Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch]
Rec 10. Die besondern Arten der Cadenzen, wodurch Fragen, heftige Ausrufungen, streng befehlende Säze sich auszeichnen, müssen eben nicht auf die lezten Sylben des Sazes, sondern gerade auf das Hauptwort, auf dessen Sinn diese Figuren der Rede beruhen, gemacht werden. 11. Die Harmonie soll sich genau nach dem Aus- druk des Textes richten, leicht und consonirend bey geseztem, und fröhlichen; klagend und zärtlich dissoni- rend bey traurigem und zärtlichen Jnhalt; beunru- higend und schneidend dissonirend bey sehr finsterem, bey heftigem und stürmischen Ausdruk seyn. Doch versteht es sich von selbst, daß auch die wiedrigsten Dissonanzen, nach den Regeln der Harmonie sich müssen vertheidigen lassen. Besonders ist hier auf die Mannigfaltigkeit der harmonischen Cadenzen, wodurch man in andere Töne geht, Rüksicht zu nehmen; weil diese das meiste zum Ausdruk bey- tragen. 12. Auch das Piand und Forte mit ihren Schat- tirungen sollen nach Jnhalt des Textes wol beobach- tet werden. 13. Zärtliche, besonders sanft klagende und trau- rige Säze, auch sehr feyerlich Pathetische, die durch einen oder mehrere Redesäze in gleichem Ton der Declamation fortgehen, müssen sowol der Abwechs- lung halber, als weil es sich da sonst gut schiket, Arioso gesezt werden. 14. Als eine Schattirung zwischen dem unglei- chen gemeinen recitativischen Gang, und dem Arioso, kann man, wo es sich wegen des eine Zeitlang an- haltenden gleichförmigen Ganges der Declamation schiket, dem recitirenden Sänger die genau takt- mäßige Bewegung vorschreiben. 15. Endlich wird an Stellen, wo die Rede voll Affekt, aber sehr abgebrochen, und mit einzelen Worten, ohne ordentliche Redesäze fortrükt, das so- genannte Accompagnement angebracht, da die Jn- strumente währendem Pausiren des Redenden, die Empfindung schildern. Dieses sind, wie mich dünkt die Eigenschaften Rec zulegen habe, wird es wol nüzlicher seyn, wennich gute und schlechte Beyspiehle anführe, und einige Anmerkungen darüber beybringe. Einer meiner Freunde, der mit der Theorie der Musik ein feines Gefühl des guten Gesanges verbindet, und dem ich diesen Aufsaz mitgetheilt habe, hat die Gefälligkeit ge- habt, folgende Beyspiehle zur Erläuterung der obi- gen Anmerkungen aufzusuchen, und noch mit eini- gen Anmerkungen zu begleiten. Jch habe nicht nö- thig die Weitläuftigkeit dieses Artikels zu entschuldi- gen; der Mangel an guter Anweisung zum Recita- tiv rechtfertiget mich hinlänglich. (+) Zur Erläuterung der ersten und achten Regel, Hier siehet man zur Erläuterung der ersten Regel Eben dieses gilt von dem Beyspiehl II. Auf Hier sind alle Accorde durch Leittöne und Dissonan- ände- (+) [Spaltenumbruch]
Die Beyspiehle sind Kürze halber auf besondere Blätter abgesezt, und durch römische Zahlen I. II. u. s. f. numerirt worden, und dadurch ist im Text jedes der auf [Spaltenumbruch] den besondern Blättern stehenden Beyspiehle deutlich be- zeichnet worden. [Spaltenumbruch]
Rec 10. Die beſondern Arten der Cadenzen, wodurch Fragen, heftige Ausrufungen, ſtreng befehlende Saͤze ſich auszeichnen, muͤſſen eben nicht auf die lezten Sylben des Sazes, ſondern gerade auf das Hauptwort, auf deſſen Sinn dieſe Figuren der Rede beruhen, gemacht werden. 11. Die Harmonie ſoll ſich genau nach dem Aus- druk des Textes richten, leicht und conſonirend bey geſeztem, und froͤhlichen; klagend und zaͤrtlich diſſoni- rend bey traurigem und zaͤrtlichen Jnhalt; beunru- higend und ſchneidend diſſonirend bey ſehr finſterem, bey heftigem und ſtuͤrmiſchen Ausdruk ſeyn. Doch verſteht es ſich von ſelbſt, daß auch die wiedrigſten Diſſonanzen, nach den Regeln der Harmonie ſich muͤſſen vertheidigen laſſen. Beſonders iſt hier auf die Mannigfaltigkeit der harmoniſchen Cadenzen, wodurch man in andere Toͤne geht, Ruͤkſicht zu nehmen; weil dieſe das meiſte zum Ausdruk bey- tragen. 