meren der Schmiede, und in dem Dreschen, das Mehrere zugleich verrichten. Dadurch wird die Arbeit erleichtert, weil das Gemüth, vermittelst der Lust, die es an Einförmigkeit mit Abwechslung ver- bunden, sindet, zur Fortsezung derselben ermuntert wird.
Diese taktmäßige und rhythmische Bewegung aber kann unmittelbar mit einer Folge von Tönen verbun- den werden, weil diese allezeit den Begriff der Be- wegung mit sich führet; und so ist demnach der Ur- sprung des förmlichen mit Takt und Rhythmus be- gleiteten Gesanges, und seine natürliche Verbin- dung mit dem Tanze begreiflich. Und man wird sich nach einiger Ueberlegung, welche die hier ange- führten Bemerkungen von selbsten an die Hand ge- ben, gar nicht mehr wundern, daß auch die rohe- sten Völker die Musik erfunden, und einige Schritte zur Vervollkommnung derselben gethan haben.
Sie ist also eine Kunst, die in der Natur des Menschen gegründet ist, und hat ihre unwandelbare Grundsäze, die man nothwendig vor Augen haben muß, wenn man Tonstüke verfertigen, oder an der Vervollkommnung der Kunst selbst, arbeiten will. Und hier ist sogleich nöthig ein Vorurtheil aus dem Wege zu räumen, das manche sowol in der Musik, als in andern Künsten, gegen die Unveränderlichkeit ihrer Grundsäze haben. Der Chineser, sagt man, findet an der Europäischen Musik keinen Geschmak, und dem Europäer ist die chinesische Musik unaus- stehlich: also hat diese Kunst keine in der allgemeinen menschlichen Natur gegründete Regeln. Wir wol- len sehen.
Hätte die Musik keinen andern Zwek, als auf einen Augenblik Freude, Furcht, oder Schreken zu erweken, so wär allerdings jedes von vielen Men- schen zugleich angestimmte Freuden- oder Angstge- schrey dazu hinlänglich. Wenn eine große Anzahl Menschen auf einmal frohlokend jauchzen, oder ängst- lich schreyen, so werden wir gewaltig dadurch ergrif- fen, so unregelmäßig, so dissonirend, so seltsam und unordentlich gemischt diese Stimmen immer seyn mögen. Da ist weder Grundsaz noch Regel nöthig.
Aber ein solches Geräusche kann nicht anhaltend seyn, und wenn es auch dauerte, so würde es gar bald unkräftig werden; weil die Aufmerksamkeit darauf bald aufhören würde. Wenn also die Wür- kung der Töne anhaltend seyn soll, so muß noth- [Spaltenumbruch]
Mus
wendig das Metrische hinzukommen. (*) Dieses füh- len alle Menschen von einiger Empfindsamkeit, der Burät und der Kaschinz in den Wüsten Siberiens (*), der Jndianer und der Jrdquese, haben es eben so gut empfunden, als das feinere Ohr des Griechen. Wo aber Metrum und Rhythmus ist, da ist Ord- nung und regelmäßige Abmessung. Hierin also folgen alle Völker den ersten Grundregeln. Weil aber das metrische unzähliger Veränderungen fähig ist, so hat jedes Volk darin seinen Geschmak, wie aus den Tanzmelodien der verschiedenen Völker er- hellet, nur die allgemeinen Regeln der Ordnung und des Ebenmaaßes sind überall dieselben.
Daß aber ein Volk eine schnellere, ein anderes eine langsamere Bewegung liebet; daß die noch rohen Völker nicht so viel Abwechslung, auch nicht so sehr bestimmtes Ebenmaaß suchen, als die, wel- che sich schon länger an Empfindung des Schönen geübet haben; daß einige Menschen mehr dissoni- rendes in den Tönen vertragen, als andere, die mehr geübet sind das Einzele in der Vermengung vieler Töne zu empfinden; daß daher jedes Volk seine ihm eigene Anwendung der allgemeinen Grund- säze auf besondere Fälle macht, woraus die Ver- schiedenheit der besondern Regeln entsteht, ist sehr natürlich, und beweiset keinesweges, daß der Ge- schmak überhaupt willkührlich sey. Siehet man nicht auch unter uns, daß die, deren feineres und mehr geübtes Ohr auch Kleinigkeiten genau füh- len, mehr Regeln beobachten, als andere, die erst nachdem sie zu mehr Fertigkeit in Hören gelanget sind, diese vorher übersehene Regeln entdeken, und beobachten? Also beweiset die Verschiedenheit des Geschmaks hier so wenig, als in andern Künsten, daß er überall keinen festen Grund in der menschli- chen Natur habe.
