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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Oßi
seiner Abhandlung über die Oßianischen Gedichte,
als einen Anhang beygefügt hat. (+)

Wir haben also an Oßian einen wahren Barden,
nicht einen nachahmenden Dichter; er dichtete, und
sang, weil es sein Amt mit sich brachte: zu diesem
Amt aber hatte er, nicht blos einen äußerlichen, son-
dern einen noch weit ehrwürdigern, innerlichen Beruf
von der Natur selbst, die ihm das erfinderische, blu-
menreiche Genie und das empfindsame Herz gegeben
hatte, wodurch er auch ohne äußerlichen Beruf
ein Dichter würde gewesen seyn. Er nahm die
Harpfe nicht zum Zeitvertreib in die Hand, auch nicht
aus Ruhmbegierde sich einen Namen zu machen.
Zu seiner Zeit waren Musik und Poesie nicht Künste,
die ein Muße verschaffender Reichthum zu seinem
Zeitvertreib herbey ruft; sie waren öffentliche auf
das innigste mit der Politik und den Nationalsitten
vereinigte Anordnungen, deren unmittelbarer Zwek
die Ausbreitung der Tugend, und Erhaltung der
Freyheit war; Künste die einen wesentlichen Theil
der Maschine waren, wodurch der Nationalcharak-
ter verbessert, oder wenigstens in seiner Kraft erhal-
ten, und der Staat in seiner Stärke befestiget wer-
den sollte.

Deswegen ist er von allen Dichteren, die wir ken-
nen, der einzige seiner Art. Denn er hat als epi-
scher Dichter vor anderen den Vorzug, daß er bey
den meisten der großen Thaten, die er besingt, nicht
nur ein Augenzeuge, sondern auch eine Hauptperson
gewesen. Die Helden deren Charakter er schildert,
waren gröstentheils ihm von Person bekannt; die
Vornehmsten durch langen Umgang und durch Bande
der Verwandschaft, oder der Freundschaft; andere
durch die Handlungen, in die er selbst mit verwikelt
war, oder aus Erzählungen von Augenzeugen. Er
war ein Sohn Fingals eines Königs verschiedener
Stämme der Caledonischen Nation, ein Barde und
zugleich ein Heerführer: sein Vater aber, war der
berühmteste Held seiner Zeit; ein besserer Achilles,
dem kein Feind zu wiederstehen vermochte, und der
selbst über römische Heere gesieget hatte. Aus sei-
nen Gedichten sehen wir, daß zu seiner Zeit die alten
Chaledonischen Celten auf dem höchsten Punkt der
Tapferkeit gestanden, und in ihren Sitten, es zu
einem hohen Grad des Edelmuths gebracht hatten.

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Oßi

Sie waren nichts weniger, als Barbaren, ob-
gleich ihre Verfassung und Lebensart durchgehends
noch die Jünglingsjahre des gesellschaftlichen Lebens
verräth. Die Nation war in verschiedene kleine
Stämme getheilt, deren jeder sein unumschränktes
Oberhaupt hatte; der Krieg aber vereinigte die
Stämme mit ihren Häuptern unter den Befehlstab
des Königs. Jedes Oberhaupt hatte seine Burg;
aber von Städten finden wir noch keine Spuhr, so
wenig als von Landbau, Handlung, oder von Kün-
sten, Gesezen, Einrichtungen, und innerlichen Un-
ternehmungen, die Ruhe und Frieden in grössern
bürgerlichen Gesellschaften zu veranlassen pflegen.
Die Jagd ist die einzige Beschäftigung im Frieden;
und freundschaftliche Gastgebothe, wobey die Ge-
sänge der Barden und des schönen Geschlechtes alle-
mal eine Hauptsache sind, machen ihren Zeitvertreib
aus. Aber bey dieser noch so nahe an die Kindheit
des menschlichen Geschlechtes gränzenden Einrich-
tung, sinden wir diese Caledonier höchst empfindsam
für Ruhm und Ehre; wir treffen bey ihnen ein so
feines Gefühl von Menschlichkeit, einen so feinen
sittlichen Geschmak, und in Ansehung der Haupt-
leidenschaft aller Völker, der Liebe zum schönen Ge-
schlecht, eine Sittsamkeit, eine Zärtlichkeit und eine
nicht gekünstelte, sondern natürliche Gallanterie,
daß sie in allen diesen Zügen, die die verschiedenen
Nationalcharaktere bezeichnen, mit den gesittesten
Völkern, um den Vorzug streiten können.