12. Auch das Piand und Forte mit ihren Schat- tirungen ſollen nach Jnhalt des Textes wol beobach- tet werden. 13. Zaͤrtliche, beſonders ſanft klagende und trau- rige Saͤze, auch ſehr feyerlich Pathetiſche, die durch einen oder mehrere Redeſaͤze in gleichem Ton der Declamation fortgehen, muͤſſen ſowol der Abwechs- lung halber, als weil es ſich da ſonſt gut ſchiket, Arioſo geſezt werden. 14. Als eine Schattirung zwiſchen dem unglei- chen gemeinen recitativiſchen Gang, und dem Arioſo, kann man, wo es ſich wegen des eine Zeitlang an- haltenden gleichfoͤrmigen Ganges der Declamation ſchiket, dem recitirenden Saͤnger die genau takt- maͤßige Bewegung vorſchreiben. 15. Endlich wird an Stellen, wo die Rede voll Affekt, aber ſehr abgebrochen, und mit einzelen Worten, ohne ordentliche Redeſaͤze fortruͤkt, das ſo- genannte Accompagnement angebracht, da die Jn- ſtrumente waͤhrendem Pauſiren des Redenden, die Empfindung ſchildern. Dieſes ſind, wie mich duͤnkt die Eigenſchaften Rec zulegen habe, wird es wol nuͤzlicher ſeyn, wennich gute und ſchlechte Beyſpiehle anfuͤhre, und einige Anmerkungen daruͤber beybringe. Einer meiner Freunde, der mit der Theorie der Muſik ein feines Gefuͤhl des guten Geſanges verbindet, und dem ich dieſen Aufſaz mitgetheilt habe, hat die Gefaͤlligkeit ge- habt, folgende Beyſpiehle zur Erlaͤuterung der obi- gen Anmerkungen aufzuſuchen, und noch mit eini- gen Anmerkungen zu begleiten. Jch habe nicht noͤ- thig die Weitlaͤuftigkeit dieſes Artikels zu entſchuldi- gen; der Mangel an guter Anweiſung zum Recita- tiv rechtfertiget mich hinlaͤnglich. (†) Zur Erlaͤuterung der erſten und achten Regel, Hier ſiehet man zur Erlaͤuterung der erſten Regel Eben dieſes gilt von dem Beyſpiehl II. Auf Hier ſind alle Accorde durch Leittoͤne und Diſſonan- aͤnde- (†) [Spaltenumbruch]
Die Beyſpiehle ſind Kuͤrze halber auf beſondere Blaͤtter abgeſezt, und durch roͤmiſche Zahlen I. II. u. ſ. f. numerirt worden, und dadurch iſt im Text jedes der auf [Spaltenumbruch] den beſondern Blaͤttern ſtehenden Beyſpiehle deutlich be- zeichnet worden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0364" n="946[928]"/> <cb/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Rec</hi> </fw><lb/> <list> <item>10. Die beſondern Arten der Cadenzen, wodurch<lb/> Fragen, heftige Ausrufungen, ſtreng befehlende<lb/> Saͤze ſich auszeichnen, muͤſſen eben nicht auf die<lb/> lezten Sylben des Sazes, ſondern gerade auf das<lb/> Hauptwort, auf deſſen Sinn dieſe Figuren der Rede<lb/> beruhen, gemacht werden.</item><lb/> <item>11. 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Rec
Rec
10. Die beſondern Arten der Cadenzen, wodurch
Fragen, heftige Ausrufungen, ſtreng befehlende
Saͤze ſich auszeichnen, muͤſſen eben nicht auf die
lezten Sylben des Sazes, ſondern gerade auf das
Hauptwort, auf deſſen Sinn dieſe Figuren der Rede
beruhen, gemacht werden.
11. Die Harmonie ſoll ſich genau nach dem Aus-
druk des Textes richten, leicht und conſonirend bey
geſeztem, und froͤhlichen; klagend und zaͤrtlich diſſoni-
rend bey traurigem und zaͤrtlichen Jnhalt; beunru-
higend und ſchneidend diſſonirend bey ſehr finſterem,
bey heftigem und ſtuͤrmiſchen Ausdruk ſeyn. Doch
verſteht es ſich von ſelbſt, daß auch die wiedrigſten
Diſſonanzen, nach den Regeln der Harmonie ſich
muͤſſen vertheidigen laſſen. Beſonders iſt hier auf
die Mannigfaltigkeit der harmoniſchen Cadenzen,
wodurch man in andere Toͤne geht, Ruͤkſicht zu
nehmen; weil dieſe das meiſte zum Ausdruk bey-
tragen.
