lung, Zwang und Eitelkeit unverdorbenen Seele habe. Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur übereinstimmt, und auf welche nichts willkührliches, oder gelerntes von außen- her den geringsten Einflus hat, in so fern sie gegen das feinere, überlegtere, mit aller Vorsichtigkeit das Gebräuchliche nicht zu beleidigen, abgepaßte, absticht, scheinet das Wesen des Nawen auszumachen. Es äußert sich in Gedanken, im Ausdruk, in Empfin- dungen, in Sitten, Manieren und Handlungen.
Jn Gedanken, oder der Art sich eine Sache vor- zustellen, scheinet mir folgendes bis zum Erhabenen naiv. Adrast kommt mit den Müttern der von Theben erschlagenen Jünglinge zum Thesus, ruft ihn um Hülfe gegen den Creon an, der nicht erlau- ben will, daß die Erschlagenen begraben werden. Theseus, anstatt dem Adrast seine Bitte sogleich zu gewähren, oder abzuschlagen, macht sehr viel Worte ihm zu beweisen, daß er sich in diesen Krieg gar nicht hätte einlassen sollen. Hierauf giebt ihm Adrast diese naive Antwort.
"Jch bin nicht zu dir gekommen, als zu einem Richter meiner Thaten, sondern, als zu einem Arzt meines Uebels. Jch suche keinen Rächer meiner Vergehungen, sondern einen Freund, der mich aus der Verlegenheit ziehe. Willst du mir meine billige Bitte versagen, so muß ich mirs gefallen lassen; denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet also ihr unglüklichen Mütter, und kehret zurüke; werfet diese unnüze Zeichen, wodurch Supplicanten sich ankündigen, weg, und rufet den Himmel zum Zeugen an, daß eure Bitte von einem König verworfen wor- den, der unser Blutsverwandter ist." (*)
Dies ist gerade zu, was der richtigste natürli- che Verstand, und die Einfalt der Empfindung in diesem Fall eingaben. Diese äußert Adrast, ohne die vorsichtige Bedenklichkeit, daß er den Theseus dadurch beleidigen könnte; ohne die, feinern Köpfen gewöhnliche Vorsicht, sich bey dem, den man um Hülfe anspricht einzuschmeicheln, legt er das Unge- reimte in dem Betragen des Theseus an den Tag, gerade so wie er es empfindet; ohne zu bedenken, daß vielleicht Theseus viel Umstände mache, um seine Hülfe dadurch mehr gelten zu machen, nihmt er es, als für eine unwiederrufliche Weigerung an, und geht davon.
Das Naive im Ausdruk besteht in Worten, die geradezu die Gedanken, oder die Gesinnungen der [Spaltenumbruch]
Nal
Unschuld ausdrüken, aber durch spizfündige, oder schalkhafte Anwendung einen nachtheiligen Sinn haben können, an den die redende Person aus Un- schuld, oder Unwissenheit nicht gedacht hat. Die Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungesittetes oder Grobes, wo blos Unschuld und edle Einfalt ist.
Empfindungen und deren Aeußerung in Sitten und Manieren sind naiv, wenn sie der unverdorbe- nen Natur gemäß, und obgleich der feineren Ver- dorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne Rükhaltung, ohne künstliche Verstekung, oder Ein- kleidung, aus der Fülle des Herzens herausquellen. Beyspiele davon findet man überall in Bodmers epi- schen Gedichten aus der patriarchischen Welt; in den Epopöen des Homers, und in den Jdyllen des Theokritus und unsers Geßners. Es hat auch in zeichnenden Künsten, im Tanz, in den Gebehr- den und Stellungen der Schauspiehler statt. Nichts ist unschuldsvoller, naiver und gegen unsere künstli- che Manieren abstechender, als die verschiedenen Stellungen und Gebehrden, die Raphael der Psyche in den Vorstellungen ihrer Geschicht im farnesischen Pallaste gegeben hat.
Das Naive macht keine geringe Classe des ästhe- tischen Stoffs aus; es ist nicht nur angenehm, son- dern kann bis zum Entzüken rühren. Deswegen sind blos in dieser Absicht die Werke des Geschmaks, darin durchaus naive Empfindungen und Sitten vorkommen, höchst schäzbar; weil sie den Ge- schmak an der edlen Einfalt einer durchaus guten und liebenswürdigen Natur unterhalten, und verstärken.
