einzele Stelle darin so beschaffen sey, daß der, wel- cher spricht, natürlicher Weise im Affekt spreche. Darum werde ich auch nicht nöthig haben, wie Hr. Scheibe (*) einen Unterschied zwischen dem blos recitirten und declamirten Recitativ zu machen; weil ich das erstere ganz verwerfe. Behauptet es indes- sen in der Oper, und in der Cantate seinen Plaz, so mag der Dichter sehen, wie er es verantwortet, und der Tonsezer, wie er es behandeln will. Denn hierüber Regeln zu geben, wäre nach meinen Be- griffen eben so viel, als einen Dichter zu unterrich- ten, was für eine Versart er zu wählen habe, um ein Zeitungsblatt in eine Ode zu verwandeln.
Niemand bilde sich ein, daß der Dichter nur die schwächesten und gleichgültigsten Stellen seines Werks dem Recitativ vorbehalte, den stärksten Ausbruch der Leidenschaften aber in Arien, oder andern Ge- sängen anbringe. Denn gar ofte geschieht das Ge- gentheil, und muß natürlicher Weise geschehen. Die sehr lebhaften Leidenschaften, Zorn, Verzweiflung, Schmerz, auch Freud und Bewundrung, können, wenn sie auf einen hohen Grad gestiegen sind, selten in Arien natürlich ausgedrukt werden. Denn der Ausdruk solcher Leidenschaften wird alsdenn insge- mein ungleich und abgebrochen, welches schlechter- dings dem fließenden Wesen des ordentlichen Gesangs zuwieder ist. Man stelle sich vor, Hr. Ramler hätte gegen sein eigenes Gefühl einem Tonsezer zu gefallen, folgende Stelle eines Recitatives, in ei- nem lyrischen Sylbenmaaß gesezt:
Unschuldiger! Gerechter! hauche doch Die matt' gequälte Seele von dir! -- Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe Gespizte Keile -- Jesus reicht die Hände dar Die theuren Hände, deren Arbeit Wolthun war.
Wie würde doch daraus eine Arie gemacht worden seyn? Es ist wol nicht nöthig, daß ich zeige, wie ungereimt es wäre, eine solche höchstpathetische Stelle, nach Art einer Arie zu sezen. Hieraus aber siehet man deutlich, wie der höchste Grad des Leidenschaftlichen sich gar oft zum Recitativ viel bes- ser, als zur Arie schikt. Wir sehen es deutlich an mancher Ode, nach lyrischen Versarten der Alten, an die sich gewiß kein Tonsezer wagen wird, es sey denn, daß er sie abwechselnd, bald als ein Recitativ bald als Arioso, bald als Arie behandeln könne.
[Spaltenumbruch]
Rec
Es ist meine Absicht gar nicht hier dem Dichter zu zeigen, wie er das Recitativ behandeln soll. Die Muster, die Ramler gegeben, sagen ihm schon mehr, wenn er Gefühl hat, als ich ihm sagen könnte.
Jch will hier nur noch einen besondern Punkt berühren. Jch kann mich nicht enthalten zu geste- hen, daß die bisweilen in Recitativen vorkommende Einschaltungen fremder Reden und Sprüche, die der Tonsezer allemal als Arioso vorträgt, nach mei- ner Empfindung etwas anstößiges haben. Jch habe an einem andern Ort (*) den lyrisch erzählenden Ton des Recitatives in der Ramlerischen Paßion als ein Muster empfohlen. Jch wußte in der That kein schöneres Recitativ zu finden, als gleich das, womit dieses Oratorium anfängt. Was kann pa- thetischer und für den Tonsezer zum Recitativ er- wünschter seyn, als dieses.
-- Bester aller Menschenkinder! Du zagst? du zitterst? gleich dem Sünder Auf den sein Todesurtheil fällt! Ach seht! er sinkt, belastet mit den Missethaten Von einer ganzen Welt. Sein Herz in Arbeit fliegt aus seiner Höhle Sein Schweiß fließt purpurroth die Schläs' herab. Er ruft: Betrübt ist meine Seele Bis in den Tod. u. s. f.
