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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Schr
von der Schreibart herrühren. Die Regel, welche
Horaz für den rührenden Jnhalt giebt:

-- si vis me flere, dolendum est
Primum ipsi tibi.

kann ohne alle Ausnahm auf jede Art des Jnhalts
angewendet werden. Der Lehrer, welcher den Cha-
rakter einer inneren Ueberzeugung, einer auf sein
eigenes Herz würkenden Kraft der Wahrheit in sei-
ner Schreibart empfinden läßt, kann sicher seyn,
nicht blos den spekulativen Verstand zu überzeugen,
sondern die Wahrheit auch würksam zu machen;
und wer durch seinen Stoff sanft, oder lebhaft ver-
gnügen oder ergözen will, hat den Endzwek schon
zur Hälfte erreicht, wenn seine Schreibart den Cha-
rakter dieser Art des Vergnügens empfinden läßt.
Darum bedärf es weiter keiner Erinnerung daß bey
jedem Werke des Geschmaks besondere Sorgfalt auf
die Schreibart zu wenden sey.

Wir wollen nun versuchen die verschiedenen zur
Schreibart gehörigen Punkte etwas näher zu bestim-
men. Hier entstehen also die Fragen: 1. wie wir
in einem Werke von dem Materiellen, oder den Ge-
danken selbst, das, was zur Schreibart muß gerech-
net werden, von dem übrigen unterscheiden sollen,
und 2. was auch im Ausdruk als eine Würkung der
Schreibart anzusehen sey? Allgemein haben wir die
Fragen vorher schon beantwortet. Wir wollen hier
die gegebene Regel auf jeden der beyden Punkte be-
sonders anwenden.

1. Man stelle sich bey jedem Werk die Materie,
oder den Stoff desselben und den Zwek des Verfassers,
so genau und bestimmt als es möglich ist, vor, und
beurtheile jeden einzelen Gedanken, jeden Begriff,
um zu entdeken, ob er wesentlich zum Stoff und
zum Endzwek des Verfassers gehöre, oder doch so
natürlich damit verbunden sey, daß er jedem scharf-
sinnigen und nachdenkenden Verfasser, dem wir izt
keinen besonders ausgezeichneten Charakter, keine
merkliche Laune zuschreiben, nothwendig oder na-
türlich eingefallen wäre. Jst dieses, so gehört er
zum Stoff und nicht zur Schreibart; finden wir ihn
aber von so besonderer Art, daß er mehr aus dem
besondern Charakter des Verfassers, oder aus seiner
[Spaltenumbruch]

Schr
besondern Laune entstanden ist, so müssen wir ihn
zur Schreibart rechnen. Beyspiehle werden dieses
erläutern. Cicero sagt in seiner ersten catilinarischen
Rede unter andern folgendes: "Da nun die Sachen
so stehen, Catilina, so fahre fort, wie du angefan-
gen; begieb dich endlich aus der Stadt; die Thore
stehen dir offen, zieh heraus -- Führ auch alle
deine Anhänger mit dir heraus, wenigstens die mei-
sten davon. Reinige die Stadt -- Unter uns
kannst du nun nicht länger wohnen, das kann ich
nicht ertragen, ich will und kann es nicht leiden (+)."
Das Wesentliche ist hier die ernstliche Mahnung,
Catilina soll mit seinem Anhang aus der Stadt wei-
chen; weil er nach dem, was von seinem Anschlag
entdekt worden, nicht weiter darin könne gelitten
werden. Dieser Gedanken fließt natürlicher Weise
aus dem vorhergehenden, und jeder Mann von Ueber-
legung, der die Sache aus dem Gesichtspunkt ange-
sehen hätte, aus dem der Consul sie sah, würde
denselben gehabt haben. Aber die Nebengedanken:
die Thore stehen dir offen; die Wiederholung:
zieh heraus; der schimpfliche Vorwurf: reinige die
Stadt;
der lezte Zusaz -- ich will und kann es
nicht leiden,
sind Gedanken der Schreibart, die aus
dem besondern Charakter des Redners entstanden
sind, der in allen seinen Reden etwas von diesem
Ueberfluß der Gedanken zeiget. Dergleichen Zusäze
zu dem Wesentlichen der Gedanken, und solche Ne-
benbegriffe, die nicht aus genauer Ueberlegung der
Sachen entstehen, sondern in dem Charakter oder
in der gegenwärtigen Gemüthslage des Redenden
ihren Grund haben, mischen sich meistentheils ohne
sein Bewußtseyn unter die Hauptgedanken, und
gehören deswegen zu seiner besondern Schreibart.
Aufgewekten und lustigen Personen kommen scherz-
hafte, lustige Nebenbegriffe, indem sie an die Haupt-
sache denken; dem ernsthaften etwas finsteren Manne
fallen ernsthafte, auch wol verdrießliche Nebengedan-
ken ein; dem Wollüstigen wollüstige, und so jedem
andern solche, die seinem Charakter, oder der gegen-
wärtigen Laune gemäß sind. Diese Nebengedanken
aber machen bey der Schreibart eine Hauptsache,
aus. Daher kommt es, daß der spekulative, me-
taphysische Kopf die Hauptsache, die jeder andere