Dieses allein muß uns den Dichter schon höchst-
merkwürdig machen: aber wenn wir ihn erst kennen
gelernt haben, so finden wir uns mit Bewunderung
und Hochachtung für sein Genie und für seinen Cha-
rakter und mit Liebe für sein edles Herz ganz durch-
drungen. Es wäre ganz überflüßig, wenn ich hier
eine methodische Untersuchung über sein Genie und
über den Werth seiner Gedichte vornehmen wollte,
da Herr Blairs dieses in einer fürtreflichen Schrift,
die der Pater Denis seiner deutschen Uebersezung der
Oßianischen Gedichte beygefüget, bereits besser, als
ich zu thun im Stand wär, ausgeführt hat. Jch
begnüge mich also für die, denen der Barde noch
nicht bekannt seyn möchte, oder die ihn etwa nicht
mit der größten Aufmerksamkeit gelesen haben, das,
was ich über Hr. Blairs Bemerkungen bey ihm

wahr-
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Jch wünschte für manchen deutschen Leser, daß
der Pater Denis in seiner Uebersezung der Macpherso-
[Spaltenumbruch] nischen Sammlung diesen Anhang nicht übergangen
hätte.

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Oßi
ſeiner Abhandlung uͤber die Oßianiſchen Gedichte,
als einen Anhang beygefuͤgt hat. (†)

Wir haben alſo an Oßian einen wahren Barden,
nicht einen nachahmenden Dichter; er dichtete, und
ſang, weil es ſein Amt mit ſich brachte: zu dieſem
Amt aber hatte er, nicht blos einen aͤußerlichen, ſon-
dern einen noch weit ehrwuͤrdigern, innerlichen Beruf
von der Natur ſelbſt, die ihm das erfinderiſche, blu-
menreiche Genie und das empfindſame Herz gegeben
hatte, wodurch er auch ohne aͤußerlichen Beruf
ein Dichter wuͤrde geweſen ſeyn. Er nahm die
Harpfe nicht zum Zeitvertreib in die Hand, auch nicht
aus Ruhmbegierde ſich einen Namen zu machen.
Zu ſeiner Zeit waren Muſik und Poeſie nicht Kuͤnſte,
die ein Muße verſchaffender Reichthum zu ſeinem
Zeitvertreib herbey ruft; ſie waren oͤffentliche auf
das innigſte mit der Politik und den Nationalſitten
vereinigte Anordnungen, deren unmittelbarer Zwek
die Ausbreitung der Tugend, und Erhaltung der
Freyheit war; Kuͤnſte die einen weſentlichen Theil
der Maſchine waren, wodurch der Nationalcharak-
ter verbeſſert, oder wenigſtens in ſeiner Kraft erhal-
ten, und der Staat in ſeiner Staͤrke befeſtiget wer-
den ſollte.

Deswegen iſt er von allen Dichteren, die wir ken-
nen, der einzige ſeiner Art. Denn er hat als epi-
ſcher Dichter vor anderen den Vorzug, daß er bey
den meiſten der großen Thaten, die er beſingt, nicht
nur ein Augenzeuge, ſondern auch eine Hauptperſon
geweſen. Die Helden deren Charakter er ſchildert,
waren groͤſtentheils ihm von Perſon bekannt; die
Vornehmſten durch langen Umgang und durch Bande
der Verwandſchaft, oder der Freundſchaft; andere
durch die Handlungen, in die er ſelbſt mit verwikelt
war, oder aus Erzaͤhlungen von Augenzeugen. Er
war ein Sohn Fingals eines Koͤnigs verſchiedener
Staͤmme der Caledoniſchen Nation, ein Barde und
zugleich ein Heerfuͤhrer: ſein Vater aber, war der
beruͤhmteſte Held ſeiner Zeit; ein beſſerer Achilles,
dem kein Feind zu wiederſtehen vermochte, und der
ſelbſt uͤber roͤmiſche Heere geſieget hatte. Aus ſei-
nen Gedichten ſehen wir, daß zu ſeiner Zeit die alten
Chaledoniſchen Celten auf dem hoͤchſten Punkt der
Tapferkeit geſtanden, und in ihren Sitten, es zu
einem hohen Grad des Edelmuths gebracht hatten.