Graun, hat nach dem allgemeinen Gebrauch, der zur Regel geworden ist, die Worte: Betrübt ist meine Seele u. s. w. die der Dichter einer fremden Person in den Mund legt, als ein Arioso vorge- tragen, und man wird schweerlich, wenn man es für sich betrachtet, etwas schöneres in dieser Art aufzuweisen haben, als dieses Arioso: und dennoch ist es mir immer anstößig gewesen, und bleibt es, so oft ich diese Paßion höre. Es ist mir nicht möglich mich darein zu finden, daß dieselbe recitirende Per- son, bald in ihrem eigenen, bald in fremden Na- men singe. Und doch sehe ich auf der andern Seite nicht, warum eben dieses Dramatische bey dem epi- schen Dichter mir nicht mißfällt? Wenn mich also mein Gefühl hierüber nicht täuscht; so möchte ich sagen, es gehe an in eines andern Namen, und mit seinen Worten zu sprechen; aber nicht zu singen. Allein, ich getraue mir nicht mein Gefühl hierüber zur Regel anzugeben. Jm würklichen Drama, da die Worte: Betrübt u. s. f. von der Person selbst,
gesun-
(*) S. Dessen Ab- handlung über das Mecitativ in der Bi- bliothek der schönen Wissen- schaften im XI u. XII Theile.
(*) S. Orato- rium.
[Spaltenumbruch]
Rec
einzele Stelle darin ſo beſchaffen ſey, daß der, wel- cher ſpricht, natuͤrlicher Weiſe im Affekt ſpreche. Darum werde ich auch nicht noͤthig haben, wie Hr. Scheibe (*) einen Unterſchied zwiſchen dem blos recitirten und declamirten Recitativ zu machen; weil ich das erſtere ganz verwerfe. Behauptet es indeſ- ſen in der Oper, und in der Cantate ſeinen Plaz, ſo mag der Dichter ſehen, wie er es verantwortet, und der Tonſezer, wie er es behandeln will. Denn hieruͤber Regeln zu geben, waͤre nach meinen Be- griffen eben ſo viel, als einen Dichter zu unterrich- ten, was fuͤr eine Versart er zu waͤhlen habe, um ein Zeitungsblatt in eine Ode zu verwandeln.
Niemand bilde ſich ein, daß der Dichter nur die ſchwaͤcheſten und gleichguͤltigſten Stellen ſeines Werks dem Recitativ vorbehalte, den ſtaͤrkſten Ausbruch der Leidenſchaften aber in Arien, oder andern Ge- ſaͤngen anbringe. Denn gar ofte geſchieht das Ge- gentheil, und muß natuͤrlicher Weiſe geſchehen. Die ſehr lebhaften Leidenſchaften, Zorn, Verzweiflung, Schmerz, auch Freud und Bewundrung, koͤnnen, wenn ſie auf einen hohen Grad geſtiegen ſind, ſelten in Arien natuͤrlich ausgedrukt werden. Denn der Ausdruk ſolcher Leidenſchaften wird alsdenn insge- mein ungleich und abgebrochen, welches ſchlechter- dings dem fließenden Weſen des ordentlichen Geſangs zuwieder iſt. Man ſtelle ſich vor, Hr. Ramler haͤtte gegen ſein eigenes Gefuͤhl einem Tonſezer zu gefallen, folgende Stelle eines Recitatives, in ei- nem lyriſchen Sylbenmaaß geſezt:
Unſchuldiger! Gerechter! hauche doch Die matt’ gequaͤlte Seele von dir! — Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe Geſpizte Keile — Jeſus reicht die Haͤnde dar Die theuren Haͤnde, deren Arbeit Wolthun war.
Wie wuͤrde doch daraus eine Arie gemacht worden ſeyn? Es iſt wol nicht noͤthig, daß ich zeige, wie ungereimt es waͤre, eine ſolche hoͤchſtpathetiſche Stelle, nach Art einer Arie zu ſezen. Hieraus aber ſiehet man deutlich, wie der hoͤchſte Grad des Leidenſchaftlichen ſich gar oft zum Recitativ viel beſ- ſer, als zur Arie ſchikt. Wir ſehen es deutlich an mancher Ode, nach lyriſchen Versarten der Alten, an die ſich gewiß kein Tonſezer wagen wird, es ſey denn, daß er ſie abwechſelnd, bald als ein Recitativ bald als Arioſo, bald als Arie behandeln koͤnne.
[Spaltenumbruch]
Rec
Es iſt meine Abſicht gar nicht hier dem Dichter zu zeigen, wie er das Recitativ behandeln ſoll. Die Muſter, die Ramler gegeben, ſagen ihm ſchon mehr, wenn er Gefuͤhl hat, als ich ihm ſagen koͤnnte.
