dadurch der Sinn dieses Sazes ganz verstellt. Ue- ber der ersten Sylbe des Worts Schlägen, sollte [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt] statt fis stehen, nämlich also:
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dadurch erhielte dieses Wort den Nachdruck, der ihm zukömmt, und der unnatürliche Sprung der ver- minderten Quarte zu der lezten kurzen Sylbe die- ses Worts wäre vermieden. Jm dritten Saz stehn die Worte er und Mund auf einem unrechten Takt- viertel. Dann giebt die natürliche Deklamation den Ton des Endfalls dieses Sazes an;
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Auf folgende Art wäre der ganze Saz mit Beybe- haltung derselben Harmonie in ein besseres Geschik gebracht. S. VIII.
Das Anfangswort des lezten Sazes wird wegen des Nachdruks, der auf die erste kurze Sylbe desselben gelegt ist, und der durch den Sprung von der vor- hergegangenen tiefen Note entsteht, ungemein ver- stellt. Man beruft sich bey solchen Stellen insge- mein auf den Vortrag guter Sänger, die statt
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fingen; aber warum schreibt man nicht lieber so? Das Wort Missethäter steht auf einen unrechten Taktviertel, welches durch die unnatürliche Pause, nach dem Worte gerechnet, entstanden ist. Das Wort fleht sollte, ob es gleich kurz ist, eine höhere Note haben, und nicht das Beywort er. Eben die- ses gilt von der Präposition für, und der ersten Sylbe von hinauf, da das Hauptwort Gott weder Takt- gewicht noch nachdrükliche Höhe hat. Der Ton- sezer hat, wie man sieht, ängstlich gesucht, in der Singstimme etwas Flehendes hineinzubringen. Die- ses gilt hier, so viel wie nichts: hier soll nicht mehr, nicht weniger als vorher geflehet werden, sondern mit Nachdruk deklamiret werden, was der Mund der Väter gesprochen hat. Der ganze Saz könnte mit einer geringen Veränderung der Harmonie ohn- [Spaltenumbruch]
Rec
gefähr so verbessert werden, wie bey IX. oder wie bey X.
Der Anfang des Sazes: Zur Schlachtbank etc. ist nach dem, was vorhergegangen ist, ganz und gar unsangbar: nicht wegen des Sprunges der übermäßi- gen Quarte d-gis, den ein etwas geübter Sänger recht gut treffen kann; sondern wegen der vorhergegangenen plözlichen Abänderung der Harmonie in zwey abgele- gene Töne. Der Sänger schließt dem vorhergehenden Saz in G moll; indem er nun diesen Accord in der Begleitung erwartet, wird er kaum berühret, und gleich darauf ein Accord angeschlagen, dessen Grund- accord E dur, und von G moll sehr entlegen ist. Die- ses verursachet, daß er von dem folgenden Saz we- der das erste d noch das zweyte gis treffen kann.
Das Baßrecitativ in dem Graunischen Tod Jesu, das sich mit den Worten anfängt: Auf einmal fällt der aufgehaltne Schmerz, kann fürnehmlich über über die fünfte und siebente Regel zum Muster die- nen, das vollkommen ist.
Die sechste Regel hat Graun sehr genau beobach- tet. S. XI.
Viele Singcomponisten wollen, daß im Recitativ niemals mehr als zwey, höchstens drey Sechzehn- theile auf einander folgen sollen. Man findet die- ses in den Telemannischen und Scheibischen Recita- tiven genau beobachtet. Jn den tragischen Canta- ten ist eher gegen den Accent der Sprache, und das natürliche Taktgewicht, als gegen diese Regel gefeh- let. Man sehe gleich das erste Recitativ: Zwar hier mein Theseus glänzt kein stiller Sommertag. u. s. w. S. XII. Das unnatürliche Taktgewicht auf der lezten Sylbe von kretischen, wäre folgender- gestalt (S. XIII) vermieden, und dem Sänger an- gezeiget worden, daß er über die Worte, die von keiner sonderlichen Bedeutung sind, wegeilen solle.
