den er durch sein vieles Fragen verdrießlich gemacht hat, folgende Antwort:
Si ex te tacente fieri possem certior Here, quae miseriae te tam misere macerant Duorum labori ego hominum parsissem lubens, Mei te rogandi et tui respondendi mihi. Nunc queniam id fieri non potest, necessitas Me subigit ut te rogitem.(*)
Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann versichert seyn, daß er überzeuget. Dieser Ton ist vornehmlich in der äsopischen Fabel nothwendig, wo der Dichter ofte die Person eines einfältigen und leichtgläubigen Menschen annehmen muß, um sei- nen Leser treuherzig zu machen.
Es giebt auch eine schalkhafte angenommene Nai- vität die in der spottenden Satyre ungemein gute Würkung thut, das Lächerliche andrer recht ans Licht zu bringen. Swifft ist darin der größte Mei- ster, und Liscov hat mit der verstellten naiven Ein- falt, mit welcher er die Philippi und Sivers beur- theilet, diese Helden höchst lächerlich gemacht. Jn der Comödie kann dieses zur Demüthigung der Nar- ren von sehr großer Würkung seyn. Denn was ist empfindlicher, als von der Einfalt selbst lächerlich gemacht zu werden?
Jch begnüge mich hier mit diesen wenigen An- merkungen über das Naive, um das Vergnügen zu haben, hier einen Aufsaz über diese Materie einzu- rüken, den mir einer unsrer ersten Köpfe vor vielen Jahren zu diesem Behuf zugeschikt hat. Der izt berühmte Verfasser, schrieb ihn zu einer Zeit, da er noch jung war; aber man wird ohne Mühe da- rin das sich entwikelnde Genie antreffen, welches gegenwärtig sich in seinem vollen Glanze zeiget. Hier ist er Wort für Wort.
Jch wundere mich nicht daß der Brief über die Naivete im 3ten Theil des Cours des Belles-Lettres des Abts Batteux ihnen so wenig als das, was Bou- hours vom Naiven sagt, ein Genüge gethan hat. Alles was Herr Batteux über diese Materie ge- schrieben hat, dienet vortreflich sie noch verworrener zu machen, als sie dem Leser vorher hat seyn kön- nen. Statt bestimmter Begriffe werden wir mit Bildern, Gleichnissen und Gegensäzen abgefertiget; und wenn wir eine Erklärung verlangen, so ant- wortet man uns: die Naivetät bestehet in der [Spaltenumbruch]
Nai
Kürze -- in einer solchen Anordnung der Worte, Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Reden- den gemäß ist. Nach der lezten Erklärung sehe ich nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten nicht eben so naiv seyn mögen, als die Briefe der Sevigne oder der schönen Zilia. Jch will mich die Schwierigkeit, die von der Zärtlichkeit dieser Materie entsteht, nicht abhalten lassen, einen Versuch zu ma- chen sie genauer zu behandeln, und die Quelle und eigentliche Beschaffenheit des Naiven aufzusuchen. Es wird alsdenn leicht seyn, das Naive des Aus- druks zu bestimmen, wenn wir erst ausgemacht haben, was die Naivete der Gedanken ist. Jch werde aber mit meiner Untersuchung weit oben an- fangen müssen.