Jch will hier nur noch einen beſondern Punkt beruͤhren. Jch kann mich nicht enthalten zu geſte- hen, daß die bisweilen in Recitativen vorkommende Einſchaltungen fremder Reden und Spruͤche, die der Tonſezer allemal als Arioſo vortraͤgt, nach mei- ner Empfindung etwas anſtoͤßiges haben. Jch habe an einem andern Ort (*) den lyriſch erzaͤhlenden Ton des Recitatives in der Ramleriſchen Paßion als ein Muſter empfohlen. Jch wußte in der That kein ſchoͤneres Recitativ zu finden, als gleich das, womit dieſes Oratorium anfaͤngt. Was kann pa- thetiſcher und fuͤr den Tonſezer zum Recitativ er- wuͤnſchter ſeyn, als dieſes.
— Beſter aller Menſchenkinder! Du zagſt? du zitterſt? gleich dem Suͤnder Auf den ſein Todesurtheil faͤllt! Ach ſeht! er ſinkt, belaſtet mit den Miſſethaten Von einer ganzen Welt. Sein Herz in Arbeit fliegt aus ſeiner Hoͤhle Sein Schweiß fließt purpurroth die Schlaͤſ’ herab. Er ruft: Betruͤbt iſt meine Seele Bis in den Tod. u. ſ. f.
Graun, hat nach dem allgemeinen Gebrauch, der zur Regel geworden iſt, die Worte: Betruͤbt iſt meine Seele u. ſ. w. die der Dichter einer fremden Perſon in den Mund legt, als ein Arioſo vorge- tragen, und man wird ſchweerlich, wenn man es fuͤr ſich betrachtet, etwas ſchoͤneres in dieſer Art aufzuweiſen haben, als dieſes Arioſo: und dennoch iſt es mir immer anſtoͤßig geweſen, und bleibt es, ſo oft ich dieſe Paßion hoͤre. Es iſt mir nicht moͤglich mich darein zu finden, daß dieſelbe recitirende Per- ſon, bald in ihrem eigenen, bald in fremden Na- men ſinge. Und doch ſehe ich auf der andern Seite nicht, warum eben dieſes Dramatiſche bey dem epi- ſchen Dichter mir nicht mißfaͤllt? Wenn mich alſo mein Gefuͤhl hieruͤber nicht taͤuſcht; ſo moͤchte ich ſagen, es gehe an in eines andern Namen, und mit ſeinen Worten zu ſprechen; aber nicht zu ſingen. Allein, ich getraue mir nicht mein Gefuͤhl hieruͤber zur Regel anzugeben. Jm wuͤrklichen Drama, da die Worte: Betruͤbt u. ſ. f. von der Perſon ſelbſt,
geſun-
(*) S. Deſſen Ab- handlung uͤber das Mecitativ in der Bi- bliothek der ſchoͤnen Wiſſen- ſchaften im XI u. XII Theile.
(*) S. Orato- rium.
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[944[926]/0362]
Rec
Rec
einzele Stelle darin ſo beſchaffen ſey, daß der, wel-
cher ſpricht, natuͤrlicher Weiſe im Affekt ſpreche.
Darum werde ich auch nicht noͤthig haben, wie Hr.
Scheibe (*) einen Unterſchied zwiſchen dem blos
recitirten und declamirten Recitativ zu machen; weil
ich das erſtere ganz verwerfe. Behauptet es indeſ-
ſen in der Oper, und in der Cantate ſeinen Plaz,
ſo mag der Dichter ſehen, wie er es verantwortet,
und der Tonſezer, wie er es behandeln will. Denn
hieruͤber Regeln zu geben, waͤre nach meinen Be-
griffen eben ſo viel, als einen Dichter zu unterrich-
ten, was fuͤr eine Versart er zu waͤhlen habe, um
ein Zeitungsblatt in eine Ode zu verwandeln.
Niemand bilde ſich ein, daß der Dichter nur die
ſchwaͤcheſten und gleichguͤltigſten Stellen ſeines Werks
dem Recitativ vorbehalte, den ſtaͤrkſten Ausbruch
der Leidenſchaften aber in Arien, oder andern Ge-
ſaͤngen anbringe. Denn gar ofte geſchieht das Ge-
gentheil, und muß natuͤrlicher Weiſe geſchehen. Die
ſehr lebhaften Leidenſchaften, Zorn, Verzweiflung,
Schmerz, auch Freud und Bewundrung, koͤnnen,
wenn ſie auf einen hohen Grad geſtiegen ſind, ſelten
in Arien natuͤrlich ausgedrukt werden. Denn der
Ausdruk ſolcher Leidenſchaften wird alsdenn insge-
mein ungleich und abgebrochen, welches ſchlechter-
dings dem fließenden Weſen des ordentlichen Geſangs
zuwieder iſt. Man ſtelle ſich vor, Hr. Ramler
haͤtte gegen ſein eigenes Gefuͤhl einem Tonſezer zu
gefallen, folgende Stelle eines Recitatives, in ei-
nem lyriſchen Sylbenmaaß geſezt:
Unſchuldiger! Gerechter! hauche doch
Die matt’ gequaͤlte Seele von dir! —
Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe
Geſpizte Keile — Jeſus reicht die Haͤnde dar
Die theuren Haͤnde, deren Arbeit Wolthun war.