Wenn es wahr ist, daß man dem Vortrag des Sän- gers vieles in Recitativen überlassen muß, so ist es doch auch eben so wahr, daß es wiedersinnig ist, wenn der Tonsezer nicht alles, was in seinem Vermögen steht, anwendet, dem Sänger den Vortrag eines jeden Sazes zu bezeichnen. Der Sänger fühlt doch wohl nicht mehr, als der Componist.
Welche schöne Exempel von Graun kommen mir bey der siebenten Regel vor! Das erste ist aus der Cantate Apollo amante di Dafne. Apollo ruft, als er die Verwandlung gewahr wird. S. XIV.
Die
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Rec
dadurch der Sinn dieſes Sazes ganz verſtellt. Ue- ber der erſten Sylbe des Worts Schlaͤgen, ſollte [unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt] ſtatt fis ſtehen, naͤmlich alſo:
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dadurch erhielte dieſes Wort den Nachdruck, der ihm zukoͤmmt, und der unnatuͤrliche Sprung der ver- minderten Quarte zu der lezten kurzen Sylbe die- ſes Worts waͤre vermieden. Jm dritten Saz ſtehn die Worte er und Mund auf einem unrechten Takt- viertel. Dann giebt die natuͤrliche Deklamation den Ton des Endfalls dieſes Sazes an;
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Auf folgende Art waͤre der ganze Saz mit Beybe- haltung derſelben Harmonie in ein beſſeres Geſchik gebracht. S. VIII.
Das Anfangswort des lezten Sazes wird wegen des Nachdruks, der auf die erſte kurze Sylbe deſſelben gelegt iſt, und der durch den Sprung von der vor- hergegangenen tiefen Note entſteht, ungemein ver- ſtellt. Man beruft ſich bey ſolchen Stellen insge- mein auf den Vortrag guter Saͤnger, die ſtatt
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fingen; aber warum ſchreibt man nicht lieber ſo? Das Wort Miſſethaͤter ſteht auf einen unrechten Taktviertel, welches durch die unnatuͤrliche Pauſe, nach dem Worte gerechnet, entſtanden iſt. Das Wort fleht ſollte, ob es gleich kurz iſt, eine hoͤhere Note haben, und nicht das Beywort er. Eben die- ſes gilt von der Praͤpoſition fuͤr, und der erſten Sylbe von hinauf, da das Hauptwort Gott weder Takt- gewicht noch nachdruͤkliche Hoͤhe hat. Der Ton- ſezer hat, wie man ſieht, aͤngſtlich geſucht, in der Singſtimme etwas Flehendes hineinzubringen. Die- ſes gilt hier, ſo viel wie nichts: hier ſoll nicht mehr, nicht weniger als vorher geflehet werden, ſondern mit Nachdruk deklamiret werden, was der Mund der Vaͤter geſprochen hat. Der ganze Saz koͤnnte mit einer geringen Veraͤnderung der Harmonie ohn- [Spaltenumbruch]
Rec
gefaͤhr ſo verbeſſert werden, wie bey IX. oder wie bey X.
Der Anfang des Sazes: Zur Schlachtbank ꝛc. iſt nach dem, was vorhergegangen iſt, ganz und gar unſangbar: nicht wegen des Sprunges der uͤbermaͤßi- gen Quarte d-gis, den ein etwas geuͤbter Saͤnger recht gut treffen kann; ſondern wegen der vorhergegangenen ploͤzlichen Abaͤnderung der Harmonie in zwey abgele- gene Toͤne. Der Saͤnger ſchließt dem vorhergehenden Saz in G moll; indem er nun dieſen Accord in der Begleitung erwartet, wird er kaum beruͤhret, und gleich darauf ein Accord angeſchlagen, deſſen Grund- accord E dur, und von G moll ſehr entlegen iſt. Die- ſes verurſachet, daß er von dem folgenden Saz we- der das erſte d noch das zweyte gis treffen kann.
