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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Rec
gesungen würden, wär alles, wie der Tonsezer es
gemacht hat, vollkommen. Oder wenn es so stünde:

Sein Schweiß fließt purpurroth,
Die Schläf' herab: Betrübt ist seine Seele
Bis in den Tod.

So könnte doch, dünkt mich, das Arioso, so wie
Graun es gesezt hat, beybehalten werden. So gar
die Folge dieser eingeschalteten Rede könnte hier der
Dichter in seinem eigenen Namen sagen. Nur in
dem einzigen Vers

Nimm weg, nimm weg den bittern Kelch von mei-
nem Munde.
--

müßte seinem stehen. Doch ich will, wie gesagt,
hierüber nichts entscheiden: ich sage nur, daß mein
Gefühl sich an solche Stellen nie hat gewöhnen
können.

So viel sey von der Poesie des Recitatives gesagt.
Rousseau hat sehr richtig angemerkt, daß nur die
Sprachen, die schon an sich im gemeinen Vortrag
einen guten musikalischen Accent, oder etwas sin-
gendes haben, sich zum Recitativ schiken. Darin
übertrift freylich die Jtaliänische meist alle andern
heutigen europäischen Sprachen. Aber auch weni-
ger singende Sprachen können von recht guten Dich-
tern, wenn nur der Jnhalt leidenschaftlich genug
ist, so behandelt werden, daß sie genug von dem
mnsikalischen Accent haben: Klopstok und Ramler
haben uns durch Beyspiehle hievon überzeuget. Wer
die englische Sprache nur aus einigen kalten gesell-
schaftlichen Gesprächen kennte, würde sich nicht
einfallen lassen, daß man darin Verse schreiben
könnte, die den besten aus der Aeneis an Wolklang
gleich kommen: und doch hat Pope dergleichen ge-
macht. Also kommt es nur auf den Dichter an,
auch in einer etwas unmusikalischen Sprache, sehr
musikalisch zu schreiben.

Aber es ist Zeit, daß wir auf die Bearbeitung
des Recitatives kommen, die dem Tonsezer eigen ist.
Um aber hierüber etwas nüzliches zu sagen, ist es
nothwendig, daß wir zuerst die Eigenschaften eines
vollkommen gesezten Recitatives, so gut es uns mög-
lich ist, anzeigen.

1. Das Recitativ hat keinen gleichförmigen melo-
dischen Rhythmus, sondern beobachtet blos die Ein-
schnitte und Abschnitte des Textes, ohne sich um
das melodische Ebenmaaß derselben zu bekümmern.
Jn Deutschland und in Jtalien wird es immer in
[Spaltenumbruch]
Rec
Takt gesezt. - Jm französischen Recitativ kommen
allerley Taktarten nach einander vor, daher sie sehr
schweer zu accompagniren, und noch schweerer zu
fassen sind.
2. Es hat keinen Hauptton, noch die regelmäßige
Modulation der ordentlichen Tonstüke; noch muß
es, wie diese, wieder im Hauptton schließen; son-
dern der Tonsezer giebt jedem folgenden Redesaz, der
einen andern Ton erfodert, seinen Ton, er stehe
mit dem vorhergehenden in Verwandschaft, oder
nicht; er bekümmert sich nicht darum, wie lang
oder kurz dieser Ton daure, sondern richtet sich da-
rin lediglich nach dem Dichter. Schnelle Abwei-
chungen in andere Töne haben besonders da statt,
wo ein in ruhigem oder gar fröhlichen Ton reden-
der plözlich durch einen, der in heftiger Leidenschaft
ist, unterbrochen wird; welches in Opern ofte ge-
schieht.
3. Weil das Recitativ nicht eigentlich gesungen,
sondern nur mit musikalischen Tönen declamirt wird,
so muß es keine melismatische Verziehrungen haben.
4. Jede Sylbe des Textes muß nur durch einen
einzigen Ton ausgedrükt werden: wenigstens muß,
wenn irgend noch ein andrer zu besserm Ausdruk
daran geschleift wird, dieses so geschehen, daß die
deutliche Aussprach der Sylbe dadurch nicht leidet.
5. Alle grammatische Accente müssen dem Syl-
benmaaße des Dichters zufolge auf gute, die Syl-
ben ohne Accente auf die schlechten Takttheile fallen.
6. Die Bewegung muß mit dem besten Vortrag
übereinkommen; so daß die Worte, auf denen man
im Lesen sich gern etwas verweilet, mit langen, die
Stellen aber, über die man im Lesen wegeilet, mit
geschwinden Noten besezt werden.
7. Eben so muß das Steigen und Fallen der
Stimme sich nach der zunehmenden, oder abnehmen-
den Empfindung richten, sowol auf einzelen Syl-
ben, als auf einer Folge von mehrern Sylben.
8. Pausen sollen nirgend gesezt werden, als wo
im Text würkliche Einschnitte, oder Abschnitte der
Säze vorkommen.
9. Bey dem völligen Schluß einer Tonart, auf
welche eine andere ganz abstechende kommt, soll die
Recitativstimme, wo nicht schon die Periode der
Rede die Cadenz fodert, auch keine machen. Das
Recitativ kann die Cadenz, wenn die Oberstimme
bereits schweiget, dem Baß überlassen.
10. Die

