Ausleger haben sehr verschiedene Meinungen über das, was der Philosoph durch gute Sitten verstehe. Eine sehr vernünftige Auslegung der Regeln, die Aristoteles über die Sitten vorschreibet, hat unser Breitinger gegeben, auf den ich den Leser verweise. (*)
Wir finden, daß die Regeln von Behandlung der Sitten überhaupt, sich auf folgende bringen las- sen. Erstlich müssen sie wahrscheinlich seyn; weil wir gar bald die Aufmerksamkeit dem entziehen, was uns nicht wahr, oder würklich dünkt. Einen Rö- mer aus den alten Zeiten der Republik so manier- lich handeln zu lassen, als einen heutigen französischen Hofmann; oder einen König so bedächtlich und so blöde handeln zu lassen, als einen spizfündigen Men- schen, der nie unter Menschen gelebt hat, würd uns gleich abschreken, weiter auf das was geschieht, Ach- tung zu geben. Zweytens müssen die Sitten weder im Guten noch im Bösen, weder im Einfachen, noch Verfeinerten übertrieben seyn. Sind sie abscheu- lich, so wird das Werk anstößig, und man findet sich gezwungen die Augen davon wegzuwenden. Sind sie übermenschlich vollkommen, so werden sie phantastisch. Dieses gilt vornehmlich von Sitten, die man zur Nachahmung, als Muster abbildet. Und in dieser Absicht können sie auch schlecht werden, wenn man das Feine darin übertreibet, weil sie als- denn gar leicht in das Geziehrte, Weichliche, oder Spizfündige ausarten. Es gehört ungemein viel Verstand und Kenntnis der Welt dazu, in den Sit- ten nichts zu übertreiben.
Drittens müssen sie in Ansehung der Zeit, des Orts und der Personen, für die ein Werk vornehm- lich bestimmt ist, nichts unschikliches und anstößiges haben. Auf unsrer Schaubühne würden verschie- dene Sitten, die Plautus auf seiner Bühne geschil- dert hat, sehr unschiklich seyn. Das, woran ge- sezte Männer sich sehr unschädlich ergözen, kann für die Jugend sehr anstößig seyn. Die tragische Bühne erfodert andere Sitten, als die comische u. s. w.
Viertens müssen sie bey einer Person, bey Men- schen von einerley Stand, von einerley Volk, mit dem allgemeinen Gepräg ihres Charakters überein- stimmend seyn. Aber in den Sitten verschiedener Menschen, Stände und Völker muß auch Mannig- faltigkeit und Verschiedenheit herrschen. Man er- kennet an jedem Helden des Homers die Sitten der damaligen Griechen, aber keiner gleichet dem an- dern, und die Jlias enthält bey der allgemeinen [Spaltenumbruch]
Sit
Aehnlichkeit der Sitten eine bewundrungswürdige Mannigfaltigkeit derselben, in den verschiedenen Personen.
Sittlich. (Schöne Künste.)
Bezeichnet zwar alles, was zu den Sitten gehö- ret, aber das Wort wird auch besonders im Ge- gensaz des Leidenschaftlichen gebraucht, so wie die Griechen das ethos von dem pathos unterschieden ha- ben, und in diesem Sinn haben wir es an vielen Stellen dieses Werks gebraucht. Demnach ist das Sittliche in Werken des Geschmaks das, was uns Vorstellungen von Sitten, von Gesinnungen, Ge- müthsart, Handlungsweise und Maximen erwe- ket, in so fern sich dabey keine merklich starke Lei- denschaften äußern; oder überhaupt, was uns den Menschen in einem ruhigern Gemüthszustand vor- stellt. Es giebt also sittliche Schilderungen, sittli- che Aeußerungen, eine sittliche Schreibart, wie es eine pathetische giebt.
