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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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lich sey, durch welche gar alle Consonanzen ihrer
Reinigkeit so nahe kommen, als durch diese. Da-
her ist es ohne Zweifel gekommen, daß sie so viel
Beyfall gefunden hat.

Untersucht man aber die Sache etwas genauer,
so findet man, daß diese Vortheile der gleichschwe-
benden Temperatur nur ein falscher Schein sind.
Erstlich ist es schlechterdings unmöglich, Claviere
und Orgeln nach dieser Temperatur zu stimmen,
wenn nicht jeder Ton in der Octave nach einem sehr
richtig getheilten Monochord besonders gestimmt
wird. Denn wer kann sich rühmen nur eine Quinte
nach dem Gehör so zu stimmen, daß sie gerade um
die Kleinigkeit, die die gleichschwebende Tempera-
tur erfodert, abwerts schwebe? Was auch die ge-
übtesten Stimmer hierüber versichern mögen, so
begreift jeder unpartheyischer Beurtheiler, daß die
Sache nicht möglich sey. Wollte man also diese
Temperatur annehmen, so müßte bey jedem Cla-
vier auch ein richtig getheiltes Monochord befindlich
seyn, nach welchem man, so oft es nöthig ist,
stimmen könnte.

Wollte man sich aber auch dieses gefallen lassen,
so sind noch wichtigere Gründe vorhanden, diese
Temperatur zu verwerfen. Es ist offenbar, daß
dadurch die Tonarten der Musik nur auf zwey her-
unter gesezt würden, die harte und weiche; alle
Durtöne wären transponirte Töne des C dur,
und alle Molltöne transponirte Töne des C mol.
Deswegen fielen durch diese Temperatur gleich alle
Vortheile, die man aus der Mannigfaltigkeit der
Tonarten zieht, völlig weg. Diese sind aber zu
schäzbar, als daß Tonsezer von Gefühl sich derselben
begeben können. (*)

Endlich ist auch noch der Umstand zu bemerken,
daß in verschiedenen Fällen aus dem reinesten Ge-
sange, den zwey Singestimmen gegen einander füh-
ren, Terzen entstehen, die doch merklich höher sind,
als die, welche die gleichschwebende Temperatur an-
giebt, wie Hr. Kirnberger deutlich bewiesen hat (*).
Jn diesen Fällen, würden also die nach der gleich-
schwebenden Temperatur gestimmten Jnstrumente,
gegen die Singestimmen und Violine schlecht har-
moniren.

Dieses sind die Gründe, die uns bewegen, die
gleichschwebende Temperatur ihrer scheinbaren Voll-
kommenheit ungeachtet, zu verwerfen, und ihr die
Kirnbergerische vorzuziehen. Die Stimmung die-
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ser Temperatur, die jeder gute Stimmer ohne Mühe
treffen kann, ist bereits beschrieben worden (*). Es
bleibt also hier nur übrig, daß wir ihre Vortheile
deutlich anzeigen. Das Hauptverdienst derselben
besteht darin, daß sie nicht willkührlich, wie so viel
andere Temperaturen, einem Tone zum Schaden
der andern, reine Jntervalle giebt, sondern solche,
die ein vielstimmiger Gesang natürlicher Weise her-
vorbringt.

Wir haben kurz vorher angemerkt, daß, wenn
mehrere Stimmen, oder Jnstrumente ohne alle
Temperatur, jede für sich nach den reinesten Jnter-
tervallen fortschreitet, bey ihrer Vereinigung würk-
lich Harmonien, oder Accorde entstehen, die in ver-
schiedenen Tönen verschiedentlich temperirt sind.
Durch einerley Fortschreitung zweyer Stimmen ent-
stehen bey ihrer Vereinigung bald ganz reine, bald
etwas erhöhete große Terzen, und so auch bald ganz
reine, bald etwas verminderte kleine Terzen. Die-
ses ist so fühlbar, daß geübte Spiehler aus diesen so
entstandenen Accorden, den Ton erkennen, aus wel-
chem ein Stük gesezt ist, die Jnstrumente mögen
höher, oder tiefer, als gewöhnlich gestimmt seyn.
Deutliche Beyspiehle von der Verschiedenheit der
Terzen, die auf solche Weise entstehen, hat Hr.
Kirnberger in seinem vorher angeführten Werke
gegeben.