[Spaltenumbruch]
Oßi

Sie waren nichts weniger, als Barbaren, ob-
gleich ihre Verfaſſung und Lebensart durchgehends
noch die Juͤnglingsjahre des geſellſchaftlichen Lebens
verraͤth. Die Nation war in verſchiedene kleine
Staͤmme getheilt, deren jeder ſein unumſchraͤnktes
Oberhaupt hatte; der Krieg aber vereinigte die
Staͤmme mit ihren Haͤuptern unter den Befehlſtab
des Koͤnigs. Jedes Oberhaupt hatte ſeine Burg;
aber von Staͤdten finden wir noch keine Spuhr, ſo
wenig als von Landbau, Handlung, oder von Kuͤn-
ſten, Geſezen, Einrichtungen, und innerlichen Un-
ternehmungen, die Ruhe und Frieden in groͤſſern
buͤrgerlichen Geſellſchaften zu veranlaſſen pflegen.
Die Jagd iſt die einzige Beſchaͤftigung im Frieden;
und freundſchaftliche Gaſtgebothe, wobey die Ge-
ſaͤnge der Barden und des ſchoͤnen Geſchlechtes alle-
mal eine Hauptſache ſind, machen ihren Zeitvertreib
aus. Aber bey dieſer noch ſo nahe an die Kindheit
des menſchlichen Geſchlechtes graͤnzenden Einrich-
tung, ſinden wir dieſe Caledonier hoͤchſt empfindſam
fuͤr Ruhm und Ehre; wir treffen bey ihnen ein ſo
feines Gefuͤhl von Menſchlichkeit, einen ſo feinen
ſittlichen Geſchmak, und in Anſehung der Haupt-
leidenſchaft aller Voͤlker, der Liebe zum ſchoͤnen Ge-
ſchlecht, eine Sittſamkeit, eine Zaͤrtlichkeit und eine
nicht gekuͤnſtelte, ſondern natuͤrliche Gallanterie,
daß ſie in allen dieſen Zuͤgen, die die verſchiedenen
Nationalcharaktere bezeichnen, mit den geſitteſten
Voͤlkern, um den Vorzug ſtreiten koͤnnen.

Dieſes allein muß uns den Dichter ſchon hoͤchſt-
merkwuͤrdig machen: aber wenn wir ihn erſt kennen
gelernt haben, ſo finden wir uns mit Bewunderung
und Hochachtung fuͤr ſein Genie und fuͤr ſeinen Cha-
rakter und mit Liebe fuͤr ſein edles Herz ganz durch-
drungen. Es waͤre ganz uͤberfluͤßig, wenn ich hier
eine methodiſche Unterſuchung uͤber ſein Genie und
uͤber den Werth ſeiner Gedichte vornehmen wollte,
da Herr Blairs dieſes in einer fuͤrtreflichen Schrift,
die der Pater Denis ſeiner deutſchen Ueberſezung der
Oßianiſchen Gedichte beygefuͤget, bereits beſſer, als
ich zu thun im Stand waͤr, ausgefuͤhrt hat. Jch
begnuͤge mich alſo fuͤr die, denen der Barde noch
nicht bekannt ſeyn moͤchte, oder die ihn etwa nicht
mit der groͤßten Aufmerkſamkeit geleſen haben, das,
was ich uͤber Hr. Blairs Bemerkungen bey ihm

