem Jnhalt des Geſanges, ſondern nur da, wo natuͤrlicher Weiſe eine Menge Menſchen zugleich ver- ſchiedentliche Empfindungen aͤuſſern koͤnnen. Es wuͤrde hoͤchſt ungereimt ſeyn, ſtille Empfindungen der Andacht auf ſolche Weiſe ſetzen zu wollen. Um den Geſang noch feyerlicher zu machen, und zugleich die Harmonie zu unterſtuͤtzen, wurden auch Jnſtrumente dabey eingefuͤhrt. Die Orgel, oder große Contraviolone wurden zum begleitenden Baß, und die Poſaunen um einige Singeſtimmen zu ver- ſtaͤrken, gebraucht; endlich aber fuͤhrte man all- maͤhlig alle uͤbrigen Jnſtrumente in die begleitenden Mittelſtimmen ein. Um dem Kirchengeſang mehr Mannigfaltigkeit zu geben, ſuchte man auch darin Abwechslungen, daß einige Strophen als Choͤre, andre, oder einzele Verſe nur von einem Saͤnger, als ein Solo, andre als Duette, oder Terzette; einige Choralmaͤßig, andre durchgehends als Fugen geſetzt, und denn verſchiedentlich von ausfuͤllenden Jnſtrumentſtimmen begleitet wurden. Auf dieſe Art werden bisweilen Pſalmen und Hymnen geſetzt. Dabey hat nun der Tonſetzer vorzuͤglich darauf zu achten, daß dieſe Abwechslungen nicht willkuͤhrlich ſeyen, ſondern ſich nach dem Texte richten. Es kann allerdings ein Hymnus ſo gemacht ſeyn, daß einige Verſe deſſelben am beſten nach Art eines Chors, andre, als eine rauſchende Fuge, und noch andre, nur von einem oder von zwey, oder drey Saͤngern, geſungen wer- den. Dieſes muß der Tonſetzer genau beurtheilen, um jeden Theil des Hymnus, auf die ſchiklichſte Art zu bearbeiten. Vorher aber muß der Dichter, der den Text zu einer ſolchen Muſik macht, den Jn- halt zu dieſen Abwechslungen einrichten. Jn der roͤmiſch Catholiſchen Kirche hat die Kir- chenmuſik ihre beſtimmten und feſtgeſezten Formen, die unveraͤndert beybehalten werden; bey den Pro- teſtanten aber haben Dichter und Tonſetzer ſich neue Formen erlaubt, und ſind nicht allemal gluͤk- lich dabey geweſen. Mit der Einfuͤhrung geiſtlicher Cantaten haben ſich auch die Recitative und Arien in der Kirchenmuſik eingefunden, und mit ihnen iſt der ausſchweiffende Geſchmak der Opermuſik herein gekommen. Jn einigen proteſtantiſchen Kirchen Deutſchlands iſt man ſo gar auf den abgeſchmakten Einfall gekommen, die Kirchenmuſik bisweilen dra- matiſch zu machen. Man hat Oratorien, wie kleine Opern, wo Recitative, Arien und Duette nach Opernart beſtaͤndig untereinander abwechſeln; ſo daß eine Handlung von verſchiedenen Perſonen vor- geſtellt wird. Eine Erfindung eines wahnwitzigen Kop- (*) S. Choral.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/17>, abgerufen am 21.11.2024.