Das Naive in den Gedanken thut da, wo man überzeugen, entschuldigen, oder wiederlegen will, die größte Würkung; denn es führet das Gefühl der Wahrheit unmittelbar mit sich. Jn der Elektra des Sophokles wird diese unglükliche Tochter des Agamemnons von der Clytemnestra beschuldiget, sie suche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und Handlungen verhaßt zu machen. Hierauf giebt Elektra diese höchst naive Antwort, die keiner Ge- genrede Raum läßt. "Diese Reden kommen von dir, nicht von mir her, du thust die Werke, die ich blos nenne." (*) Sehr naiv und eben dadurch überzeugend ist auch folgendes; wiewol das Weit- schweifende dieser Stelle, vielleicht zu tadeln wäre. Pseudolus giebt seinem verliebten jungen Herren,
den
(*)Eurip. [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]ketidis.
(*)Soph El. vs. 626. 627.
[Spaltenumbruch]
Nai
lung, Zwang und Eitelkeit unverdorbenen Seele habe. Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln und Reden, die mit der Natur uͤbereinſtimmt, und auf welche nichts willkuͤhrliches, oder gelerntes von außen- her den geringſten Einflus hat, in ſo fern ſie gegen das feinere, uͤberlegtere, mit aller Vorſichtigkeit das Gebraͤuchliche nicht zu beleidigen, abgepaßte, abſticht, ſcheinet das Weſen des Nawen auszumachen. Es aͤußert ſich in Gedanken, im Ausdruk, in Empfin- dungen, in Sitten, Manieren und Handlungen.
Jn Gedanken, oder der Art ſich eine Sache vor- zuſtellen, ſcheinet mir folgendes bis zum Erhabenen naiv. Adraſt kommt mit den Muͤttern der von Theben erſchlagenen Juͤnglinge zum Theſus, ruft ihn um Huͤlfe gegen den Creon an, der nicht erlau- ben will, daß die Erſchlagenen begraben werden. Theſeus, anſtatt dem Adraſt ſeine Bitte ſogleich zu gewaͤhren, oder abzuſchlagen, macht ſehr viel Worte ihm zu beweiſen, daß er ſich in dieſen Krieg gar nicht haͤtte einlaſſen ſollen. Hierauf giebt ihm Adraſt dieſe naive Antwort.
„Jch bin nicht zu dir gekommen, als zu einem Richter meiner Thaten, ſondern, als zu einem Arzt meines Uebels. Jch ſuche keinen Raͤcher meiner Vergehungen, ſondern einen Freund, der mich aus der Verlegenheit ziehe. Willſt du mir meine billige Bitte verſagen, ſo muß ich mirs gefallen laſſen; denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet alſo ihr ungluͤklichen Muͤtter, und kehret zuruͤke; werfet dieſe unnuͤze Zeichen, wodurch Supplicanten ſich ankuͤndigen, weg, und rufet den Himmel zum Zeugen an, daß eure Bitte von einem Koͤnig verworfen wor- den, der unſer Blutsverwandter iſt.“ (*)
Dies iſt gerade zu, was der richtigſte natuͤrli- che Verſtand, und die Einfalt der Empfindung in dieſem Fall eingaben. Dieſe aͤußert Adraſt, ohne die vorſichtige Bedenklichkeit, daß er den Theſeus dadurch beleidigen koͤnnte; ohne die, feinern Koͤpfen gewoͤhnliche Vorſicht, ſich bey dem, den man um Huͤlfe anſpricht einzuſchmeicheln, legt er das Unge- reimte in dem Betragen des Theſeus an den Tag, gerade ſo wie er es empfindet; ohne zu bedenken, daß vielleicht Theſeus viel Umſtaͤnde mache, um ſeine Huͤlfe dadurch mehr gelten zu machen, nihmt er es, als fuͤr eine unwiederrufliche Weigerung an, und geht davon.
Das Naive im Ausdruk beſteht in Worten, die geradezu die Gedanken, oder die Geſinnungen der [Spaltenumbruch]
Nal
Unſchuld ausdruͤken, aber durch ſpizfuͤndige, oder ſchalkhafte Anwendung einen nachtheiligen Sinn haben koͤnnen, an den die redende Perſon aus Un- ſchuld, oder Unwiſſenheit nicht gedacht hat. Die Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungeſittetes oder Grobes, wo blos Unſchuld und edle Einfalt iſt.