Das Baßrecitativ in dem Grauniſchen Tod Jeſu, das ſich mit den Worten anfaͤngt: Auf einmal faͤllt der aufgehaltne Schmerz, kann fuͤrnehmlich uͤber uͤber die fuͤnfte und ſiebente Regel zum Muſter die- nen, das vollkommen iſt.
Die ſechſte Regel hat Graun ſehr genau beobach- tet. S. XI.
Viele Singcomponiſten wollen, daß im Recitativ niemals mehr als zwey, hoͤchſtens drey Sechzehn- theile auf einander folgen ſollen. Man findet die- ſes in den Telemanniſchen und Scheibiſchen Recita- tiven genau beobachtet. Jn den tragiſchen Canta- ten iſt eher gegen den Accent der Sprache, und das natuͤrliche Taktgewicht, als gegen dieſe Regel gefeh- let. Man ſehe gleich das erſte Recitativ: Zwar hier mein Theſeus glaͤnzt kein ſtiller Sommertag. u. ſ. w. S. XII. Das unnatuͤrliche Taktgewicht auf der lezten Sylbe von kretiſchen, waͤre folgender- geſtalt (S. XIII) vermieden, und dem Saͤnger an- gezeiget worden, daß er uͤber die Worte, die von keiner ſonderlichen Bedeutung ſind, wegeilen ſolle.
Wenn es wahr iſt, daß man dem Vortrag des Saͤn- gers vieles in Recitativen uͤberlaſſen muß, ſo iſt es doch auch eben ſo wahr, daß es wiederſinnig iſt, wenn der Tonſezer nicht alles, was in ſeinem Vermoͤgen ſteht, anwendet, dem Saͤnger den Vortrag eines jeden Sazes zu bezeichnen. Der Saͤnger fuͤhlt doch wohl nicht mehr, als der Componiſt.
Welche ſchoͤne Exempel von Graun kommen mir bey der ſiebenten Regel vor! Das erſte iſt aus der Cantate Apollo amante di Dafne. Apollo ruft, als er die Verwandlung gewahr wird. S. XIV.
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[948[930]/0377]
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dadurch der Sinn dieſes Sazes ganz verſtellt. Ue-
ber der erſten Sylbe des Worts Schlaͤgen, ſollte
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dadurch erhielte dieſes Wort den Nachdruck, der ihm
zukoͤmmt, und der unnatuͤrliche Sprung der ver-
minderten Quarte zu der lezten kurzen Sylbe die-
ſes Worts waͤre vermieden. Jm dritten Saz ſtehn
die Worte er und Mund auf einem unrechten Takt-
viertel. Dann giebt die natuͤrliche Deklamation
den Ton des Endfalls dieſes Sazes an;
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Auf folgende Art waͤre der ganze Saz mit Beybe-
haltung derſelben Harmonie in ein beſſeres Geſchik
gebracht. S. VIII.
Das Anfangswort des lezten Sazes wird wegen des
Nachdruks, der auf die erſte kurze Sylbe deſſelben
gelegt iſt, und der durch den Sprung von der vor-
hergegangenen tiefen Note entſteht, ungemein ver-
ſtellt. Man beruft ſich bey ſolchen Stellen insge-
mein auf den Vortrag guter Saͤnger, die ſtatt
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fingen; aber warum ſchreibt man nicht lieber ſo?