Wir haben gesehen, was die Musik in ihrem We- sen eigentlich ist -- eine Folge von Tönen, die aus leidenschaftlicher Empfindung entstehen, und sie folg- lich schildern -- die Kraft haben die Empfindung zu unterhalten, und zu stärken -- und nun ist zu un- tersuchen, was Erfahrung, Geschmak und Ueberle- gung, kurz, was das, was eigentlich zur Kunst ge- höret, aus der Musik machen könne, und wozu ihre Werke können angewendet werden.
Jhr Zwek ist Erwekung der Empfindung; ihr Mittel eine Folge dazu dienlicher Töne; und ihre Anwendung geschieht auf eine den Absichten der Na-
tur
(*) S. Metrisch.
(*) S. Gmelins Reise III Theil.
[Spaltenumbruch]
Muſ
meren der Schmiede, und in dem Dreſchen, das Mehrere zugleich verrichten. Dadurch wird die Arbeit erleichtert, weil das Gemuͤth, vermittelſt der Luſt, die es an Einfoͤrmigkeit mit Abwechslung ver- bunden, ſindet, zur Fortſezung derſelben ermuntert wird.
Dieſe taktmaͤßige und rhythmiſche Bewegung aber kann unmittelbar mit einer Folge von Toͤnen verbun- den werden, weil dieſe allezeit den Begriff der Be- wegung mit ſich fuͤhret; und ſo iſt demnach der Ur- ſprung des foͤrmlichen mit Takt und Rhythmus be- gleiteten Geſanges, und ſeine natuͤrliche Verbin- dung mit dem Tanze begreiflich. Und man wird ſich nach einiger Ueberlegung, welche die hier ange- fuͤhrten Bemerkungen von ſelbſten an die Hand ge- ben, gar nicht mehr wundern, daß auch die rohe- ſten Voͤlker die Muſik erfunden, und einige Schritte zur Vervollkommnung derſelben gethan haben.
Sie iſt alſo eine Kunſt, die in der Natur des Menſchen gegruͤndet iſt, und hat ihre unwandelbare Grundſaͤze, die man nothwendig vor Augen haben muß, wenn man Tonſtuͤke verfertigen, oder an der Vervollkommnung der Kunſt ſelbſt, arbeiten will. Und hier iſt ſogleich noͤthig ein Vorurtheil aus dem Wege zu raͤumen, das manche ſowol in der Muſik, als in andern Kuͤnſten, gegen die Unveraͤnderlichkeit ihrer Grundſaͤze haben. Der Chineſer, ſagt man, findet an der Europaͤiſchen Muſik keinen Geſchmak, und dem Europaͤer iſt die chineſiſche Muſik unaus- ſtehlich: alſo hat dieſe Kunſt keine in der allgemeinen menſchlichen Natur gegruͤndete Regeln. Wir wol- len ſehen.
Haͤtte die Muſik keinen andern Zwek, als auf einen Augenblik Freude, Furcht, oder Schreken zu erweken, ſo waͤr allerdings jedes von vielen Men- ſchen zugleich angeſtimmte Freuden- oder Angſtge- ſchrey dazu hinlaͤnglich. Wenn eine große Anzahl Menſchen auf einmal frohlokend jauchzen, oder aͤngſt- lich ſchreyen, ſo werden wir gewaltig dadurch ergrif- fen, ſo unregelmaͤßig, ſo diſſonirend, ſo ſeltſam und unordentlich gemiſcht dieſe Stimmen immer ſeyn moͤgen. Da iſt weder Grundſaz noch Regel noͤthig.
Aber ein ſolches Geraͤuſche kann nicht anhaltend ſeyn, und wenn es auch dauerte, ſo wuͤrde es gar bald unkraͤftig werden; weil die Aufmerkſamkeit darauf bald aufhoͤren wuͤrde. Wenn alſo die Wuͤr- kung der Toͤne anhaltend ſeyn ſoll, ſo muß noth- [Spaltenumbruch]
Muſ
wendig das Metriſche hinzukommen. (*) Dieſes fuͤh- len alle Menſchen von einiger Empfindſamkeit, der Buraͤt und der Kaſchinz in den Wuͤſten Siberiens (*), der Jndianer und der Jrdqueſe, haben es eben ſo gut empfunden, als das feinere Ohr des Griechen. Wo aber Metrum und Rhythmus iſt, da iſt Ord- nung und regelmaͤßige Abmeſſung. Hierin alſo folgen alle Voͤlker den erſten Grundregeln. Weil aber das metriſche unzaͤhliger Veraͤnderungen faͤhig iſt, ſo hat jedes Volk darin ſeinen Geſchmak, wie aus den Tanzmelodien der verſchiedenen Voͤlker er- hellet, nur die allgemeinen Regeln der Ordnung und des Ebenmaaßes ſind uͤberall dieſelben.
