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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ode
gewaltthätiges gegen andre im Sinne hat, son-
dern, wie ein unschuldiger Dichter, blos sich zu ergö-
zen sucht, sonst keine Ansprüche macht, und jedem
seine Art läßt, auch nie etwas zu befürchten habe.
Dieses drükt er sehr poetisch aus, daß die Musen
ihm sichern Schuz angedeyen lassen. Damit bestä-
tiget er zwey Säze auf einmal; den, daß eine an-
genehme Regierung sicher sey, und den, daß der
Regent wenigstens den Schein annehmen soll, als
wenn er gegen Niemand etwas gewaltthätiges im
Sinn habe. Nun kommt er wieder ganz natürlich
und ohne Sprung, ob es gleich so scheinet, auf den
Cäsar, der auch in diesem Fall sey, weil er sich auch
mit den Musen beschäftiget, die ihm deswegen Mä-
ßigung und Gelindigkeit einflößen. Nun giebt er
einen noch offenbaren Wink, um durch eine neue
Allegorie zu zeigen, wie es würklich leicht sey, mit
Ueberlegung und Weißheit, selbst gegen die Aufleh-
nung einer noch größern Macht sich in Sicherheit
zu sezen, und allenfalls die Aufrührer, die insge-
mein sich ihrer Macht auf eine unbesonnene Weise
bedienen, zu zähmen. Endlich giebt er noch eben
so verdekt und allegorisch den Rath, durch eine ge-
rechte und billige Staatsverwaltung, die Götter für
die neue Regierung zu intereßiren, die alle auf Un-
recht gehende Gewalt verabscheuhen und bestrafen.

Dieses ist überhaupt der Weg, den der Dichter
gerne nihmt, um von sehr bedenklichen und gefährli-
chen Dingen mit Behutsamkeit zu sprechen, und da-
rin gleichet er dem Solon, der sich närrisch anstellte,
um dem atheniensischen Volk einen dem Staate nüz-
lichen Rath zu geben, den er ohne Lebensgefahr, ge-
radezu nicht geben durfte.

Wir haben die verschiedenen Arten der Ode in
Absicht auf den Ton und den Plan oder Schwung
derselben betrachtet. Eben so ungleich ist sie sich
selbst auch in Ansehung des Jnhalts, oder der Ma-
terie, die sie bearbeitet. Sie hat überhaupt keinen
ihr eigenen Stoff. Jeder gemeine, oder erhabene
Gedanken, jeder Gegenstand von welcher Art er sey,
kann Stoff zur Ode geben; es kommt dabey blos
darauf an, mit welcher Lebhaftigkeit, in welcher
wichtigen Wendung, und in welchem hellen Lichte
der Dichter ihn gefaßt habe. Wer, wie Klop-
stok so feyerlich denkt, von Empfindung so ganz durch-
drungen wird, oder eine so hochfliegende Phantasie
hat, findet Stoff zur Ode, da, wo ein andrer kaum
zu einiger Aufmerksamkeit gereizt wird. Wer, als
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Ode
ein Mann von so einzigem Genie würde einen Stoff,
wie der in der Ode, Sponda, ich will nicht sagen in
so hohem feyerlichen, sondern nur in irgend einem
der Leyer, oder der Flöte anständigen Tone, haben
besingen können? Der wahre Odendichter sieht einen
Gegenstand, der mancherley liebliche Phantasien,
oder auch wichtige Vorstellungen, oder starke Empfin-
dung in ihm erwekt: tausend andere Menschen sehen
denselben Gegenstand, mit eben der Klarheit, und
denken nichts dabey. Des Dichters Kopf ist mit
einer Menge merkwürdiger Vorstellungen angefüllt,
die wie das Pulver sehr leichte Feuer fangen, und
auch andere daneben liegende schnell entzünden.