Die Rede soll eigentlich ein getreuer Ausdruk unsrer Empfindungen und Gedanken seyn. Die ersten Menschen haben bey ihren Reden keinen an- dern Zwek haben können, als einander ihre Gedan- ken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kin- der die angeschafne Unschuld bewahret hätten, so wäre die Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Her- zen vorgegangen wäre, und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, daß die Spra- che von den izigen Menschen meistentheils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken noch empfinden, so daß die Rede demnach sehr selten ein Zeichen ihrer Gedanken ist. Diese große Verände- rung, muß unstreitig die Folge einer wichtigen Ver- änderung im Jnnwendigen der Menschen seyn. Diese müssen Empfindungen, Gedanken und Absich- ten haben, welche sie einander nicht zeigen dürfen. Jn der That ist die menschliche Natur von ihrer Be- stimmung und schönen Anlage so stark abgewichen, daß in dem Jnnern des Menschen, an die Stelle der liebenswürdigsten Neigungen, anstatt der Un- schuld, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Menschenliebe -- Boßheit, Unbilligkeit, Unmäßigkeit, Neid und Haß getreten; und im Aeusserlichen die Einfalt dem Ge- zwungenen, die Offenherzigkeit der Verstellung, die Zärtlichkeit der kaltsiunigen Höflichkeit hat weichen müssen. So bald die Menschen von einander be- trogen worden, muste sich ein allgemeines Miß- trauen unter ihnen zeigen. Weil sie aber doch in Gesellschaft zu leben sich gemüßiget sahen, so er- fanden sie allerley Mittel sich einander zu verbergen,
sich
(*)V. Pseudol. Act. I. sc. 1
G g g g g 2
[Spaltenumbruch]
Nai
den er durch ſein vieles Fragen verdrießlich gemacht hat, folgende Antwort:
Si ex te tacente fieri poſſem certior Here, quæ miſeriæ te tam miſere macerant Duorum labori ego hominum parſiſſem lubens, Mei te rogandi et tui reſpondendi mihi. Nunc queniam id fieri non poteſt, neceſſitas Me ſubigit ut te rogitem.(*)
Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann verſichert ſeyn, daß er uͤberzeuget. Dieſer Ton iſt vornehmlich in der aͤſopiſchen Fabel nothwendig, wo der Dichter ofte die Perſon eines einfaͤltigen und leichtglaͤubigen Menſchen annehmen muß, um ſei- nen Leſer treuherzig zu machen.
Es giebt auch eine ſchalkhafte angenommene Nai- vitaͤt die in der ſpottenden Satyre ungemein gute Wuͤrkung thut, das Laͤcherliche andrer recht ans Licht zu bringen. Swifft iſt darin der groͤßte Mei- ſter, und Liſcov hat mit der verſtellten naiven Ein- falt, mit welcher er die Philippi und Sivers beur- theilet, dieſe Helden hoͤchſt laͤcherlich gemacht. Jn der Comoͤdie kann dieſes zur Demuͤthigung der Nar- ren von ſehr großer Wuͤrkung ſeyn. Denn was iſt empfindlicher, als von der Einfalt ſelbſt laͤcherlich gemacht zu werden?
Jch begnuͤge mich hier mit dieſen wenigen An- merkungen uͤber das Naive, um das Vergnuͤgen zu haben, hier einen Aufſaz uͤber dieſe Materie einzu- ruͤken, den mir einer unſrer erſten Koͤpfe vor vielen Jahren zu dieſem Behuf zugeſchikt hat. Der izt beruͤhmte Verfaſſer, ſchrieb ihn zu einer Zeit, da er noch jung war; aber man wird ohne Muͤhe da- rin das ſich entwikelnde Genie antreffen, welches gegenwaͤrtig ſich in ſeinem vollen Glanze zeiget. Hier iſt er Wort fuͤr Wort.
Jch wundere mich nicht daß der Brief uͤber die Naivete im 3ten Theil des Cours des Belles-Lettres des Abts Batteux ihnen ſo wenig als das, was Bou- hours vom Naiven ſagt, ein Genuͤge gethan hat. Alles was Herr Batteux uͤber dieſe Materie ge- ſchrieben hat, dienet vortreflich ſie noch verworrener zu machen, als ſie dem Leſer vorher hat ſeyn koͤn- nen. Statt beſtimmter Begriffe werden wir mit Bildern, Gleichniſſen und Gegenſaͤzen abgefertiget; und wenn wir eine Erklaͤrung verlangen, ſo ant- wortet man uns: die Naivetaͤt beſtehet in der [Spaltenumbruch]
Nai
Kuͤrze — in einer ſolchen Anordnung der Worte, Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Reden- den gemaͤß iſt. Nach der lezten Erklaͤrung ſehe ich nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten nicht eben ſo naiv ſeyn moͤgen, als die Briefe der Sevigne oder der ſchoͤnen Zilia. Jch will mich die Schwierigkeit, die von der Zaͤrtlichkeit dieſer Materie entſteht, nicht abhalten laſſen, einen Verſuch zu ma- chen ſie genauer zu behandeln, und die Quelle und eigentliche Beſchaffenheit des Naiven aufzuſuchen. Es wird alsdenn leicht ſeyn, das Naive des Aus- druks zu beſtimmen, wenn wir erſt ausgemacht haben, was die Naivete der Gedanken iſt. Jch werde aber mit meiner Unterſuchung weit oben an- fangen muͤſſen.