Daß aber ein Volk eine ſchnellere, ein anderes eine langſamere Bewegung liebet; daß die noch rohen Voͤlker nicht ſo viel Abwechslung, auch nicht ſo ſehr beſtimmtes Ebenmaaß ſuchen, als die, wel- che ſich ſchon laͤnger an Empfindung des Schoͤnen geuͤbet haben; daß einige Menſchen mehr diſſoni- rendes in den Toͤnen vertragen, als andere, die mehr geuͤbet ſind das Einzele in der Vermengung vieler Toͤne zu empfinden; daß daher jedes Volk ſeine ihm eigene Anwendung der allgemeinen Grund- ſaͤze auf beſondere Faͤlle macht, woraus die Ver- ſchiedenheit der beſondern Regeln entſteht, iſt ſehr natuͤrlich, und beweiſet keinesweges, daß der Ge- ſchmak uͤberhaupt willkuͤhrlich ſey. Siehet man nicht auch unter uns, daß die, deren feineres und mehr geuͤbtes Ohr auch Kleinigkeiten genau fuͤh- len, mehr Regeln beobachten, als andere, die erſt nachdem ſie zu mehr Fertigkeit in Hoͤren gelanget ſind, dieſe vorher uͤberſehene Regeln entdeken, und beobachten? Alſo beweiſet die Verſchiedenheit des Geſchmaks hier ſo wenig, als in andern Kuͤnſten, daß er uͤberall keinen feſten Grund in der menſchli- chen Natur habe.
Wir haben geſehen, was die Muſik in ihrem We- ſen eigentlich iſt — eine Folge von Toͤnen, die aus leidenſchaftlicher Empfindung entſtehen, und ſie folg- lich ſchildern — die Kraft haben die Empfindung zu unterhalten, und zu ſtaͤrken — und nun iſt zu un- terſuchen, was Erfahrung, Geſchmak und Ueberle- gung, kurz, was das, was eigentlich zur Kunſt ge- hoͤret, aus der Muſik machen koͤnne, und wozu ihre Werke koͤnnen angewendet werden.
Jhr Zwek iſt Erwekung der Empfindung; ihr Mittel eine Folge dazu dienlicher Toͤne; und ihre Anwendung geſchieht auf eine den Abſichten der Na-
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(*) S. Metriſch.
(*) S. Gmelins Reiſe III Theil.
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[782[764]/0199]
Muſ
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meren der Schmiede, und in dem Dreſchen, das
Mehrere zugleich verrichten. Dadurch wird die
Arbeit erleichtert, weil das Gemuͤth, vermittelſt der
Luſt, die es an Einfoͤrmigkeit mit Abwechslung ver-
bunden, ſindet, zur Fortſezung derſelben ermuntert
wird.
Dieſe taktmaͤßige und rhythmiſche Bewegung aber
kann unmittelbar mit einer Folge von Toͤnen verbun-
den werden, weil dieſe allezeit den Begriff der Be-
wegung mit ſich fuͤhret; und ſo iſt demnach der Ur-
ſprung des foͤrmlichen mit Takt und Rhythmus be-
gleiteten Geſanges, und ſeine natuͤrliche Verbin-
dung mit dem Tanze begreiflich. Und man wird
ſich nach einiger Ueberlegung, welche die hier ange-
fuͤhrten Bemerkungen von ſelbſten an die Hand ge-
ben, gar nicht mehr wundern, daß auch die rohe-
ſten Voͤlker die Muſik erfunden, und einige Schritte
zur Vervollkommnung derſelben gethan haben.
Sie iſt alſo eine Kunſt, die in der Natur des
Menſchen gegruͤndet iſt, und hat ihre unwandelbare
Grundſaͤze, die man nothwendig vor Augen haben
muß, wenn man Tonſtuͤke verfertigen, oder an der
Vervollkommnung der Kunſt ſelbſt, arbeiten will.
Und hier iſt ſogleich noͤthig ein Vorurtheil aus dem
Wege zu raͤumen, das manche ſowol in der Muſik,
als in andern Kuͤnſten, gegen die Unveraͤnderlichkeit
ihrer Grundſaͤze haben. Der Chineſer, ſagt man,
findet an der Europaͤiſchen Muſik keinen Geſchmak,
und dem Europaͤer iſt die chineſiſche Muſik unaus-
ſtehlich: alſo hat dieſe Kunſt keine in der allgemeinen
menſchlichen Natur gegruͤndete Regeln. Wir wol-
len ſehen.