Der gewöhnlichste Stoff der Ode, der auch Dich-
ter von eben nicht ausserordentlichem Genie zum Sin-
gen erwekt, ist von leidenschaftlicher Art, und unter
diesen sind die Freude, die Bewunderung, und die
Liebe die gemeinesten. Die beyden erstern sind allen
Ansehen nach die ältesten Veranlassungen der Ode,
so wie sie es vermuthlich auch von Gesang und Tanz
sind, die allem Ansehen nach ursprünglich mit der
Ode verbunden gewesen. Der noch halb Wilde so
wie der noch unmündige Mensch äußert diese Leiden-
schaften durch Hüpfen, Frohloken und Jauchzen.
Ein feyerliches Trauren, das bey dem noch ganz
natürlichen Menschen in Heulen und Wehklagen
ausbricht, scheinet hienächst auch Oden veranlasset
haben; durch Nachahmung solcher von der Natur
selbst eingegeben Oden, ist der Stoff derselben man-
nigfaltiger worden.

Man kann überhaupt die Ode in Absicht auf ihre
Materie in dreyerley Arten eintheilen. Einige sind
betrachtend, und enthalten eine affektvolle Beschrei-
bung oder Erzählung der Eigenschaften des Ge-
gegenstandes der Ode; andre sind phantasiereich
und legen uns lebhafte Schilderungen von einer feue-
rigen Phantasie entworfen vor Augen; endlich ist
eine dritte Art empfindungsvoll. Am öftersten aber
ist dieser dreyfache Stoff in der Ode durchaus ver-
mischt. Zu der ersten Art rechnen wir die Hym-
nen und Lobgesänge, wovon wir die ältesten Muster
in den Büchern des Moses und in den hebräischen
Psalmen antreffen. Auch Pindars Oden gehören
zu dieser Art, wiewol sie in einem ganz andern Geist
gedichtet sind: insgemein aber sind sie nichts anders,
als höchst poetische Betrachtungen zum Lob gewisser
Personen, oder gewisser Sachen. Jn diesen Oden
zeigen die Dichter sich als Männer die urtheilen,

die

[Spaltenumbruch]

Ode
gewaltthaͤtiges gegen andre im Sinne hat, ſon-
dern, wie ein unſchuldiger Dichter, blos ſich zu ergoͤ-
zen ſucht, ſonſt keine Anſpruͤche macht, und jedem
ſeine Art laͤßt, auch nie etwas zu befuͤrchten habe.
Dieſes druͤkt er ſehr poetiſch aus, daß die Muſen
ihm ſichern Schuz angedeyen laſſen. Damit beſtaͤ-
tiget er zwey Saͤze auf einmal; den, daß eine an-
genehme Regierung ſicher ſey, und den, daß der
Regent wenigſtens den Schein annehmen ſoll, als
wenn er gegen Niemand etwas gewaltthaͤtiges im
Sinn habe. Nun kommt er wieder ganz natuͤrlich
und ohne Sprung, ob es gleich ſo ſcheinet, auf den
Caͤſar, der auch in dieſem Fall ſey, weil er ſich auch
mit den Muſen beſchaͤftiget, die ihm deswegen Maͤ-
ßigung und Gelindigkeit einfloͤßen. Nun giebt er
einen noch offenbaren Wink, um durch eine neue
Allegorie zu zeigen, wie es wuͤrklich leicht ſey, mit
Ueberlegung und Weißheit, ſelbſt gegen die Aufleh-
nung einer noch groͤßern Macht ſich in Sicherheit
zu ſezen, und allenfalls die Aufruͤhrer, die insge-
mein ſich ihrer Macht auf eine unbeſonnene Weiſe
bedienen, zu zaͤhmen. Endlich giebt er noch eben
ſo verdekt und allegoriſch den Rath, durch eine ge-
rechte und billige Staatsverwaltung, die Goͤtter fuͤr
die neue Regierung zu intereßiren, die alle auf Un-
recht gehende Gewalt verabſcheuhen und beſtrafen.

Dieſes iſt uͤberhaupt der Weg, den der Dichter
gerne nihmt, um von ſehr bedenklichen und gefaͤhrli-
chen Dingen mit Behutſamkeit zu ſprechen, und da-
rin gleichet er dem Solon, der ſich naͤrriſch anſtellte,
um dem athenienſiſchen Volk einen dem Staate nuͤz-
lichen Rath zu geben, den er ohne Lebensgefahr, ge-
radezu nicht geben durfte.