wahr-
(†) [Spaltenumbruch]
Jch wuͤnſchte fuͤr manchen deutſchen Leſer, daß
der Pater Denis in ſeiner Ueberſezung der Macpherſo-
[Spaltenumbruch] niſchen Sammlung dieſen Anhang nicht uͤbergangen
haͤtte.
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[866[848]/0283] Oßi Oßi ſeiner Abhandlung uͤber die Oßianiſchen Gedichte, als einen Anhang beygefuͤgt hat. (†) Wir haben alſo an Oßian einen wahren Barden, nicht einen nachahmenden Dichter; er dichtete, und ſang, weil es ſein Amt mit ſich brachte: zu dieſem Amt aber hatte er, nicht blos einen aͤußerlichen, ſon- dern einen noch weit ehrwuͤrdigern, innerlichen Beruf von der Natur ſelbſt, die ihm das erfinderiſche, blu- menreiche Genie und das empfindſame Herz gegeben hatte, wodurch er auch ohne aͤußerlichen Beruf ein Dichter wuͤrde geweſen ſeyn. Er nahm die Harpfe nicht zum Zeitvertreib in die Hand, auch nicht aus Ruhmbegierde ſich einen Namen zu machen. Zu ſeiner Zeit waren Muſik und Poeſie nicht Kuͤnſte, die ein Muße verſchaffender Reichthum zu ſeinem Zeitvertreib herbey ruft; ſie waren oͤffentliche auf das innigſte mit der Politik und den Nationalſitten vereinigte Anordnungen, deren unmittelbarer Zwek die Ausbreitung der Tugend, und Erhaltung der Freyheit war; Kuͤnſte die einen weſentlichen Theil der Maſchine waren, wodurch der Nationalcharak- ter verbeſſert, oder wenigſtens in ſeiner Kraft erhal- ten, und der Staat in ſeiner Staͤrke befeſtiget wer- den ſollte. Deswegen iſt er von allen Dichteren, die wir ken- nen, der einzige ſeiner Art. Denn er hat als epi- ſcher Dichter vor anderen den Vorzug, daß er bey den meiſten der großen Thaten, die er beſingt, nicht nur ein Augenzeuge, ſondern auch eine Hauptperſon geweſen. Die Helden deren Charakter er ſchildert, waren groͤſtentheils ihm von Perſon bekannt; die Vornehmſten durch langen Umgang und durch Bande der Verwandſchaft, oder der Freundſchaft; andere durch die Handlungen, in die er ſelbſt mit verwikelt war, oder aus Erzaͤhlungen von Augenzeugen. Er war ein Sohn Fingals eines Koͤnigs verſchiedener Staͤmme der Caledoniſchen Nation, ein Barde und zugleich ein Heerfuͤhrer: ſein Vater aber, war der beruͤhmteſte Held ſeiner Zeit; ein beſſerer Achilles, dem kein Feind zu wiederſtehen vermochte, und der ſelbſt uͤber roͤmiſche Heere geſieget hatte. Aus ſei- nen Gedichten ſehen wir, daß zu ſeiner Zeit die alten Chaledoniſchen Celten auf dem hoͤchſten Punkt der Tapferkeit geſtanden, und in ihren Sitten, es zu einem hohen Grad des Edelmuths gebracht hatten. Sie waren nichts weniger, als Barbaren, ob- gleich ihre Verfaſſung und Lebensart durchgehends noch die Juͤnglingsjahre des geſellſchaftlichen Lebens verraͤth. Die Nation war in verſchiedene kleine Staͤmme getheilt, deren jeder ſein unumſchraͤnktes Oberhaupt hatte; der Krieg aber vereinigte die Staͤmme mit ihren Haͤuptern unter den Befehlſtab des Koͤnigs. Jedes Oberhaupt hatte ſeine Burg; aber von Staͤdten finden wir noch keine Spuhr, ſo wenig als von Landbau, Handlung, oder von Kuͤn- ſten, Geſezen, Einrichtungen, und innerlichen Un- ternehmungen, die Ruhe und Frieden in groͤſſern buͤrgerlichen Geſellſchaften zu veranlaſſen pflegen. Die Jagd iſt die einzige Beſchaͤftigung im Frieden; und freundſchaftliche Gaſtgebothe, wobey die Ge- ſaͤnge der Barden und des ſchoͤnen Geſchlechtes alle- mal eine Hauptſache ſind, machen ihren Zeitvertreib aus. Aber bey dieſer noch ſo nahe an die Kindheit des menſchlichen Geſchlechtes graͤnzenden Einrich- tung, ſinden wir dieſe Caledonier hoͤchſt empfindſam fuͤr Ruhm und Ehre; wir treffen bey ihnen ein ſo feines Gefuͤhl von Menſchlichkeit, einen ſo feinen ſittlichen Geſchmak, und in Anſehung der Haupt- leidenſchaft aller Voͤlker, der Liebe zum ſchoͤnen Ge- ſchlecht, eine Sittſamkeit, eine Zaͤrtlichkeit und eine nicht gekuͤnſtelte, ſondern natuͤrliche Gallanterie, daß ſie in allen dieſen Zuͤgen, die die verſchiedenen Nationalcharaktere bezeichnen, mit den geſitteſten Voͤlkern, um den Vorzug ſtreiten koͤnnen. Dieſes allein muß uns den Dichter ſchon hoͤchſt- merkwuͤrdig machen: aber wenn wir ihn erſt kennen gelernt haben, ſo finden wir uns mit Bewunderung und Hochachtung fuͤr ſein Genie und fuͤr ſeinen Cha- rakter und mit Liebe fuͤr ſein edles Herz ganz durch- drungen. Es waͤre ganz uͤberfluͤßig, wenn ich hier eine methodiſche Unterſuchung uͤber ſein Genie und uͤber den Werth ſeiner Gedichte vornehmen wollte, da Herr Blairs dieſes in einer fuͤrtreflichen Schrift, die der Pater Denis ſeiner deutſchen Ueberſezung der Oßianiſchen Gedichte beygefuͤget, bereits beſſer, als ich zu thun im Stand waͤr, ausgefuͤhrt hat. Jch begnuͤge mich alſo fuͤr die, denen der Barde noch nicht bekannt ſeyn moͤchte, oder die ihn etwa nicht mit der groͤßten Aufmerkſamkeit geleſen haben, das, was ich uͤber Hr. Blairs Bemerkungen bey ihm wahr- (†) Jch wuͤnſchte fuͤr manchen deutſchen Leſer, daß der Pater Denis in ſeiner Ueberſezung der Macpherſo- niſchen Sammlung dieſen Anhang nicht uͤbergangen haͤtte.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 866[848]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/283>, abgerufen am 03.06.2024.