Empfindungen und deren Aeußerung in Sitten und Manieren ſind naiv, wenn ſie der unverdorbe- nen Natur gemaͤß, und obgleich der feineren Ver- dorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne Ruͤkhaltung, ohne kuͤnſtliche Verſtekung, oder Ein- kleidung, aus der Fuͤlle des Herzens herausquellen. Beyſpiele davon findet man uͤberall in Bodmers epi- ſchen Gedichten aus der patriarchiſchen Welt; in den Epopoͤen des Homers, und in den Jdyllen des Theokritus und unſers Geßners. Es hat auch in zeichnenden Kuͤnſten, im Tanz, in den Gebehr- den und Stellungen der Schauſpiehler ſtatt. Nichts iſt unſchuldsvoller, naiver und gegen unſere kuͤnſtli- che Manieren abſtechender, als die verſchiedenen Stellungen und Gebehrden, die Raphael der Pſyche in den Vorſtellungen ihrer Geſchicht im farneſiſchen Pallaſte gegeben hat.
Das Naive macht keine geringe Claſſe des aͤſthe- tiſchen Stoffs aus; es iſt nicht nur angenehm, ſon- dern kann bis zum Entzuͤken ruͤhren. Deswegen ſind blos in dieſer Abſicht die Werke des Geſchmaks, darin durchaus naive Empfindungen und Sitten vorkommen, hoͤchſt ſchaͤzbar; weil ſie den Ge- ſchmak an der edlen Einfalt einer durchaus guten und liebenswuͤrdigen Natur unterhalten, und verſtaͤrken.
Das Naive in den Gedanken thut da, wo man uͤberzeugen, entſchuldigen, oder wiederlegen will, die groͤßte Wuͤrkung; denn es fuͤhret das Gefuͤhl der Wahrheit unmittelbar mit ſich. Jn der Elektra des Sophokles wird dieſe ungluͤkliche Tochter des Agamemnons von der Clytemneſtra beſchuldiget, ſie ſuche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und Handlungen verhaßt zu machen. Hierauf giebt Elektra dieſe hoͤchſt naive Antwort, die keiner Ge- genrede Raum laͤßt. „Dieſe Reden kommen von dir, nicht von mir her, du thuſt die Werke, die ich blos nenne.“ (*) Sehr naiv und eben dadurch uͤberzeugend iſt auch folgendes; wiewol das Weit- ſchweifende dieſer Stelle, vielleicht zu tadeln waͤre. Pſeudolus giebt ſeinem verliebten jungen Herren,
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(*)Soph El. vs. 626. 627.
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[804[786]/0221]
Nai
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Die Einfalt und Offenherzigkeit im Denken, Handeln
und Reden, die mit der Natur uͤbereinſtimmt, und auf
welche nichts willkuͤhrliches, oder gelerntes von außen-
her den geringſten Einflus hat, in ſo fern ſie gegen
das feinere, uͤberlegtere, mit aller Vorſichtigkeit das
Gebraͤuchliche nicht zu beleidigen, abgepaßte, abſticht,
ſcheinet das Weſen des Nawen auszumachen. Es
aͤußert ſich in Gedanken, im Ausdruk, in Empfin-
dungen, in Sitten, Manieren und Handlungen.
Jn Gedanken, oder der Art ſich eine Sache vor-
zuſtellen, ſcheinet mir folgendes bis zum Erhabenen
naiv. Adraſt kommt mit den Muͤttern der von
Theben erſchlagenen Juͤnglinge zum Theſus, ruft
ihn um Huͤlfe gegen den Creon an, der nicht erlau-
ben will, daß die Erſchlagenen begraben werden.
Theſeus, anſtatt dem Adraſt ſeine Bitte ſogleich zu
gewaͤhren, oder abzuſchlagen, macht ſehr viel Worte
ihm zu beweiſen, daß er ſich in dieſen Krieg gar
nicht haͤtte einlaſſen ſollen. Hierauf giebt ihm Adraſt
dieſe naive Antwort.