Wir haben die verſchiedenen Arten der Ode in
Abſicht auf den Ton und den Plan oder Schwung
derſelben betrachtet. Eben ſo ungleich iſt ſie ſich
ſelbſt auch in Anſehung des Jnhalts, oder der Ma-
terie, die ſie bearbeitet. Sie hat uͤberhaupt keinen
ihr eigenen Stoff. Jeder gemeine, oder erhabene
Gedanken, jeder Gegenſtand von welcher Art er ſey,
kann Stoff zur Ode geben; es kommt dabey blos
darauf an, mit welcher Lebhaftigkeit, in welcher
wichtigen Wendung, und in welchem hellen Lichte
der Dichter ihn gefaßt habe. Wer, wie Klop-
ſtok ſo feyerlich denkt, von Empfindung ſo ganz durch-
drungen wird, oder eine ſo hochfliegende Phantaſie
hat, findet Stoff zur Ode, da, wo ein andrer kaum
zu einiger Aufmerkſamkeit gereizt wird. Wer, als
[Spaltenumbruch]

Ode
ein Mann von ſo einzigem Genie wuͤrde einen Stoff,
wie der in der Ode, Sponda, ich will nicht ſagen in
ſo hohem feyerlichen, ſondern nur in irgend einem
der Leyer, oder der Floͤte anſtaͤndigen Tone, haben
beſingen koͤnnen? Der wahre Odendichter ſieht einen
Gegenſtand, der mancherley liebliche Phantaſien,
oder auch wichtige Vorſtellungen, oder ſtarke Empfin-
dung in ihm erwekt: tauſend andere Menſchen ſehen
denſelben Gegenſtand, mit eben der Klarheit, und
denken nichts dabey. Des Dichters Kopf iſt mit
einer Menge merkwuͤrdiger Vorſtellungen angefuͤllt,
die wie das Pulver ſehr leichte Feuer fangen, und
auch andere daneben liegende ſchnell entzuͤnden.

Der gewoͤhnlichſte Stoff der Ode, der auch Dich-
ter von eben nicht auſſerordentlichem Genie zum Sin-
gen erwekt, iſt von leidenſchaftlicher Art, und unter
dieſen ſind die Freude, die Bewunderung, und die
Liebe die gemeineſten. Die beyden erſtern ſind allen
Anſehen nach die aͤlteſten Veranlaſſungen der Ode,
ſo wie ſie es vermuthlich auch von Geſang und Tanz
ſind, die allem Anſehen nach urſpruͤnglich mit der
Ode verbunden geweſen. Der noch halb Wilde ſo
wie der noch unmuͤndige Menſch aͤußert dieſe Leiden-
ſchaften durch Huͤpfen, Frohloken und Jauchzen.
Ein feyerliches Trauren, das bey dem noch ganz
natuͤrlichen Menſchen in Heulen und Wehklagen
ausbricht, ſcheinet hienaͤchſt auch Oden veranlaſſet
haben; durch Nachahmung ſolcher von der Natur
ſelbſt eingegeben Oden, iſt der Stoff derſelben man-
nigfaltiger worden.

Man kann uͤberhaupt die Ode in Abſicht auf ihre
Materie in dreyerley Arten eintheilen. Einige ſind
betrachtend, und enthalten eine affektvolle Beſchrei-
bung oder Erzaͤhlung der Eigenſchaften des Ge-
gegenſtandes der Ode; andre ſind phantaſiereich
und legen uns lebhafte Schilderungen von einer feue-
rigen Phantaſie entworfen vor Augen; endlich iſt
eine dritte Art empfindungsvoll. Am oͤfterſten aber
iſt dieſer dreyfache Stoff in der Ode durchaus ver-
miſcht. Zu der erſten Art rechnen wir die Hym-
nen und Lobgeſaͤnge, wovon wir die aͤlteſten Muſter
in den Buͤchern des Moſes und in den hebraͤiſchen
Pſalmen antreffen. Auch Pindars Oden gehoͤren
zu dieſer Art, wiewol ſie in einem ganz andern Geiſt
gedichtet ſind: insgemein aber ſind ſie nichts anders,
als hoͤchſt poetiſche Betrachtungen zum Lob gewiſſer
Perſonen, oder gewiſſer Sachen. Jn dieſen Oden
zeigen die Dichter ſich als Maͤnner die urtheilen,

die
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 834[816]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/251>, abgerufen am 22.11.2024.