Haͤtte die Muſik keinen andern Zwek, als auf
einen Augenblik Freude, Furcht, oder Schreken zu
erweken, ſo waͤr allerdings jedes von vielen Men-
ſchen zugleich angeſtimmte Freuden- oder Angſtge-
ſchrey dazu hinlaͤnglich. Wenn eine große Anzahl
Menſchen auf einmal frohlokend jauchzen, oder aͤngſt-
lich ſchreyen, ſo werden wir gewaltig dadurch ergrif-
fen, ſo unregelmaͤßig, ſo diſſonirend, ſo ſeltſam
und unordentlich gemiſcht dieſe Stimmen immer
ſeyn moͤgen. Da iſt weder Grundſaz noch Regel
noͤthig.
Aber ein ſolches Geraͤuſche kann nicht anhaltend
ſeyn, und wenn es auch dauerte, ſo wuͤrde es gar
bald unkraͤftig werden; weil die Aufmerkſamkeit
darauf bald aufhoͤren wuͤrde. Wenn alſo die Wuͤr-
kung der Toͤne anhaltend ſeyn ſoll, ſo muß noth-
wendig das Metriſche hinzukommen. (*) Dieſes fuͤh-
len alle Menſchen von einiger Empfindſamkeit, der
Buraͤt und der Kaſchinz in den Wuͤſten Siberiens (*),
der Jndianer und der Jrdqueſe, haben es eben ſo
gut empfunden, als das feinere Ohr des Griechen.
Wo aber Metrum und Rhythmus iſt, da iſt Ord-
nung und regelmaͤßige Abmeſſung. Hierin alſo
folgen alle Voͤlker den erſten Grundregeln. Weil
aber das metriſche unzaͤhliger Veraͤnderungen faͤhig
iſt, ſo hat jedes Volk darin ſeinen Geſchmak, wie
aus den Tanzmelodien der verſchiedenen Voͤlker er-
hellet, nur die allgemeinen Regeln der Ordnung und
des Ebenmaaßes ſind uͤberall dieſelben.
Daß aber ein Volk eine ſchnellere, ein anderes
eine langſamere Bewegung liebet; daß die noch
rohen Voͤlker nicht ſo viel Abwechslung, auch nicht
ſo ſehr beſtimmtes Ebenmaaß ſuchen, als die, wel-
che ſich ſchon laͤnger an Empfindung des Schoͤnen
geuͤbet haben; daß einige Menſchen mehr diſſoni-
rendes in den Toͤnen vertragen, als andere, die
mehr geuͤbet ſind das Einzele in der Vermengung
vieler Toͤne zu empfinden; daß daher jedes Volk
ſeine ihm eigene Anwendung der allgemeinen Grund-
ſaͤze auf beſondere Faͤlle macht, woraus die Ver-
ſchiedenheit der beſondern Regeln entſteht, iſt ſehr
natuͤrlich, und beweiſet keinesweges, daß der Ge-
ſchmak uͤberhaupt willkuͤhrlich ſey. Siehet man
nicht auch unter uns, daß die, deren feineres und
mehr geuͤbtes Ohr auch Kleinigkeiten genau fuͤh-
len, mehr Regeln beobachten, als andere, die erſt
nachdem ſie zu mehr Fertigkeit in Hoͤren gelanget
ſind, dieſe vorher uͤberſehene Regeln entdeken, und
beobachten? Alſo beweiſet die Verſchiedenheit des
Geſchmaks hier ſo wenig, als in andern Kuͤnſten,
daß er uͤberall keinen feſten Grund in der menſchli-
chen Natur habe.
Wir haben geſehen, was die Muſik in ihrem We-
ſen eigentlich iſt — eine Folge von Toͤnen, die aus
leidenſchaftlicher Empfindung entſtehen, und ſie folg-
lich ſchildern — die Kraft haben die Empfindung zu
unterhalten, und zu ſtaͤrken — und nun iſt zu un-
terſuchen, was Erfahrung, Geſchmak und Ueberle-
gung, kurz, was das, was eigentlich zur Kunſt ge-
hoͤret, aus der Muſik machen koͤnne, und wozu
ihre Werke koͤnnen angewendet werden.
Jhr Zwek iſt Erwekung der Empfindung; ihr
Mittel eine Folge dazu dienlicher Toͤne; und ihre
Anwendung geſchieht auf eine den Abſichten der Na-
tur
(*) S.
Metriſch.
(*) S.
Gmelins
Reiſe III
Theil.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 782[764]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/199>, abgerufen am 16.02.2025.
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