Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Ode fallen möchte, zu singen: er läßt uns nicht merken,warum er diesen Wunsch äußert. Gleich dünkt ihn er höre den Gesang der Muse, die gekommen sey und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber izt erzählt er uns, wie er in seiner Kindheit, als er in einer Wildnis herumschweiffend eingeschlafen, von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um vor Schlangen und wilden Thieren sicher zu liegen. Doch scheinet er uns merken zu lassen, daß er diese Wolthat den Musen, seinen Schuzgöttinnen zu dan- ken habe. Denn fährt er voll Empfindung fort die Musen, für seine Beschüzerinnen zu erkennen, mit denen er bald auf einem, bald auf einem andern seiner Landgüter sicher herumirret. Jhnen verdankt ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi umgekommen, noch von dem umgestürzten Baum erschlagen worden. Darum will er, von ihnen be- gleitet, in die entferntesten fruchtbaresten Länder rei- sen, und sich unter die wildesten Völker wagen. Nun kommt er plözlich auf den Cäsar und sagt, daß er nach unzähligen vollbrachten Arbeiten des Krieges, da er izt die Ruhe sucht, sie im geheimen Umgange mit den Musen sinde, rühmet sie, daß sie Lust daran haben, ihm gelinde Rathschläge einzuflößen. Denn kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er sich lang aufhält, und scheinet uns lehren zu wollen, daß Jupiter von der Pallas unterstüzt, einen leich- ten Sieg über sie erhalten, obgleich eine fürchterli- che Macht gegen ihn gestanden. Dieses leitet ihn auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue- berlegung unmächtig, hingegen mittelmäßige Stärke durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Götter gewinne, und von großer Würkung sey. Denn lobt er auch von den Göttern, daß sie alle Macht, die auf Unrecht abziehlt, verabscheuhen, und erwäh- net zur Bestätigung dieser Anmerkung die Strafen, die den hundertarmigen Gyges, oder Briaräus, den verwegenen Orion, den Typhöeus, den Tityus und den Pirithous betroffen. -- Und damit ist die Ode zu Ende. Hier kann man kaum errathen, was für ein Ge- Ode zulösen; so sehr verstekt ist ofte der Plan des Oden-dichters. Weil es doch überhaupt einiges Licht über die Cäsar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit Die feyerliche Anrufung der Colliope, ist schon ge-
[Spaltenumbruch] Ode fallen moͤchte, zu ſingen: er laͤßt uns nicht merken,warum er dieſen Wunſch aͤußert. Gleich duͤnkt ihn er hoͤre den Geſang der Muſe, die gekommen ſey und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber izt erzaͤhlt er uns, wie er in ſeiner Kindheit, als er in einer Wildnis herumſchweiffend eingeſchlafen, von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um vor Schlangen und wilden Thieren ſicher zu liegen. Doch ſcheinet er uns merken zu laſſen, daß er dieſe Wolthat den Muſen, ſeinen Schuzgoͤttinnen zu dan- ken habe. Denn faͤhrt er voll Empfindung fort die Muſen, fuͤr ſeine Beſchuͤzerinnen zu erkennen, mit denen er bald auf einem, bald auf einem andern ſeiner Landguͤter ſicher herumirret. Jhnen verdankt ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi umgekommen, noch von dem umgeſtuͤrzten Baum erſchlagen worden. Darum will er, von ihnen be- gleitet, in die entfernteſten fruchtbareſten Laͤnder rei- ſen, und ſich unter die wildeſten Voͤlker wagen. Nun kommt er