Das Sittliche rühret mit weniger Kraft, als das Leidenschaftliche; es kann nie erschüttern, nie das Herz zerreißen, noch in heftige Bewundrung sezen. Aber man würde sich sehr irren, wenn man daraus schließen wollte, es habe überhaupt in den schönen Künsten einen geringern Werth, als das Leidenschaft- liche. Nur auf Menschen von etwas gröberen Stoffe, die nicht sehr empfindsam sind, kann man nicht anders, als durch das Leidenschaftliche wür- ken; aber feinere Gemüther werden auch durch das blos sittliche, zwar nicht ungestühm, aber doch un- wiederstehlich angegriffen. Es geht in der sittlichen Welt, wie in der körperlichen. Wenigdenkende, unachtsame und unwissende Menschen werden nur von außerordentlichen sehr stark in die Sinnen fal- lenden Begebenheiten der Natur, durch Sturm, Donner, Erdbeben, Feuersbrünste und dergleichen, zu einiger Aufmerksamkeit und Empfindung gereizt; weniger in die Augen fallende Dinge, als die bewun- drungswürdige Ordnung, nach welcher alles, was zur Erhaltung und Fortpflanzung der Geschöpfe nö- thig ist, unvermerkt bewürkt wird, rühren sie nicht; aber Denker, feinere und empfindsamere Menschen, finden in diesen stilleren Begebenheiten einen weit reichern Stoff zum Vergnügen und zur stillern Be- wundrung, als in jenen rauschenden. So ist es auch in dem Reiche des Geschmaks. Eine Comö-
Ausleger haben ſehr verſchiedene Meinungen uͤber das, was der Philoſoph durch gute Sitten verſtehe. Eine ſehr vernuͤnftige Auslegung der Regeln, die Ariſtoteles uͤber die Sitten vorſchreibet, hat unſer Breitinger gegeben, auf den ich den Leſer verweiſe. (*)
Wir finden, daß die Regeln von Behandlung der Sitten uͤberhaupt, ſich auf folgende bringen laſ- ſen. Erſtlich muͤſſen ſie wahrſcheinlich ſeyn; weil wir gar bald die Aufmerkſamkeit dem entziehen, was uns nicht wahr, oder wuͤrklich duͤnkt. Einen Roͤ- mer aus den alten Zeiten der Republik ſo manier- lich handeln zu laſſen, als einen heutigen franzoͤſiſchen Hofmann; oder einen Koͤnig ſo bedaͤchtlich und ſo bloͤde handeln zu laſſen, als einen ſpizfuͤndigen Men- ſchen, der nie unter Menſchen gelebt hat, wuͤrd uns gleich abſchreken, weiter auf das was geſchieht, Ach- tung zu geben. Zweytens muͤſſen die Sitten weder im Guten noch im Boͤſen, weder im Einfachen, noch Verfeinerten uͤbertrieben ſeyn. Sind ſie abſcheu- lich, ſo wird das Werk anſtoͤßig, und man findet ſich gezwungen die Augen davon wegzuwenden. Sind ſie uͤbermenſchlich vollkommen, ſo werden ſie phantaſtiſch. Dieſes gilt vornehmlich von Sitten, die man zur Nachahmung, als Muſter abbildet. Und in dieſer Abſicht koͤnnen ſie auch ſchlecht werden, wenn man das Feine darin uͤbertreibet, weil ſie als- denn gar leicht in das Geziehrte, Weichliche, oder Spizfuͤndige ausarten. Es gehoͤrt ungemein viel Verſtand und Kenntnis der Welt dazu, in den Sit- ten nichts zu uͤbertreiben.
Drittens muͤſſen ſie in Anſehung der Zeit, des Orts und der Perſonen, fuͤr die ein Werk vornehm- lich beſtimmt iſt, nichts unſchikliches und anſtoͤßiges haben. Auf unſrer Schaubuͤhne wuͤrden verſchie- dene Sitten, die Plautus auf ſeiner Buͤhne geſchil- dert hat, ſehr unſchiklich ſeyn. Das, woran ge- ſezte Maͤnner ſich ſehr unſchaͤdlich ergoͤzen, kann fuͤr die Jugend ſehr anſtoͤßig ſeyn. Die tragiſche Buͤhne erfodert andere Sitten, als die comiſche u. ſ. w.
Viertens muͤſſen ſie bey einer Perſon, bey Men- ſchen von einerley Stand, von einerley Volk, mit dem allgemeinen Gepraͤg ihres Charakters uͤberein- ſtimmend ſeyn. Aber in den Sitten verſchiedener Menſchen, Staͤnde und Voͤlker muß auch Mannig- faltigkeit und Verſchiedenheit herrſchen. Man er- kennet an jedem Helden des Homers die Sitten der damaligen Griechen, aber keiner gleichet dem an- dern, und die Jlias enthaͤlt bey der allgemeinen [Spaltenumbruch]
Sit
Aehnlichkeit der Sitten eine bewundrungswuͤrdige Mannigfaltigkeit derſelben, in den verſchiedenen Perſonen.