Hieraus folget nun, daß bey dem reinesten Ge-
sange ein Grundton andere große oder kleine Terzen
habe, als ein anderer. Demnach wäre nicht die
Temperatur (wenn sie auch möglich wäre) die beste,
die jedem Tone seine reine große Terz in dem Ver-
hältnis 4/5 , und seine reine kleine Terz in dem Ver-
hältnis von 5/6 gäbe; weil in einigen Tönen solche
Terzen würklich nicht statt haben, sondern bey dem
reinesten und natürlichsten Gesange zweyer Stimmen
gegen einander, etwas höher, oder tiefer werden.
Die Hauptsache bey Erfindung einer wahren, in der
Natur gegründeten Temperatur kam darauf an,
jedem Tone solche Terzen zu geben, die nach
der angeführten Bemerkung, ihm natürlich sind.
Daß dieses durch die Kirnbergerische Temperatur
würklich geschehe, wird jeder, der im Stand ist Har-
monien zu fühlen, von selbst bemerken. Dieses ist
der Grund, warum wir sie allen andern vorziehen,
und für die einzige natürliche Temperatur halten.

Wird eine Orgel, oder ein Clavier nach dieser
Temperatur gestimmt, welches ganz leicht ist (*),

so
(*) S.
Tonarten
und Ton.
(*) S. Des-
sen Kunst
des reinen
Sazes.
S. 11. 12.
(*) S.
Stim-
mung.
(*) S.
Stim-
mung.
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lich ſey, durch welche gar alle Conſonanzen ihrer
Reinigkeit ſo nahe kommen, als durch dieſe. Da-
her iſt es ohne Zweifel gekommen, daß ſie ſo viel
Beyfall gefunden hat.

Unterſucht man aber die Sache etwas genauer,
ſo findet man, daß dieſe Vortheile der gleichſchwe-
benden Temperatur nur ein falſcher Schein ſind.
Erſtlich iſt es ſchlechterdings unmoͤglich, Claviere
und Orgeln nach dieſer Temperatur zu ſtimmen,
wenn nicht jeder Ton in der Octave nach einem ſehr
richtig getheilten Monochord beſonders geſtimmt
wird. Denn wer kann ſich ruͤhmen nur eine Quinte
nach dem Gehoͤr ſo zu ſtimmen, daß ſie gerade um
die Kleinigkeit, die die gleichſchwebende Tempera-
tur erfodert, abwerts ſchwebe? Was auch die ge-
uͤbteſten Stimmer hieruͤber verſichern moͤgen, ſo
begreift jeder unpartheyiſcher Beurtheiler, daß die
Sache nicht moͤglich ſey. Wollte man alſo dieſe
Temperatur annehmen, ſo muͤßte bey jedem Cla-
vier auch ein richtig getheiltes Monochord befindlich
ſeyn, nach welchem man, ſo oft es noͤthig iſt,
ſtimmen koͤnnte.

Wollte man ſich aber auch dieſes gefallen laſſen,
ſo ſind noch wichtigere Gruͤnde vorhanden, dieſe
Temperatur zu verwerfen. Es iſt offenbar, daß
dadurch die Tonarten der Muſik nur auf zwey her-
unter geſezt wuͤrden, die harte und weiche; alle
Durtoͤne waͤren transponirte Toͤne des C dur,
und alle Molltoͤne transponirte Toͤne des C mol.
Deswegen fielen durch dieſe Temperatur gleich alle
Vortheile, die man aus der Mannigfaltigkeit der
Tonarten zieht, voͤllig weg. Dieſe ſind aber zu
ſchaͤzbar, als daß Tonſezer von Gefuͤhl ſich derſelben
begeben koͤnnen. (*)

Endlich iſt auch noch der Umſtand zu bemerken,
daß in verſchiedenen Faͤllen aus dem reineſten Ge-
ſange, den zwey Singeſtimmen gegen einander fuͤh-
ren, Terzen entſtehen, die doch merklich hoͤher ſind,
als die, welche die gleichſchwebende Temperatur an-
giebt, wie Hr. Kirnberger deutlich bewieſen hat (*).
Jn dieſen Faͤllen, wuͤrden alſo die nach der gleich-
ſchwebenden Temperatur geſtimmten Jnſtrumente,
gegen die Singeſtimmen und Violine ſchlecht har-
moniren.