blos
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Quae cum ita sint Catilina, perge quo coepisti; egre-
dere aliquando ex urbe; patent portae, proficiscere. -- Educ
tecum etiam omnes tuos, si minus quam plurimos. Purga
[Spaltenumbruch] urbem -- Nobiscum versari jam diatius non potes; non
feram, non patiar, non sinam.

[Spaltenumbruch]

Schr
von der Schreibart herruͤhren. Die Regel, welche
Horaz fuͤr den ruͤhrenden Jnhalt giebt:

ſi vis me flere, dolendum eſt
Primum ipſi tibi.

kann ohne alle Ausnahm auf jede Art des Jnhalts
angewendet werden. Der Lehrer, welcher den Cha-
rakter einer inneren Ueberzeugung, einer auf ſein
eigenes Herz wuͤrkenden Kraft der Wahrheit in ſei-
ner Schreibart empfinden laͤßt, kann ſicher ſeyn,
nicht blos den ſpekulativen Verſtand zu uͤberzeugen,
ſondern die Wahrheit auch wuͤrkſam zu machen;
und wer durch ſeinen Stoff ſanft, oder lebhaft ver-
gnuͤgen oder ergoͤzen will, hat den Endzwek ſchon
zur Haͤlfte erreicht, wenn ſeine Schreibart den Cha-
rakter dieſer Art des Vergnuͤgens empfinden laͤßt.
Darum bedaͤrf es weiter keiner Erinnerung daß bey
jedem Werke des Geſchmaks beſondere Sorgfalt auf
die Schreibart zu wenden ſey.

Wir wollen nun verſuchen die verſchiedenen zur
Schreibart gehoͤrigen Punkte etwas naͤher zu beſtim-
men. Hier entſtehen alſo die Fragen: 1. wie wir
in einem Werke von dem Materiellen, oder den Ge-
danken ſelbſt, das, was zur Schreibart muß gerech-
net werden, von dem uͤbrigen unterſcheiden ſollen,
und 2. was auch im Ausdruk als eine Wuͤrkung der
Schreibart anzuſehen ſey? Allgemein haben wir die
Fragen vorher ſchon beantwortet. Wir wollen hier
die gegebene Regel auf jeden der beyden Punkte be-
ſonders anwenden.

1. Man ſtelle ſich bey jedem Werk die Materie,
oder den Stoff deſſelben und den Zwek des Verfaſſers,
ſo genau und beſtimmt als es moͤglich iſt, vor, und
beurtheile jeden einzelen Gedanken, jeden Begriff,
um zu entdeken, ob er weſentlich zum Stoff und
zum Endzwek des Verfaſſers gehoͤre, oder doch ſo
natuͤrlich damit verbunden ſey, daß er jedem ſcharf-
ſinnigen und nachdenkenden Verfaſſer, dem wir izt
keinen beſonders ausgezeichneten Charakter, keine
merkliche Laune zuſchreiben, nothwendig oder na-
tuͤrlich eingefallen waͤre. Jſt dieſes, ſo gehoͤrt er
zum Stoff und nicht zur Schreibart; finden wir ihn
aber von ſo beſonderer Art, daß er mehr aus dem
beſondern Charakter des Verfaſſers, oder aus ſeiner
[Spaltenumbruch]