Sittlich. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Bezeichnet zwar alles, was zu den Sitten gehoͤ- ret, aber das Wort wird auch beſonders im Ge- genſaz des Leidenſchaftlichen gebraucht, ſo wie die Griechen das ἠθος von dem παθος unterſchieden ha- ben, und in dieſem Sinn haben wir es an vielen Stellen dieſes Werks gebraucht. Demnach iſt das Sittliche in Werken des Geſchmaks das, was uns Vorſtellungen von Sitten, von Geſinnungen, Ge- muͤthsart, Handlungsweiſe und Maximen erwe- ket, in ſo fern ſich dabey keine merklich ſtarke Lei- denſchaften aͤußern; oder uͤberhaupt, was uns den Menſchen in einem ruhigern Gemuͤthszuſtand vor- ſtellt. Es giebt alſo ſittliche Schilderungen, ſittli- che Aeußerungen, eine ſittliche Schreibart, wie es eine pathetiſche giebt.
Das Sittliche ruͤhret mit weniger Kraft, als das Leidenſchaftliche; es kann nie erſchuͤttern, nie das Herz zerreißen, noch in heftige Bewundrung ſezen. Aber man wuͤrde ſich ſehr irren, wenn man daraus ſchließen wollte, es habe uͤberhaupt in den ſchoͤnen Kuͤnſten einen geringern Werth, als das Leidenſchaft- liche. Nur auf Menſchen von etwas groͤberen Stoffe, die nicht ſehr empfindſam ſind, kann man nicht anders, als durch das Leidenſchaftliche wuͤr- ken; aber feinere Gemuͤther werden auch durch das blos ſittliche, zwar nicht ungeſtuͤhm, aber doch un- wiederſtehlich angegriffen. Es geht in der ſittlichen Welt, wie in der koͤrperlichen. Wenigdenkende, unachtſame und unwiſſende Menſchen werden nur von außerordentlichen ſehr ſtark in die Sinnen fal- lenden Begebenheiten der Natur, durch Sturm, Donner, Erdbeben, Feuersbruͤnſte und dergleichen, zu einiger Aufmerkſamkeit und Empfindung gereizt; weniger in die Augen fallende Dinge, als die bewun- drungswuͤrdige Ordnung, nach welcher alles, was zur Erhaltung und Fortpflanzung der Geſchoͤpfe noͤ- thig iſt, unvermerkt bewuͤrkt wird, ruͤhren ſie nicht; aber Denker, feinere und empfindſamere Menſchen, finden in dieſen ſtilleren Begebenheiten einen weit reichern Stoff zum Vergnuͤgen und zur ſtillern Be- wundrung, als in jenen rauſchenden. So iſt es auch in dem Reiche des Geſchmaks. Eine Comoͤ-
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[1089[1071]/0518]
Sit
Sit
Ausleger haben ſehr verſchiedene Meinungen uͤber
das, was der Philoſoph durch gute Sitten verſtehe.
Eine ſehr vernuͤnftige Auslegung der Regeln, die
Ariſtoteles uͤber die Sitten vorſchreibet, hat unſer
Breitinger gegeben, auf den ich den Leſer verweiſe. (*)
Wir finden, daß die Regeln von Behandlung
der Sitten uͤberhaupt, ſich auf folgende bringen laſ-
ſen. Erſtlich muͤſſen ſie wahrſcheinlich ſeyn; weil
wir gar bald die Aufmerkſamkeit dem entziehen, was
uns nicht wahr, oder wuͤrklich duͤnkt. Einen Roͤ-
mer aus den alten Zeiten der Republik ſo manier-
lich handeln zu laſſen, als einen heutigen franzoͤſiſchen
Hofmann; oder einen Koͤnig ſo bedaͤchtlich und ſo
bloͤde handeln zu laſſen, als einen ſpizfuͤndigen Men-
ſchen, der nie unter Menſchen gelebt hat, wuͤrd uns
gleich abſchreken, weiter auf das was geſchieht, Ach-
tung zu geben. Zweytens muͤſſen die Sitten weder
im Guten noch im Boͤſen, weder im Einfachen, noch
Verfeinerten uͤbertrieben ſeyn. Sind ſie abſcheu-
lich, ſo wird das Werk anſtoͤßig, und man findet
ſich gezwungen die Augen davon wegzuwenden.
Sind ſie uͤbermenſchlich vollkommen, ſo werden ſie
phantaſtiſch. Dieſes gilt vornehmlich von Sitten,
die man zur Nachahmung, als Muſter abbildet.
Und in dieſer Abſicht koͤnnen ſie auch ſchlecht werden,
wenn man das Feine darin uͤbertreibet, weil ſie als-
denn gar leicht in das Geziehrte, Weichliche, oder
Spizfuͤndige ausarten. Es gehoͤrt ungemein viel
Verſtand und Kenntnis der Welt dazu, in den Sit-
ten nichts zu uͤbertreiben.