ploͤzlich auf den Caͤſar und ſagt, daß er nach unzaͤhligen vollbrachten Arbeiten des Krieges, da er izt die Ruhe ſucht, ſie im geheimen Umgange mit den Muſen ſinde, ruͤhmet ſie, daß ſie Luſt daran haben, ihm gelinde Rathſchlaͤge einzufloͤßen. Denn kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er ſich lang aufhaͤlt, und ſcheinet uns lehren zu wollen, daß Jupiter von der Pallas unterſtuͤzt, einen leich- ten Sieg uͤber ſie erhalten, obgleich eine fuͤrchterli- che Macht gegen ihn geſtanden. Dieſes leitet ihn auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue- berlegung unmaͤchtig, hingegen mittelmaͤßige Staͤrke durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Goͤtter gewinne, und von großer Wuͤrkung ſey. Denn lobt er auch von den Goͤttern, daß ſie alle Macht, die auf Unrecht abziehlt, verabſcheuhen, und erwaͤh- net zur Beſtaͤtigung dieſer Anmerkung die Strafen, die den hundertarmigen Gyges, oder Briaraͤus, den verwegenen Orion, den Typhoͤeus, den Tityus und den Pirithous betroffen. — Und damit iſt die Ode zu Ende. Hier kann man kaum errathen, was fuͤr ein Ge- Ode zuloͤſen; ſo ſehr verſtekt iſt ofte der Plan des Oden-dichters. Weil es doch uͤberhaupt einiges Licht uͤber die Caͤſar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit Die feyerliche Anrufung der Colliope, iſt ſchon ge-
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Ode
Ode
fallen moͤchte, zu ſingen: er laͤßt uns nicht merken,
warum er dieſen Wunſch aͤußert. Gleich duͤnkt ihn
er hoͤre den Geſang der Muſe, die gekommen ſey
und nun in heiligen Haynen herumirre. Aber
izt erzaͤhlt er uns, wie er in ſeiner Kindheit, als er
in einer Wildnis herumſchweiffend eingeſchlafen,
von wilden Tauben mit Laub bedekt worden, um
vor Schlangen und wilden Thieren ſicher zu liegen.
Doch ſcheinet er uns merken zu laſſen, daß er dieſe
Wolthat den Muſen, ſeinen Schuzgoͤttinnen zu dan-
ken habe. Denn faͤhrt er voll Empfindung fort die
Muſen, fuͤr ſeine Beſchuͤzerinnen zu erkennen, mit
denen er bald auf einem, bald auf einem andern
ſeiner Landguͤter ſicher herumirret. Jhnen verdankt
ers, daß er weder in der Niederlage bey Philippi
umgekommen, noch von dem umgeſtuͤrzten Baum
erſchlagen worden. Darum will er, von ihnen be-
gleitet, in die entfernteſten fruchtbareſten Laͤnder rei-
ſen, und ſich unter die wildeſten Voͤlker wagen.
Nun kommt er ploͤzlich auf den Caͤſar und ſagt, daß
er nach unzaͤhligen vollbrachten Arbeiten des Krieges,
da er izt die Ruhe ſucht, ſie im geheimen Umgange
mit den Muſen ſinde, ruͤhmet ſie, daß ſie Luſt daran
haben, ihm gelinde Rathſchlaͤge einzufloͤßen. Denn
kommt er auf den Krieg der Titanen, bey dem er
ſich lang aufhaͤlt, und ſcheinet uns lehren zu wollen,
daß Jupiter von der Pallas unterſtuͤzt, einen leich-
ten Sieg uͤber ſie erhalten, obgleich eine fuͤrchterli-
che Macht gegen ihn geſtanden. Dieſes leitet ihn
auf die wichtige Bemerkung, daß Macht, ohne Ue-
berlegung unmaͤchtig, hingegen mittelmaͤßige Staͤrke
durch kluges Ueberlegen, den Seegen der Goͤtter
gewinne, und von großer Wuͤrkung ſey. Denn
lobt er auch von den Goͤttern, daß ſie alle Macht,
die auf Unrecht abziehlt, verabſcheuhen, und erwaͤh-
net zur Beſtaͤtigung dieſer Anmerkung die Strafen,
die den hundertarmigen Gyges, oder Briaraͤus,
den verwegenen Orion, den Typhoͤeus, den Tityus
und den Pirithous betroffen. — Und damit iſt die
Ode zu Ende.