Die Rede ſoll eigentlich ein getreuer Ausdruk unſrer Empfindungen und Gedanken ſeyn. Die erſten Menſchen haben bey ihren Reden keinen an- dern Zwek haben koͤnnen, als einander ihre Gedan- ken bekannt zu machen, und wenn ſie und ihre Kin- der die angeſchafne Unſchuld bewahret haͤtten, ſo waͤre die Rede nach ihrer wahren Beſtimmung ein offenherziges Bild deſſen, was in eines jeden Her- zen vorgegangen waͤre, und ein Mittel geweſen, Freundſchaft und Zaͤrtlichkeit unter den Menſchen zu unterhalten. Jedermann weiß, daß die Spra- che von den izigen Menſchen meiſtentheils gebraucht wird, andern zu ſagen, was ſie nicht denken noch empfinden, ſo daß die Rede demnach ſehr ſelten ein Zeichen ihrer Gedanken iſt. Dieſe große Veraͤnde- rung, muß unſtreitig die Folge einer wichtigen Ver- aͤnderung im Jnnwendigen der Menſchen ſeyn. Dieſe muͤſſen Empfindungen, Gedanken und Abſich- ten haben, welche ſie einander nicht zeigen duͤrfen. Jn der That iſt die menſchliche Natur von ihrer Be- ſtimmung und ſchoͤnen Anlage ſo ſtark abgewichen, daß in dem Jnnern des Menſchen, an die Stelle der liebenswuͤrdigſten Neigungen, anſtatt der Un- ſchuld, Gerechtigkeit, Maͤßigkeit, Menſchenliebe — Boßheit, Unbilligkeit, Unmaͤßigkeit, Neid und Haß getreten; und im Aeuſſerlichen die Einfalt dem Ge- zwungenen, die Offenherzigkeit der Verſtellung, die Zaͤrtlichkeit der kaltſiunigen Hoͤflichkeit hat weichen muͤſſen. So bald die Menſchen von einander be- trogen worden, muſte ſich ein allgemeines Miß- trauen unter ihnen zeigen. Weil ſie aber doch in Geſellſchaft zu leben ſich gemuͤßiget ſahen, ſo er- fanden ſie allerley Mittel ſich einander zu verbergen,
ſich
(*)V. Pſeudol. Act. I. ſc. 1
G g g g g 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0222"n="805[787]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Nai</hi></fw><lb/>
den er durch ſein vieles Fragen verdrießlich gemacht<lb/>
hat, folgende Antwort:</p><lb/><cit><quote><hirendition="#aq">Si ex te tacente fieri poſſem certior<lb/>
Here, quæ miſeriæ te tam miſere macerant<lb/>
Duorum labori ego hominum parſiſſem lubens,<lb/>
Mei te rogandi et tui reſpondendi mihi.<lb/>
Nunc queniam id fieri non poteſt, neceſſitas<lb/>
Me ſubigit ut te rogitem.</hi><noteplace="foot"n="(*)"><hirendition="#aq">V.<lb/>
Pſeudol.<lb/>
Act. I. ſc.</hi> 1</note></quote></cit><lb/><p>Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der<lb/>
Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann<lb/>
verſichert ſeyn, daß er uͤberzeuget. Dieſer Ton<lb/>
iſt vornehmlich in der aͤſopiſchen Fabel nothwendig,<lb/>
wo der Dichter ofte die Perſon eines einfaͤltigen und<lb/>
leichtglaͤubigen Menſchen annehmen muß, um ſei-<lb/>
nen Leſer treuherzig zu machen.</p><lb/><p>Es giebt auch eine ſchalkhafte angenommene Nai-<lb/>
vitaͤt die in der ſpottenden Satyre ungemein gute<lb/>
Wuͤrkung thut, das Laͤcherliche andrer recht ans<lb/>
Licht zu bringen. <hirendition="#fr">Swifft</hi> iſt darin der groͤßte Mei-<lb/>ſter, und <hirendition="#fr">Liſcov</hi> hat mit der verſtellten naiven Ein-<lb/>