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Rec
geſungen wuͤrden, waͤr alles, wie der Tonſezer es
gemacht hat, vollkommen. Oder wenn es ſo ſtuͤnde:

Sein Schweiß fließt purpurroth,
Die Schlaͤf’ herab: Betruͤbt iſt ſeine Seele
Bis in den Tod.

So koͤnnte doch, duͤnkt mich, das Arioſo, ſo wie
Graun es geſezt hat, beybehalten werden. So gar
die Folge dieſer eingeſchalteten Rede koͤnnte hier der
Dichter in ſeinem eigenen Namen ſagen. Nur in
dem einzigen Vers

Nimm weg, nimm weg den bittern Kelch von mei-
nem Munde.

muͤßte ſeinem ſtehen. Doch ich will, wie geſagt,
hieruͤber nichts entſcheiden: ich ſage nur, daß mein
Gefuͤhl ſich an ſolche Stellen nie hat gewoͤhnen
koͤnnen.

So viel ſey von der Poeſie des Recitatives geſagt.
Rouſſeau hat ſehr richtig angemerkt, daß nur die
Sprachen, die ſchon an ſich im gemeinen Vortrag
einen guten muſikaliſchen Accent, oder etwas ſin-
gendes haben, ſich zum Recitativ ſchiken. Darin
uͤbertrift freylich die Jtaliaͤniſche meiſt alle andern
heutigen europaͤiſchen Sprachen. Aber auch weni-
ger ſingende Sprachen koͤnnen von recht guten Dich-
tern, wenn nur der Jnhalt leidenſchaftlich genug
iſt, ſo behandelt werden, daß ſie genug von dem
mnſikaliſchen Accent haben: Klopſtok und Ramler
haben uns durch Beyſpiehle hievon uͤberzeuget. Wer
die engliſche Sprache nur aus einigen kalten geſell-
ſchaftlichen Geſpraͤchen kennte, wuͤrde ſich nicht
einfallen laſſen, daß man darin Verſe ſchreiben
koͤnnte, die den beſten aus der Aeneis an Wolklang
gleich kommen: und doch hat Pope dergleichen ge-
macht. Alſo kommt es nur auf den Dichter an,
auch in einer etwas unmuſikaliſchen Sprache, ſehr
muſikaliſch zu ſchreiben.

Aber es iſt Zeit, daß wir auf die Bearbeitung
des Recitatives kommen, die dem Tonſezer eigen iſt.
Um aber hieruͤber etwas nuͤzliches zu ſagen, iſt es
nothwendig, daß wir zuerſt die Eigenſchaften eines
vollkommen geſezten Recitatives, ſo gut es uns moͤg-
lich iſt, anzeigen.