Dieſes ſind die Gruͤnde, die uns bewegen, die
gleichſchwebende Temperatur ihrer ſcheinbaren Voll-
kommenheit ungeachtet, zu verwerfen, und ihr die
Kirnbergeriſche vorzuziehen. Die Stimmung die-
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Tem
ſer Temperatur, die jeder gute Stimmer ohne Muͤhe
treffen kann, iſt bereits beſchrieben worden (*). Es
bleibt alſo hier nur uͤbrig, daß wir ihre Vortheile
deutlich anzeigen. Das Hauptverdienſt derſelben
beſteht darin, daß ſie nicht willkuͤhrlich, wie ſo viel
andere Temperaturen, einem Tone zum Schaden
der andern, reine Jntervalle giebt, ſondern ſolche,
die ein vielſtimmiger Geſang natuͤrlicher Weiſe her-
vorbringt.

Wir haben kurz vorher angemerkt, daß, wenn
mehrere Stimmen, oder Jnſtrumente ohne alle
Temperatur, jede fuͤr ſich nach den reineſten Jnter-
tervallen fortſchreitet, bey ihrer Vereinigung wuͤrk-
lich Harmonien, oder Accorde entſtehen, die in ver-
ſchiedenen Toͤnen verſchiedentlich temperirt ſind.
Durch einerley Fortſchreitung zweyer Stimmen ent-
ſtehen bey ihrer Vereinigung bald ganz reine, bald
etwas erhoͤhete große Terzen, und ſo auch bald ganz
reine, bald etwas verminderte kleine Terzen. Die-
ſes iſt ſo fuͤhlbar, daß geuͤbte Spiehler aus dieſen ſo
entſtandenen Accorden, den Ton erkennen, aus wel-
chem ein Stuͤk geſezt iſt, die Jnſtrumente moͤgen
hoͤher, oder tiefer, als gewoͤhnlich geſtimmt ſeyn.
Deutliche Beyſpiehle von der Verſchiedenheit der
Terzen, die auf ſolche Weiſe entſtehen, hat Hr.
Kirnberger in ſeinem vorher angefuͤhrten Werke
gegeben.

Hieraus folget nun, daß bey dem reineſten Ge-
ſange ein Grundton andere große oder kleine Terzen
habe, als ein anderer. Demnach waͤre nicht die
Temperatur (wenn ſie auch moͤglich waͤre) die beſte,
die jedem Tone ſeine reine große Terz in dem Ver-
haͤltnis ⅘, und ſeine reine kleine Terz in dem Ver-
haͤltnis von ⅚ gaͤbe; weil in einigen Toͤnen ſolche
Terzen wuͤrklich nicht ſtatt haben, ſondern bey dem
reineſten und natuͤrlichſten Geſange zweyer Stimmen
gegen einander, etwas hoͤher, oder tiefer werden.
Die Hauptſache bey Erfindung einer wahren, in der
Natur gegruͤndeten Temperatur kam darauf an,
jedem Tone ſolche Terzen zu geben, die nach
der angefuͤhrten Bemerkung, ihm natuͤrlich ſind.
Daß dieſes durch die Kirnbergeriſche Temperatur
wuͤrklich geſchehe, wird jeder, der im Stand iſt Har-
monien zu fuͤhlen, von ſelbſt bemerken. Dieſes iſt
der Grund, warum wir ſie allen andern vorziehen,
und fuͤr die einzige natuͤrliche Temperatur halten.