falt, mit welcher er die Philippi und Sivers beur-<lb/>
theilet, dieſe Helden hoͤchſt laͤcherlich gemacht. Jn<lb/>
der Comoͤdie kann dieſes zur Demuͤthigung der Nar-<lb/>
ren von ſehr großer Wuͤrkung ſeyn. Denn was iſt<lb/>
empfindlicher, als von der Einfalt ſelbſt laͤcherlich<lb/>
gemacht zu werden?</p><lb/><p>Jch begnuͤge mich hier mit dieſen wenigen An-<lb/>
merkungen uͤber das Naive, um das Vergnuͤgen zu<lb/>
haben, hier einen Aufſaz uͤber dieſe Materie einzu-<lb/>
ruͤken, den mir einer unſrer erſten Koͤpfe vor vielen<lb/>
Jahren zu dieſem Behuf zugeſchikt hat. Der izt<lb/>
beruͤhmte Verfaſſer, ſchrieb ihn zu einer Zeit, da<lb/>
er noch jung war; aber man wird ohne Muͤhe da-<lb/>
rin das ſich entwikelnde Genie antreffen, welches<lb/>
gegenwaͤrtig ſich in ſeinem vollen Glanze zeiget.<lb/>
Hier iſt er Wort fuͤr Wort.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Jch wundere mich nicht daß der Brief uͤber die<lb/>
Naivete im 3ten Theil des <hirendition="#aq">Cours des Belles-Lettres</hi><lb/>
des Abts Batteux ihnen ſo wenig als das, was Bou-<lb/>
hours vom Naiven ſagt, ein Genuͤge gethan hat.<lb/>
Alles was Herr Batteux uͤber dieſe Materie ge-<lb/>ſchrieben hat, dienet vortreflich ſie noch verworrener<lb/>
zu machen, als ſie dem Leſer vorher hat ſeyn koͤn-<lb/>
nen. Statt beſtimmter Begriffe werden wir mit<lb/>
Bildern, Gleichniſſen und Gegenſaͤzen abgefertiget;<lb/>
und wenn wir eine Erklaͤrung verlangen, ſo ant-<lb/>
wortet man uns: die Naivetaͤt beſtehet in der<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Nai</hi></fw><lb/>
Kuͤrze — in einer ſolchen Anordnung der Worte,<lb/>
Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Reden-<lb/>
den gemaͤß iſt. Nach der lezten Erklaͤrung ſehe ich<lb/>
nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten<lb/>
nicht eben ſo naiv ſeyn moͤgen, als die Briefe der<lb/>
Sevigne oder der ſchoͤnen Zilia. Jch will mich die<lb/>
Schwierigkeit, die von der Zaͤrtlichkeit dieſer Materie<lb/>
entſteht, nicht abhalten laſſen, einen Verſuch zu ma-<lb/>
chen ſie genauer zu behandeln, und die Quelle und<lb/>
eigentliche Beſchaffenheit des Naiven aufzuſuchen.<lb/>
Es wird alsdenn leicht ſeyn, das Naive des Aus-<lb/>
druks zu beſtimmen, wenn wir erſt ausgemacht<lb/>
haben, was die Naivete der Gedanken iſt. Jch<lb/>
werde aber mit meiner Unterſuchung weit oben an-<lb/>
fangen muͤſſen.</p><lb/><p>Die Rede ſoll eigentlich ein getreuer Ausdruk<lb/>
unſrer Empfindungen und Gedanken ſeyn. Die<lb/>
erſten Menſchen haben bey ihren Reden keinen an-<lb/>
dern Zwek haben koͤnnen, als einander ihre Gedan-<lb/>
ken bekannt zu machen, und wenn ſie und ihre Kin-<lb/>
der die angeſchafne Unſchuld bewahret haͤtten, ſo<lb/>
waͤre die Rede nach ihrer wahren Beſtimmung ein<lb/>
offenherziges Bild deſſen, was in eines jeden Her-<lb/>
zen vorgegangen waͤre, und ein Mittel geweſen,<lb/>
Freundſchaft und Zaͤrtlichkeit unter den Menſchen<lb/>
zu unterhalten. Jedermann weiß, daß die Spra-<lb/>