Wie wuͤrde doch daraus eine Arie gemacht worden
ſeyn? Es iſt wol nicht noͤthig, daß ich zeige, wie
ungereimt es waͤre, eine ſolche hoͤchſtpathetiſche
Stelle, nach Art einer Arie zu ſezen. Hieraus
aber ſiehet man deutlich, wie der hoͤchſte Grad des
Leidenſchaftlichen ſich gar oft zum Recitativ viel beſ-
ſer, als zur Arie ſchikt. Wir ſehen es deutlich an
mancher Ode, nach lyriſchen Versarten der Alten,
an die ſich gewiß kein Tonſezer wagen wird, es ſey
denn, daß er ſie abwechſelnd, bald als ein Recitativ
bald als Arioſo, bald als Arie behandeln koͤnne.
Es iſt meine Abſicht gar nicht hier dem Dichter
zu zeigen, wie er das Recitativ behandeln ſoll. Die
Muſter, die Ramler gegeben, ſagen ihm ſchon mehr,
wenn er Gefuͤhl hat, als ich ihm ſagen koͤnnte.
Jch will hier nur noch einen beſondern Punkt
beruͤhren. Jch kann mich nicht enthalten zu geſte-
hen, daß die bisweilen in Recitativen vorkommende
Einſchaltungen fremder Reden und Spruͤche, die
der Tonſezer allemal als Arioſo vortraͤgt, nach mei-
ner Empfindung etwas anſtoͤßiges haben. Jch habe
an einem andern Ort (*) den lyriſch erzaͤhlenden
Ton des Recitatives in der Ramleriſchen Paßion
als ein Muſter empfohlen. Jch wußte in der That
kein ſchoͤneres Recitativ zu finden, als gleich das,
womit dieſes Oratorium anfaͤngt. Was kann pa-
thetiſcher und fuͤr den Tonſezer zum Recitativ er-
wuͤnſchter ſeyn, als dieſes.
— Beſter aller Menſchenkinder!
Du zagſt? du zitterſt? gleich dem Suͤnder
Auf den ſein Todesurtheil faͤllt!
Ach ſeht! er ſinkt, belaſtet mit den Miſſethaten
Von einer ganzen Welt.
Sein Herz in Arbeit fliegt aus ſeiner Hoͤhle
Sein Schweiß fließt purpurroth die Schlaͤſ’ herab.
Er ruft: Betruͤbt iſt meine Seele
Bis in den Tod. u. ſ. f.
Graun, hat nach dem allgemeinen Gebrauch, der
zur Regel geworden iſt, die Worte: Betruͤbt iſt
meine Seele u. ſ. w. die der Dichter einer fremden
Perſon in den Mund legt, als ein Arioſo vorge-
tragen, und man wird ſchweerlich, wenn man es
fuͤr ſich betrachtet, etwas ſchoͤneres in dieſer Art
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iſt es mir immer anſtoͤßig geweſen, und bleibt es, ſo
oft ich dieſe Paßion hoͤre. Es iſt mir nicht moͤglich
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ſon, bald in ihrem eigenen, bald in fremden Na-
men ſinge. Und doch ſehe ich auf der andern Seite
nicht, warum eben dieſes Dramatiſche bey dem epi-
ſchen Dichter mir nicht mißfaͤllt? Wenn mich alſo
mein Gefuͤhl hieruͤber nicht taͤuſcht; ſo moͤchte ich
ſagen, es gehe an in eines andern Namen, und
mit ſeinen Worten zu ſprechen; aber nicht zu ſingen.
Allein, ich getraue mir nicht mein Gefuͤhl hieruͤber
zur Regel anzugeben. Jm wuͤrklichen Drama, da
die Worte: Betruͤbt u. ſ. f. von der Perſon ſelbſt,
geſun-
(*) S.
Deſſen Ab-
handlung
uͤber das
Mecitativ
in der Bi-
bliothek der
ſchoͤnen
Wiſſen-
ſchaften im
XI u. XII
Theile.
(*) S.
Orato-
rium.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 944[926]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/362>, abgerufen am 24.11.2024.
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