12. Auch das Piand und Forte mit ihren Schat-
tirungen ſollen nach Jnhalt des Textes wol beobach-
tet werden.
13. Zaͤrtliche, beſonders ſanft klagende und trau-
rige Saͤze, auch ſehr feyerlich Pathetiſche, die durch
einen oder mehrere Redeſaͤze in gleichem Ton der
Declamation fortgehen, muͤſſen ſowol der Abwechs-
lung halber, als weil es ſich da ſonſt gut ſchiket,
Arioſo geſezt werden.
14. Als eine Schattirung zwiſchen dem unglei-
chen gemeinen recitativiſchen Gang, und dem Arioſo,
kann man, wo es ſich wegen des eine Zeitlang an-
haltenden gleichfoͤrmigen Ganges der Declamation
ſchiket, dem recitirenden Saͤnger die genau takt-
maͤßige Bewegung vorſchreiben.
15. Endlich wird an Stellen, wo die Rede voll
Affekt, aber ſehr abgebrochen, und mit einzelen
Worten, ohne ordentliche Redeſaͤze fortruͤkt, das ſo-
genannte Accompagnement angebracht, da die Jn-
ſtrumente waͤhrendem Pauſiren des Redenden, die
Empfindung ſchildern.
Dieſes ſind, wie mich duͤnkt die Eigenſchaften
eines vollkommenen Recitatives. Anſtatt einer wort-
reichen und vielleicht unnuͤzen Anleitung, wie der
Tonſezer jede dieſer Eigenſchaften in das Recitativ
zulegen habe, wird es wol nuͤzlicher ſeyn, wenn
ich gute und ſchlechte Beyſpiehle anfuͤhre, und einige
Anmerkungen daruͤber beybringe. Einer meiner
Freunde, der mit der Theorie der Muſik ein feines
Gefuͤhl des guten Geſanges verbindet, und dem ich
dieſen Aufſaz mitgetheilt habe, hat die Gefaͤlligkeit ge-
habt, folgende Beyſpiehle zur Erlaͤuterung der obi-
gen Anmerkungen aufzuſuchen, und noch mit eini-
gen Anmerkungen zu begleiten. Jch habe nicht noͤ-
thig die Weitlaͤuftigkeit dieſes Artikels zu entſchuldi-
gen; der Mangel an guter Anweiſung zum Recita-
tiv rechtfertiget mich hinlaͤnglich. (†)
Zur Erlaͤuterung der erſten und achten Regel,
dienet das Beyſpiehl I.
Hier ſiehet man zur Erlaͤuterung der erſten Regel
Einſchnitte von verſchiedener Laͤnge und Kuͤrze, ſo
wie es der Text erfoderte. Zugleich aber hat man
ein Beyſpiehl, wie gegen die achte Regel gefehlt
wird; denn bey dem Worte Goͤtter + iſt ein foͤrm-
licher Einſchnitt in der Melodie und Harmonie, der
erſt bey dem Worte Menſchen haͤtte fuͤhlbar gemacht
werden ſollen.
Eben dieſes gilt von dem Beyſpiehl II. Auf
dem Worte Herz wird mit dem G mollaccord eine
harmoniſche Ruhe bewuͤrkt, da doch der Sinn der
Worte noch nicht vollendet iſt. Jn beyden Stel-
len, die hier getadelt werden, ſind auch die Pauſen
unſchiklich angebracht. Hier muß noch zur Ergaͤn-
zung der achten Regel angemerkt werden, daß kein
Leitton noch eine Diſſonanz eher reſolviren muß,
als bis ein voͤlliger Sinn der Worte zu End iſt.
Waͤre der Saz aber lang, oder faͤnde man des Aus-
druks wegen noͤthig, die Harmonie oft abzuwechſeln;
ſo muͤßte bey jeder Reſolution des Leittones oder der
Diſſonanz, ſogleich ein anderer Leitton, oder eine
neue Diſſonanz eintreten, damit die Erwartung auch
in der Harmonie unterhalten werde, wie in folgen-
dem Recitativ III. von Graun.
Hier ſind alle Accorde durch Leittoͤne und Diſſonan-
zen in einander geſchlungen, außer bey dem einzi-
gen Wort dolor +, wo aber das Recitativ keine
Pauſe hat, ſondern fortgeht; daher man erſt am
Ende deſſelben in Ruhe geſezt wird. Solche Ver-
aͤnde-
(†)
Die Beyſpiehle ſind Kuͤrze halber auf beſondere
Blaͤtter abgeſezt, und durch roͤmiſche Zahlen I. II. u. ſ. f.
numerirt worden, und dadurch iſt im Text jedes der auf
den beſondern Blaͤttern ſtehenden Beyſpiehle deutlich be-
zeichnet worden.
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