che von den izigen Menſchen meiſtentheils gebraucht<lb/>
wird, andern zu ſagen, was ſie nicht denken noch<lb/>
empfinden, ſo daß die Rede demnach ſehr ſelten ein<lb/>
Zeichen ihrer Gedanken iſt. Dieſe große Veraͤnde-<lb/>
rung, muß unſtreitig die Folge einer wichtigen Ver-<lb/>
aͤnderung im Jnnwendigen der Menſchen ſeyn.<lb/>
Dieſe muͤſſen Empfindungen, Gedanken und Abſich-<lb/>
ten haben, welche ſie einander nicht zeigen duͤrfen.<lb/>
Jn der That iſt die menſchliche Natur von ihrer Be-<lb/>ſtimmung und ſchoͤnen Anlage ſo ſtark abgewichen,<lb/>
daß in dem Jnnern des Menſchen, an die Stelle<lb/>
der liebenswuͤrdigſten Neigungen, anſtatt der Un-<lb/>ſchuld, Gerechtigkeit, Maͤßigkeit, Menſchenliebe —<lb/>
Boßheit, Unbilligkeit, Unmaͤßigkeit, Neid und Haß<lb/>
getreten; und im Aeuſſerlichen die Einfalt dem Ge-<lb/>
zwungenen, die Offenherzigkeit der Verſtellung, die<lb/>
Zaͤrtlichkeit der kaltſiunigen Hoͤflichkeit hat weichen<lb/>
muͤſſen. So bald die Menſchen von einander be-<lb/>
trogen worden, muſte ſich ein allgemeines Miß-<lb/>
trauen unter ihnen zeigen. Weil ſie aber doch in<lb/>
Geſellſchaft zu leben ſich gemuͤßiget ſahen, ſo er-<lb/>
fanden ſie allerley Mittel ſich einander zu verbergen,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G g g g g 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſich</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[805[787]/0222]
Nai
Nai
den er durch ſein vieles Fragen verdrießlich gemacht
hat, folgende Antwort:
Si ex te tacente fieri poſſem certior
Here, quæ miſeriæ te tam miſere macerant
Duorum labori ego hominum parſiſſem lubens,
Mei te rogandi et tui reſpondendi mihi.
Nunc queniam id fieri non poteſt, neceſſitas
Me ſubigit ut te rogitem. (*)
Der Redner, dem es gelinget den wahren Ton der
Einfalt und des naiven Denkens zu treffen, kann
verſichert ſeyn, daß er uͤberzeuget. Dieſer Ton
iſt vornehmlich in der aͤſopiſchen Fabel nothwendig,
wo der Dichter ofte die Perſon eines einfaͤltigen und
leichtglaͤubigen Menſchen annehmen muß, um ſei-
nen Leſer treuherzig zu machen.
Es giebt auch eine ſchalkhafte angenommene Nai-
vitaͤt die in der ſpottenden Satyre ungemein gute
Wuͤrkung thut, das Laͤcherliche andrer recht ans
Licht zu bringen. Swifft iſt darin der groͤßte Mei-
ſter, und Liſcov hat mit der verſtellten naiven Ein-
falt, mit welcher er die Philippi und Sivers beur-
theilet, dieſe Helden hoͤchſt laͤcherlich gemacht. Jn
der Comoͤdie kann dieſes zur Demuͤthigung der Nar-
ren von ſehr großer Wuͤrkung ſeyn. Denn was iſt
empfindlicher, als von der Einfalt ſelbſt laͤcherlich
gemacht zu werden?
Jch begnuͤge mich hier mit dieſen wenigen An-
merkungen uͤber das Naive, um das Vergnuͤgen zu
haben, hier einen Aufſaz uͤber dieſe Materie einzu-
ruͤken, den mir einer unſrer erſten Koͤpfe vor vielen
Jahren zu dieſem Behuf zugeſchikt hat. Der izt
beruͤhmte Verfaſſer, ſchrieb ihn zu einer Zeit, da
er noch jung war; aber man wird ohne Muͤhe da-
rin das ſich entwikelnde Genie antreffen, welches
gegenwaͤrtig ſich in ſeinem vollen Glanze zeiget.