„Jch bin nicht zu dir gekommen, als zu einem
Richter meiner Thaten, ſondern, als zu einem Arzt
meines Uebels. Jch ſuche keinen Raͤcher meiner
Vergehungen, ſondern einen Freund, der mich aus
der Verlegenheit ziehe. Willſt du mir meine billige
Bitte verſagen, ſo muß ich mirs gefallen laſſen;
denn zwingen kann ich dich nicht. Kommet alſo ihr
ungluͤklichen Muͤtter, und kehret zuruͤke; werfet
dieſe unnuͤze Zeichen, wodurch Supplicanten ſich
ankuͤndigen, weg, und rufet den Himmel zum Zeugen
an, daß eure Bitte von einem Koͤnig verworfen wor-
den, der unſer Blutsverwandter iſt.“ (*)
Dies iſt gerade zu, was der richtigſte natuͤrli-
che Verſtand, und die Einfalt der Empfindung in
dieſem Fall eingaben. Dieſe aͤußert Adraſt, ohne
die vorſichtige Bedenklichkeit, daß er den Theſeus
dadurch beleidigen koͤnnte; ohne die, feinern Koͤpfen
gewoͤhnliche Vorſicht, ſich bey dem, den man um
Huͤlfe anſpricht einzuſchmeicheln, legt er das Unge-
reimte in dem Betragen des Theſeus an den Tag,
gerade ſo wie er es empfindet; ohne zu bedenken,
daß vielleicht Theſeus viel Umſtaͤnde mache, um
ſeine Huͤlfe dadurch mehr gelten zu machen, nihmt
er es, als fuͤr eine unwiederrufliche Weigerung an,
und geht davon.
Das Naive im Ausdruk beſteht in Worten, die
geradezu die Gedanken, oder die Geſinnungen der
Unſchuld ausdruͤken, aber durch ſpizfuͤndige, oder
ſchalkhafte Anwendung einen nachtheiligen Sinn
haben koͤnnen, an den die redende Perſon aus Un-
ſchuld, oder Unwiſſenheit nicht gedacht hat. Die
Schalkhaftigkeit findet darin etwas Ungeſittetes oder
Grobes, wo blos Unſchuld und edle Einfalt iſt.
Empfindungen und deren Aeußerung in Sitten
und Manieren ſind naiv, wenn ſie der unverdorbe-
nen Natur gemaͤß, und obgleich der feineren Ver-
dorbenheit des gangbaren Betragens zuwieder, ohne
Ruͤkhaltung, ohne kuͤnſtliche Verſtekung, oder Ein-
kleidung, aus der Fuͤlle des Herzens herausquellen.
Beyſpiele davon findet man uͤberall in Bodmers epi-
ſchen Gedichten aus der patriarchiſchen Welt; in
den Epopoͤen des Homers, und in den Jdyllen
des Theokritus und unſers Geßners. Es hat auch
in zeichnenden Kuͤnſten, im Tanz, in den Gebehr-
den und Stellungen der Schauſpiehler ſtatt. Nichts
iſt unſchuldsvoller, naiver und gegen unſere kuͤnſtli-
che Manieren abſtechender, als die verſchiedenen
Stellungen und Gebehrden, die Raphael der Pſyche
in den Vorſtellungen ihrer Geſchicht im farneſiſchen
Pallaſte gegeben hat.
Das Naive macht keine geringe Claſſe des aͤſthe-
tiſchen Stoffs aus; es iſt nicht nur angenehm, ſon-
dern kann bis zum Entzuͤken ruͤhren. Deswegen
ſind blos in dieſer Abſicht die Werke des Geſchmaks,
darin durchaus naive Empfindungen und Sitten
vorkommen, hoͤchſt ſchaͤzbar; weil ſie den Ge-
ſchmak an der edlen Einfalt einer durchaus guten
und liebenswuͤrdigen Natur unterhalten, und
verſtaͤrken.
Das Naive in den Gedanken thut da, wo man
uͤberzeugen, entſchuldigen, oder wiederlegen will,
die groͤßte Wuͤrkung; denn es fuͤhret das Gefuͤhl
der Wahrheit unmittelbar mit ſich. Jn der Elektra
des Sophokles wird dieſe ungluͤkliche Tochter des
Agamemnons von der Clytemneſtra beſchuldiget,
ſie ſuche durch ihre Klagen ihrer Mutter Reden und
Handlungen verhaßt zu machen. Hierauf giebt
Elektra dieſe hoͤchſt naive Antwort, die keiner Ge-
genrede Raum laͤßt. „Dieſe Reden kommen von
dir, nicht von mir her, du thuſt die Werke, die
ich blos nenne.“ (*) Sehr naiv und eben dadurch
uͤberzeugend iſt auch folgendes; wiewol das Weit-
ſchweifende dieſer Stelle, vielleicht zu tadeln waͤre.
Pſeudolus giebt ſeinem verliebten jungen Herren,
den
(*) Eurip.
_κετιδις.
(*) Soph
El. vs.
626. 627.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 804[786]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/221>, abgerufen am 24.11.2024.
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