1. Das Recitativ hat keinen gleichfoͤrmigen melo-
diſchen Rhythmus, ſondern beobachtet blos die Ein-
ſchnitte und Abſchnitte des Textes, ohne ſich um
das melodiſche Ebenmaaß derſelben zu bekuͤmmern.
Jn Deutſchland und in Jtalien wird es immer in
[Spaltenumbruch]
Rec
Takt geſezt. ‒ Jm franzoͤſiſchen Recitativ kommen
allerley Taktarten nach einander vor, daher ſie ſehr
ſchweer zu accompagniren, und noch ſchweerer zu
faſſen ſind.
2. Es hat keinen Hauptton, noch die regelmaͤßige
Modulation der ordentlichen Tonſtuͤke; noch muß
es, wie dieſe, wieder im Hauptton ſchließen; ſon-
dern der Tonſezer giebt jedem folgenden Redeſaz, der
einen andern Ton erfodert, ſeinen Ton, er ſtehe
mit dem vorhergehenden in Verwandſchaft, oder
nicht; er bekuͤmmert ſich nicht darum, wie lang
oder kurz dieſer Ton daure, ſondern richtet ſich da-
rin lediglich nach dem Dichter. Schnelle Abwei-
chungen in andere Toͤne haben beſonders da ſtatt,
wo ein in ruhigem oder gar froͤhlichen Ton reden-
der ploͤzlich durch einen, der in heftiger Leidenſchaft
iſt, unterbrochen wird; welches in Opern ofte ge-
ſchieht.
3. Weil das Recitativ nicht eigentlich geſungen,
ſondern nur mit muſikaliſchen Toͤnen declamirt wird,
ſo muß es keine melismatiſche Verziehrungen haben.
4. Jede Sylbe des Textes muß nur durch einen
einzigen Ton ausgedruͤkt werden: wenigſtens muß,
wenn irgend noch ein andrer zu beſſerm Ausdruk
daran geſchleift wird, dieſes ſo geſchehen, daß die
deutliche Ausſprach der Sylbe dadurch nicht leidet.
5. Alle grammatiſche Accente muͤſſen dem Syl-
benmaaße des Dichters zufolge auf gute, die Syl-
ben ohne Accente auf die ſchlechten Takttheile fallen.
6. Die Bewegung muß mit dem beſten Vortrag
uͤbereinkommen; ſo daß die Worte, auf denen man
im Leſen ſich gern etwas verweilet, mit langen, die
Stellen aber, uͤber die man im Leſen wegeilet, mit
geſchwinden Noten beſezt werden.
7. Eben ſo muß das Steigen und Fallen der
Stimme ſich nach der zunehmenden, oder abnehmen-
den Empfindung richten, ſowol auf einzelen Syl-
ben, als auf einer Folge von mehrern Sylben.
8. Pauſen ſollen nirgend geſezt werden, als wo
im Text wuͤrkliche Einſchnitte, oder Abſchnitte der
Saͤze vorkommen.
9. Bey dem voͤlligen Schluß einer Tonart, auf
welche eine andere ganz abſtechende kommt, ſoll die
Recitativſtimme, wo nicht ſchon die Periode der
Rede die Cadenz fodert, auch keine machen. Das
Recitativ kann die Cadenz, wenn die Oberſtimme
bereits ſchweiget, dem Baß uͤberlaſſen.
10. Die
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[945[927]/0363] Rec Rec geſungen wuͤrden, waͤr alles, wie der Tonſezer es gemacht hat, vollkommen. Oder wenn es ſo ſtuͤnde: Sein Schweiß fließt purpurroth, Die Schlaͤf’ herab: Betruͤbt iſt ſeine Seele Bis in den Tod. So koͤnnte doch, duͤnkt mich, das Arioſo, ſo wie Graun es geſezt hat, beybehalten werden. So gar die Folge dieſer eingeſchalteten Rede koͤnnte hier der Dichter in ſeinem eigenen Namen ſagen. Nur in dem einzigen Vers Nimm weg, nimm weg den bittern Kelch von mei- nem Munde. — muͤßte ſeinem ſtehen. Doch ich will, wie geſagt, hieruͤber nichts entſcheiden: ich ſage nur, daß mein Gefuͤhl ſich an ſolche Stellen nie hat gewoͤhnen koͤnnen. So viel ſey von der Poeſie des Recitatives geſagt. Rouſſeau hat ſehr richtig angemerkt, daß nur die Sprachen, die ſchon an ſich im gemeinen Vortrag einen guten muſikaliſchen Accent, oder etwas ſin- gendes haben, ſich zum Recitativ ſchiken. Darin uͤbertrift freylich die Jtaliaͤniſche meiſt alle andern heutigen europaͤiſchen Sprachen. Aber