Hier iſt er Wort fuͤr Wort.
Jch wundere mich nicht daß der Brief uͤber die
Naivete im 3ten Theil des Cours des Belles-Lettres
des Abts Batteux ihnen ſo wenig als das, was Bou-
hours vom Naiven ſagt, ein Genuͤge gethan hat.
Alles was Herr Batteux uͤber dieſe Materie ge-
ſchrieben hat, dienet vortreflich ſie noch verworrener
zu machen, als ſie dem Leſer vorher hat ſeyn koͤn-
nen. Statt beſtimmter Begriffe werden wir mit
Bildern, Gleichniſſen und Gegenſaͤzen abgefertiget;
und wenn wir eine Erklaͤrung verlangen, ſo ant-
wortet man uns: die Naivetaͤt beſtehet in der
Kuͤrze — in einer ſolchen Anordnung der Worte,
Glieder und Perioden, die dem Endzwek des Reden-
den gemaͤß iſt. Nach der lezten Erklaͤrung ſehe ich
nicht warum die Reden eines Parlamentsadvocaten
nicht eben ſo naiv ſeyn moͤgen, als die Briefe der
Sevigne oder der ſchoͤnen Zilia. Jch will mich die
Schwierigkeit, die von der Zaͤrtlichkeit dieſer Materie
entſteht, nicht abhalten laſſen, einen Verſuch zu ma-
chen ſie genauer zu behandeln, und die Quelle und
eigentliche Beſchaffenheit des Naiven aufzuſuchen.
Es wird alsdenn leicht ſeyn, das Naive des Aus-
druks zu beſtimmen, wenn wir erſt ausgemacht
haben, was die Naivete der Gedanken iſt. Jch
werde aber mit meiner Unterſuchung weit oben an-
fangen muͤſſen.
Die Rede ſoll eigentlich ein getreuer Ausdruk
unſrer Empfindungen und Gedanken ſeyn. Die
erſten Menſchen haben bey ihren Reden keinen an-
dern Zwek haben koͤnnen, als einander ihre Gedan-
ken bekannt zu machen, und wenn ſie und ihre Kin-
der die angeſchafne Unſchuld bewahret haͤtten, ſo
waͤre die Rede nach ihrer wahren Beſtimmung ein
offenherziges Bild deſſen, was in eines jeden Her-
zen vorgegangen waͤre, und ein Mittel geweſen,
Freundſchaft und Zaͤrtlichkeit unter den Menſchen
zu unterhalten. Jedermann weiß, daß die Spra-
che von den izigen Menſchen meiſtentheils gebraucht
wird, andern zu ſagen, was ſie nicht denken noch
empfinden, ſo daß die Rede demnach ſehr ſelten ein
Zeichen ihrer Gedanken iſt. Dieſe große Veraͤnde-
rung, muß unſtreitig die Folge einer wichtigen Ver-
aͤnderung im Jnnwendigen der Menſchen ſeyn.
Dieſe muͤſſen Empfindungen, Gedanken und Abſich-
ten haben, welche ſie einander nicht zeigen duͤrfen.
Jn der That iſt die menſchliche Natur von ihrer Be-
ſtimmung und ſchoͤnen Anlage ſo ſtark abgewichen,
daß in dem Jnnern des Menſchen, an die Stelle
der liebenswuͤrdigſten Neigungen, anſtatt der Un-
ſchuld, Gerechtigkeit, Maͤßigkeit, Menſchenliebe —
Boßheit, Unbilligkeit, Unmaͤßigkeit, Neid und Haß
getreten; und im Aeuſſerlichen die Einfalt dem Ge-
zwungenen, die Offenherzigkeit der Verſtellung, die
Zaͤrtlichkeit der kaltſiunigen Hoͤflichkeit hat weichen
muͤſſen. So bald die Menſchen von einander be-
trogen worden, muſte ſich ein allgemeines Miß-
trauen unter ihnen zeigen. Weil ſie aber doch in
Geſellſchaft zu leben ſich gemuͤßiget ſahen, ſo er-
fanden ſie allerley Mittel ſich einander zu verbergen,
ſich
(*) V.
Pſeudol.
Act. I. ſc. 1
G g g g g 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 805[787]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/222>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.