Drittens muͤſſen ſie in Anſehung der Zeit, des
Orts und der Perſonen, fuͤr die ein Werk vornehm-
lich beſtimmt iſt, nichts unſchikliches und anſtoͤßiges
haben. Auf unſrer Schaubuͤhne wuͤrden verſchie-
dene Sitten, die Plautus auf ſeiner Buͤhne geſchil-
dert hat, ſehr unſchiklich ſeyn. Das, woran ge-
ſezte Maͤnner ſich ſehr unſchaͤdlich ergoͤzen, kann fuͤr
die Jugend ſehr anſtoͤßig ſeyn. Die tragiſche Buͤhne
erfodert andere Sitten, als die comiſche u. ſ. w.
Viertens muͤſſen ſie bey einer Perſon, bey Men-
ſchen von einerley Stand, von einerley Volk, mit
dem allgemeinen Gepraͤg ihres Charakters uͤberein-
ſtimmend ſeyn. Aber in den Sitten verſchiedener
Menſchen, Staͤnde und Voͤlker muß auch Mannig-
faltigkeit und Verſchiedenheit herrſchen. Man er-
kennet an jedem Helden des Homers die Sitten der
damaligen Griechen, aber keiner gleichet dem an-
dern, und die Jlias enthaͤlt bey der allgemeinen
Aehnlichkeit der Sitten eine bewundrungswuͤrdige
Mannigfaltigkeit derſelben, in den verſchiedenen
Perſonen.
Sittlich.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Bezeichnet zwar alles, was zu den Sitten gehoͤ-
ret, aber das Wort wird auch beſonders im Ge-
genſaz des Leidenſchaftlichen gebraucht, ſo wie die
Griechen das ἠθος von dem παθος unterſchieden ha-
ben, und in dieſem Sinn haben wir es an vielen
Stellen dieſes Werks gebraucht. Demnach iſt das
Sittliche in Werken des Geſchmaks das, was uns
Vorſtellungen von Sitten, von Geſinnungen, Ge-
muͤthsart, Handlungsweiſe und Maximen erwe-
ket, in ſo fern ſich dabey keine merklich ſtarke Lei-
denſchaften aͤußern; oder uͤberhaupt, was uns den
Menſchen in einem ruhigern Gemuͤthszuſtand vor-
ſtellt. Es giebt alſo ſittliche Schilderungen, ſittli-
che Aeußerungen, eine ſittliche Schreibart, wie es
eine pathetiſche giebt.
Das Sittliche ruͤhret mit weniger Kraft, als das
Leidenſchaftliche; es kann nie erſchuͤttern, nie das
Herz zerreißen, noch in heftige Bewundrung ſezen.
Aber man wuͤrde ſich ſehr irren, wenn man daraus
ſchließen wollte, es habe uͤberhaupt in den ſchoͤnen
Kuͤnſten einen geringern Werth, als das Leidenſchaft-
liche. Nur auf Menſchen von etwas groͤberen
Stoffe, die nicht ſehr empfindſam ſind, kann man
nicht anders, als durch das Leidenſchaftliche wuͤr-
ken; aber feinere Gemuͤther werden auch durch das
blos ſittliche, zwar nicht ungeſtuͤhm, aber doch un-
wiederſtehlich angegriffen. Es geht in der ſittlichen
Welt, wie in der koͤrperlichen. Wenigdenkende,
unachtſame und unwiſſende Menſchen werden nur
von außerordentlichen ſehr ſtark in die Sinnen fal-
lenden Begebenheiten der Natur, durch Sturm,
Donner, Erdbeben, Feuersbruͤnſte und dergleichen,
zu einiger Aufmerkſamkeit und Empfindung gereizt;
weniger in die Augen fallende Dinge, als die bewun-
drungswuͤrdige Ordnung, nach welcher alles, was
zur Erhaltung und Fortpflanzung der Geſchoͤpfe noͤ-
thig iſt, unvermerkt bewuͤrkt wird, ruͤhren ſie nicht;
aber Denker, feinere und empfindſamere Menſchen,
finden in dieſen ſtilleren Begebenheiten einen weit
reichern Stoff zum Vergnuͤgen und zur ſtillern Be-
wundrung, als in jenen rauſchenden. So iſt es
auch in dem Reiche des Geſchmaks. Eine Comoͤ-
die,
(*) Breit.
critiſche
Dichtkunſt
1 Th. 13.
Abſchnitt.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1089[1071]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/518>, abgerufen am 24.11.2024.
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