Schr
beſondern Laune entſtanden iſt, ſo muͤſſen wir ihn
zur Schreibart rechnen. Beyſpiehle werden dieſes
erlaͤutern. Cicero ſagt in ſeiner erſten catilinariſchen
Rede unter andern folgendes: „Da nun die Sachen
ſo ſtehen, Catilina, ſo fahre fort, wie du angefan-
gen; begieb dich endlich aus der Stadt; die Thore
ſtehen dir offen, zieh heraus — Fuͤhr auch alle
deine Anhaͤnger mit dir heraus, wenigſtens die mei-
ſten davon. Reinige die Stadt — Unter uns
kannſt du nun nicht laͤnger wohnen, das kann ich
nicht ertragen, ich will und kann es nicht leiden (†).„
Das Weſentliche iſt hier die ernſtliche Mahnung,
Catilina ſoll mit ſeinem Anhang aus der Stadt wei-
chen; weil er nach dem, was von ſeinem Anſchlag
entdekt worden, nicht weiter darin koͤnne gelitten
werden. Dieſer Gedanken fließt natuͤrlicher Weiſe
aus dem vorhergehenden, und jeder Mann von Ueber-
legung, der die Sache aus dem Geſichtspunkt ange-
ſehen haͤtte, aus dem der Conſul ſie ſah, wuͤrde
denſelben gehabt haben. Aber die Nebengedanken:
die Thore ſtehen dir offen; die Wiederholung:
zieh heraus; der ſchimpfliche Vorwurf: reinige die
Stadt;
der lezte Zuſaz — ich will und kann es
nicht leiden,
ſind Gedanken der Schreibart, die aus
dem beſondern Charakter des Redners entſtanden
ſind, der in allen ſeinen Reden etwas von dieſem
Ueberfluß der Gedanken zeiget. Dergleichen Zuſaͤze
zu dem Weſentlichen der Gedanken, und ſolche Ne-
benbegriffe, die nicht aus genauer Ueberlegung der
Sachen entſtehen, ſondern in dem Charakter oder
in der gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage des Redenden
ihren Grund haben, miſchen ſich meiſtentheils ohne
ſein Bewußtſeyn unter die Hauptgedanken, und
gehoͤren deswegen zu ſeiner beſondern Schreibart.
Aufgewekten und luſtigen Perſonen kommen ſcherz-
hafte, luſtige Nebenbegriffe, indem ſie an die Haupt-
ſache denken; dem ernſthaften etwas finſteren Manne
fallen ernſthafte, auch wol verdrießliche Nebengedan-
ken ein; dem Wolluͤſtigen wolluͤſtige, und ſo jedem
andern ſolche, die ſeinem Charakter, oder der gegen-
waͤrtigen Laune gemaͤß ſind. Dieſe Nebengedanken
aber machen bey der Schreibart eine Hauptſache,
aus. Daher kommt es, daß der ſpekulative, me-
taphyſiſche Kopf die Hauptſache, die jeder andere