Das Wort Miſſethaͤter ſteht auf einen unrechten
Taktviertel, welches durch die unnatuͤrliche Pauſe,
nach dem Worte gerechnet, entſtanden iſt. Das
Wort fleht ſollte, ob es gleich kurz iſt, eine hoͤhere
Note haben, und nicht das Beywort er. Eben die-
ſes gilt von der Praͤpoſition fuͤr, und der erſten Sylbe
von hinauf, da das Hauptwort Gott weder Takt-
gewicht noch nachdruͤkliche Hoͤhe hat. Der Ton-
ſezer hat, wie man ſieht, aͤngſtlich geſucht, in der
Singſtimme etwas Flehendes hineinzubringen. Die-
ſes gilt hier, ſo viel wie nichts: hier ſoll nicht mehr,
nicht weniger als vorher geflehet werden, ſondern
mit Nachdruk deklamiret werden, was der Mund
der Vaͤter geſprochen hat. Der ganze Saz koͤnnte
mit einer geringen Veraͤnderung der Harmonie ohn-
gefaͤhr ſo verbeſſert werden, wie bey IX. oder wie
bey X.
Der Anfang des Sazes: Zur Schlachtbank ꝛc. iſt
nach dem, was vorhergegangen iſt, ganz und gar
unſangbar: nicht wegen des Sprunges der uͤbermaͤßi-
gen Quarte d-gis, den ein etwas geuͤbter Saͤnger recht
gut treffen kann; ſondern wegen der vorhergegangenen
ploͤzlichen Abaͤnderung der Harmonie in zwey abgele-
gene Toͤne. Der Saͤnger ſchließt dem vorhergehenden
Saz in G moll; indem er nun dieſen Accord in der
Begleitung erwartet, wird er kaum beruͤhret, und
gleich darauf ein Accord angeſchlagen, deſſen Grund-
accord E dur, und von G moll ſehr entlegen iſt. Die-
ſes verurſachet, daß er von dem folgenden Saz we-
der das erſte d noch das zweyte gis treffen kann.
Das Baßrecitativ in dem Grauniſchen Tod Jeſu,
das ſich mit den Worten anfaͤngt: Auf einmal faͤllt
der aufgehaltne Schmerz, kann fuͤrnehmlich uͤber
uͤber die fuͤnfte und ſiebente Regel zum Muſter die-
nen, das vollkommen iſt.
Die ſechſte Regel hat Graun ſehr genau beobach-
tet. S. XI.
Viele Singcomponiſten wollen, daß im Recitativ
niemals mehr als zwey, hoͤchſtens drey Sechzehn-
theile auf einander folgen ſollen. Man findet die-
ſes in den Telemanniſchen und Scheibiſchen Recita-
tiven genau beobachtet. Jn den tragiſchen Canta-
ten iſt eher gegen den Accent der Sprache, und das
natuͤrliche Taktgewicht, als gegen dieſe Regel gefeh-
let. Man ſehe gleich das erſte Recitativ: Zwar hier
mein Theſeus glaͤnzt kein ſtiller Sommertag. u.
ſ. w. S. XII. Das unnatuͤrliche Taktgewicht
auf der lezten Sylbe von kretiſchen, waͤre folgender-
geſtalt (S. XIII) vermieden, und dem Saͤnger an-
gezeiget worden, daß er uͤber die Worte, die von
keiner ſonderlichen Bedeutung ſind, wegeilen ſolle.
Wenn es wahr iſt, daß man dem Vortrag des Saͤn-
gers vieles in Recitativen uͤberlaſſen muß, ſo iſt es
doch auch eben ſo wahr, daß es wiederſinnig iſt, wenn
der Tonſezer nicht alles, was in ſeinem Vermoͤgen
ſteht, anwendet, dem Saͤnger den Vortrag eines
jeden Sazes zu bezeichnen. Der Saͤnger fuͤhlt doch
wohl nicht mehr, als der Componiſt.
Welche ſchoͤne Exempel von Graun kommen mir
bey der ſiebenten Regel vor! Das erſte iſt aus der
Cantate Apollo amante di Dafne. Apollo ruft,
als er die Verwandlung gewahr wird. S. XIV.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 948[930]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/377>, abgerufen am 24.11.2024.
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