Hier kann man kaum errathen, was fuͤr ein Ge-
genſtand, oder was fuͤr ein Gedanken den Dichter
ſo lebhaft geruͤhrt hat, daß er in einem ſo feurigen
Ton, erſt die Colliope vom Himmel ruft, denn ſo
ſehr gegen einander abſtechende Vorſtellungen in die-
ſem Geſang vereiniget. Von den Auslegern des
Horaz, ſagt einer dieſes, ein andrer etwas anderes,
und einige getrauen ſich gar nicht das Raͤthſel auf-
zuloͤſen; ſo ſehr verſtekt iſt ofte der Plan des Oden-
dichters.
Weil es doch uͤberhaupt einiges Licht uͤber die
Theorie der im Plan ſehr verſtekten Ode verbreiten
kann, ſo will ich meine Gedanken uͤber die Veran-
laſſung und den Plan dieſer Ode, hieher zu ſezen wa-
gen, den Baxter, wie hoͤhniſch auch unſer ſonſt fuͤr-
trefliche Geßner dabey laͤchelt, wie mich duͤnkt, we-
nigſtens zur Haͤlfte errathen hat.
Caͤſar hatte nun alle Vertheidiger der Freyheit
und zulezt auch ſeine Mittyrannen uͤberwunden, und
war allein Herr uͤber alles. Horaz mochte in einer
vertraulichen Stunde mit einem Freund, vielleicht
dem Mecaͤnas, uͤber die Lage der Sachen ſich unter-
redet haben: dabey kann einem von ihnen der Gedan-
ken aufgeſtoßen ſeyn, daß dieſe, auf ſo große Macht ge-
gruͤndete Herrſchaft, vielleicht doch nicht ſicher genug
ſey. Dieſe Vorſtellung ruͤhrte den Dichter auf das
lebhafteſte, und dazu war freylich die Sache wichtig
genug. Nun faͤllt ihm ein, wie dieſer Herrſchaft
eine voͤllige Sicherheit zu verſchaffen waͤre. Caͤſar
muͤßte die Kuͤnſte der Muſen in Flor bringen, dabey
ſich durchaus einer gelinden Regierung befleißen,
und alles mit großer, aber wahrhaftig weiſer Ueber-
legung veranſtalten. Es ſey nun, daß der Dichter
ſeine Gedanken hieruͤber blos ſeinem Freund zu er-
oͤffnen, oder gar den Caͤſar ſelbſt errathen zu laſſen,
ſich vorgeſezt habe, ſo war allemal die Sache hoͤchſt
bedenklich, und konnte weder allzudeutlich, noch ge-
radezu geſagt werden. Darum nimmt der Dich-
ter einen großen Umweg, und uͤberlaͤßt dem, fuͤr
welchen die Ode geſchrieben worden, zu errathen,
was er damit habe ſagen wollen.
Die feyerliche Anrufung der Colliope, iſt ſchon
zweydeutig: man konnte ſie auslegen, daß der Dich-
ter die Goͤttin um ihren Beyſtand fuͤr dieſen Geſang
anrufte; aber er meinte es ſo, ſie ſoll kommen, um
mit allen Reizungen ihrer Geſaͤnge dem Caͤſar bey-
zuſtehen, und durch Ermunterung vieler Dichter,
ſeinen Zeiten Glanz und mannigfaltige Annehmlich-
keit zu geben. Er ſieht auch den Anfang dieſer guten
Zeit: aber er will nicht zu offenbar ſprechen, er
kommt ploͤzlich auf ſich ſelbſt zuruͤke, ohne den Haupt-
gedanken fahren zu laſſen, und erzaͤhlt, oder erdich-
tet, wie die Muſen ihn, weil ein Dichter aus ihm
werden ſollte, beſchuͤzt haben, und noch beſchuͤzen.
Dieſes iſt eine Art Allegorie, wodurch er zu verſte-
hen giebt, daß der, der nichts gefaͤhrliches, nichts
ge-
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