auch weni- ger ſingende Sprachen koͤnnen von recht guten Dich- tern, wenn nur der Jnhalt leidenſchaftlich genug iſt, ſo behandelt werden, daß ſie genug von dem mnſikaliſchen Accent haben: Klopſtok und Ramler haben uns durch Beyſpiehle hievon uͤberzeuget. Wer die engliſche Sprache nur aus einigen kalten geſell- ſchaftlichen Geſpraͤchen kennte, wuͤrde ſich nicht einfallen laſſen, daß man darin Verſe ſchreiben koͤnnte, die den beſten aus der Aeneis an Wolklang gleich kommen: und doch hat Pope dergleichen ge- macht. Alſo kommt es nur auf den Dichter an, auch in einer etwas unmuſikaliſchen Sprache, ſehr muſikaliſch zu ſchreiben. Aber es iſt Zeit, daß wir auf die Bearbeitung des Recitatives kommen, die dem Tonſezer eigen iſt. Um aber hieruͤber etwas nuͤzliches zu ſagen, iſt es nothwendig, daß wir zuerſt die Eigenſchaften eines vollkommen geſezten Recitatives, ſo gut es uns moͤg- lich iſt, anzeigen. 1. Das Recitativ hat keinen gleichfoͤrmigen melo- diſchen Rhythmus, ſondern beobachtet blos die Ein- ſchnitte und Abſchnitte des Textes, ohne ſich um das melodiſche Ebenmaaß derſelben zu bekuͤmmern. Jn Deutſchland und in Jtalien wird es immer in [FORMEL] Takt geſezt. ‒ Jm franzoͤſiſchen Recitativ kommen allerley Taktarten nach einander vor, daher ſie ſehr ſchweer zu accompagniren, und noch ſchweerer zu faſſen ſind. 2. Es hat keinen Hauptton, noch die regelmaͤßige Modulation der ordentlichen Tonſtuͤke; noch muß es, wie dieſe, wieder im Hauptton ſchließen; ſon- dern der Tonſezer giebt jedem folgenden Redeſaz, der einen andern Ton erfodert, ſeinen Ton, er ſtehe mit dem vorhergehenden in Verwandſchaft, oder nicht; er bekuͤmmert ſich nicht darum, wie lang oder kurz dieſer Ton daure, ſondern richtet ſich da- rin lediglich nach dem Dichter. Schnelle Abwei- chungen in andere Toͤne haben beſonders da ſtatt, wo ein in ruhigem oder gar froͤhlichen Ton reden- der ploͤzlich durch einen, der in heftiger Leidenſchaft iſt, unterbrochen wird; welches in Opern ofte ge- ſchieht. 3. Weil das Recitativ nicht eigentlich geſungen, ſondern nur mit muſikaliſchen Toͤnen declamirt wird, ſo muß es keine melismatiſche Verziehrungen haben. 4. Jede Sylbe des Textes muß nur durch einen einzigen Ton ausgedruͤkt werden: wenigſtens muß, wenn irgend noch ein andrer zu beſſerm Ausdruk daran geſchleift wird, dieſes ſo geſchehen, daß die deutliche Ausſprach der Sylbe dadurch nicht leidet. 5. Alle grammatiſche Accente muͤſſen dem Syl- benmaaße des Dichters zufolge auf gute, die Syl- ben ohne Accente auf die ſchlechten Takttheile fallen. 6. Die Bewegung muß mit dem beſten Vortrag uͤbereinkommen; ſo daß die Worte, auf denen man im Leſen ſich gern etwas verweilet, mit langen, die Stellen aber, uͤber die man im Leſen wegeilet, mit geſchwinden Noten beſezt werden. 7. Eben ſo muß das Steigen und Fallen der Stimme ſich nach der zunehmenden, oder abnehmen- den Empfindung richten, ſowol auf einzelen Syl- ben, als auf einer Folge von mehrern Sylben. 8. Pauſen ſollen nirgend geſezt werden, als wo im Text wuͤrkliche Einſchnitte, oder Abſchnitte der Saͤze vorkommen. 9. Bey dem voͤlligen Schluß einer Tonart, auf welche eine andere ganz abſtechende kommt, ſoll die Recitativſtimme, wo nicht ſchon die Periode der Rede die Cadenz fodert, auch keine machen. Das Recitativ kann die Cadenz, wenn die Oberſtimme bereits ſchweiget, dem Baß uͤberlaſſen. 10. Die

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 945[927]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/363>, abgerufen am 24.11.2024.