blos
(†) [Spaltenumbruch]
Quæ cum ita ſint Catilina, perge quo cœpiſti; egre-
dere aliquando ex urbe; patent portæ, proficiſcere. — Educ
tecum etiam omnes tuos, ſi minus quam plurimos. Purga
[Spaltenumbruch] urbem — Nobiscum verſari jam diatius non potes; non
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[1050[1032]/0479] Schr Schr von der Schreibart herruͤhren. Die Regel, welche Horaz fuͤr den ruͤhrenden Jnhalt giebt: — ſi vis me flere, dolendum eſt Primum ipſi tibi. kann ohne alle Ausnahm auf jede Art des Jnhalts angewendet werden. Der Lehrer, welcher den Cha- rakter einer inneren Ueberzeugung, einer auf ſein eigenes Herz wuͤrkenden Kraft der Wahrheit in ſei- ner Schreibart empfinden laͤßt, kann ſicher ſeyn, nicht blos den ſpekulativen Verſtand zu uͤberzeugen, ſondern die Wahrheit auch wuͤrkſam zu machen; und wer durch ſeinen Stoff ſanft, oder lebhaft ver- gnuͤgen oder ergoͤzen will, hat den Endzwek ſchon zur Haͤlfte erreicht, wenn ſeine Schreibart den Cha- rakter dieſer Art des Vergnuͤgens empfinden laͤßt. Darum bedaͤrf es weiter keiner Erinnerung daß bey jedem Werke des Geſchmaks beſondere Sorgfalt auf die Schreibart zu wenden ſey. Wir wollen nun verſuchen die verſchiedenen zur Schreibart gehoͤrigen Punkte etwas naͤher zu beſtim- men. Hier entſtehen alſo die Fragen: 1. wie wir in einem Werke von dem Materiellen, oder den Ge- danken ſelbſt, das, was zur Schreibart muß gerech- net werden, von dem uͤbrigen unterſcheiden ſollen, und 2. was auch im Ausdruk als eine Wuͤrkung der Schreibart anzuſehen ſey? Allgemein haben wir die Fragen vorher ſchon beantwortet. Wir wollen hier die gegebene Regel auf jeden der beyden Punkte be- ſonders anwenden. 1. Man ſtelle ſich bey jedem Werk die Materie, oder den Stoff deſſelben und den Zwek des Verfaſſers, ſo genau und beſtimmt als es moͤglich iſt, vor, und beurtheile jeden einzelen Gedanken, jeden Begriff, um zu entdeken, ob er weſentlich zum Stoff und zum Endzwek des Verfaſſers gehoͤre, oder doch ſo natuͤrlich damit verbunden ſey, daß er jedem ſcharf- ſinnigen und nachdenkenden Verfaſſer, dem wir izt keinen beſonders ausgezeichneten Charakter, keine merkliche Laune zuſchreiben, nothwendig oder na- tuͤrlich eingefallen waͤre. Jſt dieſes, ſo gehoͤrt er zum Stoff und nicht zur Schreibart; finden wir ihn aber von ſo beſonderer Art, daß er mehr aus dem beſondern Charakter des Verfaſſers, oder aus ſeiner beſondern Laune entſtanden iſt, ſo muͤſſen wir ihn zur Schreibart rechnen. Beyſpiehle werden dieſes erlaͤutern. Cicero ſagt in ſeiner erſten catilinariſchen Rede unter andern folgendes: „Da nun die Sachen ſo ſtehen, Catilina, ſo fahre fort, wie du angefan- gen; begieb dich endlich aus der Stadt; die Thore ſtehen dir offen, zieh heraus — Fuͤhr auch alle deine Anhaͤnger mit dir heraus, wenigſtens die mei- ſten davon. Reinige die Stadt — Unter uns kannſt du nun nicht laͤnger wohnen, das kann ich nicht ertragen, ich will und kann es nicht leiden (†).„ Das Weſentliche iſt hier die ernſtliche Mahnung, Catilina ſoll mit ſeinem Anhang aus der Stadt wei- chen; weil er nach dem, was von ſeinem Anſchlag entdekt worden, nicht weiter darin koͤnne gelitten werden. Dieſer Gedanken fließt natuͤrlicher Weiſe aus dem vorhergehenden, und jeder Mann von Ueber- legung, der die Sache aus dem Geſichtspunkt ange- ſehen haͤtte, aus dem der Conſul ſie ſah, wuͤrde denſelben gehabt haben. Aber die Nebengedanken: die Thore ſtehen dir offen; die Wiederholung: zieh heraus; der ſchimpfliche Vorwurf: reinige die Stadt; der lezte Zuſaz — ich will und kann es nicht leiden, ſind Gedanken der Schreibart, die aus dem beſondern Charakter des Redners entſtanden ſind, der in allen ſeinen Reden etwas von dieſem Ueberfluß der Gedanken zeiget. Dergleichen Zuſaͤze zu dem Weſentlichen der Gedanken, und ſolche Ne- benbegriffe, die nicht aus genauer Ueberlegung der Sachen entſtehen, ſondern in dem Charakter oder in der gegenwaͤrtigen Gemuͤthslage des Redenden ihren Grund haben, miſchen ſich meiſtentheils ohne ſein Bewußtſeyn unter die Hauptgedanken, und gehoͤren deswegen zu ſeiner beſondern Schreibart. Aufgewekten und luſtigen Perſonen kommen ſcherz- hafte, luſtige Nebenbegriffe, indem ſie an die Haupt- ſache denken; dem ernſthaften etwas finſteren Manne fallen ernſthafte, auch wol verdrießliche Nebengedan- ken ein; dem Wolluͤſtigen wolluͤſtige, und ſo jedem andern ſolche, die ſeinem Charakter, oder der gegen- waͤrtigen Laune gemaͤß ſind. Dieſe Nebengedanken aber machen bey der Schreibart eine Hauptſache, aus. Daher kommt es, daß der ſpekulative, me- taphyſiſche Kopf die Hauptſache, die jeder andere blos (†) Quæ cum ita ſint Catilina, perge quo cœpiſti; egre- dere aliquando ex urbe; patent portæ, proficiſcere. — Educ tecum etiam omnes tuos, ſi minus quam plurimos. Purga urbem — Nobiscum verſari jam diatius non potes; non feram, non patiar, non ſinam.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1050[1032]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/479>, abgerufen am 24.11.2024.