Wird eine Orgel, oder ein Clavier nach dieſer
Temperatur geſtimmt, welches ganz leicht iſt (*),

ſo
(*) S.
Tonarten
und Ton.
(*) S. Deſ-
ſen Kunſt
des reinen
Sazes.
S. 11. 12.
(*) S.
Stim-
mung.
(*) S.
Stim-
mung.
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[1149[1131]/0578] Tem Tem lich ſey, durch welche gar alle Conſonanzen ihrer Reinigkeit ſo nahe kommen, als durch dieſe. Da- her iſt es ohne Zweifel gekommen, daß ſie ſo viel Beyfall gefunden hat. Unterſucht man aber die Sache etwas genauer, ſo findet man, daß dieſe Vortheile der gleichſchwe- benden Temperatur nur ein falſcher Schein ſind. Erſtlich iſt es ſchlechterdings unmoͤglich, Claviere und Orgeln nach dieſer Temperatur zu ſtimmen, wenn nicht jeder Ton in der Octave nach einem ſehr richtig getheilten Monochord beſonders geſtimmt wird. Denn wer kann ſich ruͤhmen nur eine Quinte nach dem Gehoͤr ſo zu ſtimmen, daß ſie gerade um die Kleinigkeit, die die gleichſchwebende Tempera- tur erfodert, abwerts ſchwebe? Was auch die ge- uͤbteſten Stimmer hieruͤber verſichern moͤgen, ſo begreift jeder unpartheyiſcher Beurtheiler, daß die Sache nicht moͤglich ſey. Wollte man alſo dieſe Temperatur annehmen, ſo muͤßte bey jedem Cla- vier auch ein richtig getheiltes Monochord befindlich ſeyn, nach welchem man, ſo oft es noͤthig iſt, ſtimmen koͤnnte. Wollte man ſich aber auch dieſes gefallen laſſen, ſo ſind noch wichtigere Gruͤnde vorhanden, dieſe Temperatur zu verwerfen. Es iſt offenbar, daß dadurch die Tonarten der Muſik nur auf zwey her- unter geſezt wuͤrden, die harte und weiche; alle Durtoͤne waͤren transponirte Toͤne des C dur, und alle Molltoͤne transponirte Toͤne des C mol. Deswegen fielen durch dieſe Temperatur gleich alle Vortheile, die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, voͤllig weg. Dieſe ſind aber zu ſchaͤzbar, als daß Tonſezer von Gefuͤhl ſich derſelben begeben koͤnnen. (*) Endlich iſt auch noch der Umſtand zu bemerken, daß in verſchiedenen Faͤllen aus dem reineſten Ge- ſange, den zwey Singeſtimmen gegen einander fuͤh- ren, Terzen entſtehen, die doch merklich hoͤher ſind, als die, welche die gleichſchwebende Temperatur an- giebt, wie Hr. Kirnberger deutlich bewieſen hat (*). Jn dieſen Faͤllen, wuͤrden alſo die nach der gleich- ſchwebenden Temperatur geſtimmten Jnſtrumente, gegen die Singeſtimmen und Violine ſchlecht har- moniren. Dieſes ſind die Gruͤnde, die uns bewegen, die gleichſchwebende Temperatur ihrer ſcheinbaren Voll- kommenheit ungeachtet, zu verwerfen, und ihr die Kirnbergeriſche vorzuziehen. Die Stimmung die- ſer Temperatur, die jeder gute Stimmer ohne Muͤhe treffen kann, iſt bereits beſchrieben worden (*). Es bleibt alſo hier nur uͤbrig, daß wir ihre Vortheile deutlich anzeigen. Das Hauptverdienſt derſelben beſteht darin, daß ſie nicht willkuͤhrlich, wie ſo viel andere Temperaturen, einem Tone zum Schaden der andern, reine Jntervalle giebt, ſondern ſolche, die ein vielſtimmiger Geſang natuͤrlicher Weiſe her- vorbringt. Wir haben kurz vorher angemerkt, daß, wenn mehrere Stimmen, oder Jnſtrumente ohne alle Temperatur, jede fuͤr ſich nach den reineſten Jnter- tervallen fortſchreitet, bey ihrer Vereinigung wuͤrk- lich Harmonien, oder Accorde entſtehen, die in ver- ſchiedenen Toͤnen verſchiedentlich temperirt ſind. Durch einerley Fortſchreitung zweyer Stimmen ent- ſtehen bey ihrer Vereinigung bald ganz reine, bald etwas erhoͤhete große Terzen, und ſo auch bald ganz reine, bald etwas verminderte kleine Terzen. Die- ſes iſt ſo fuͤhlbar, daß geuͤbte Spiehler aus dieſen ſo entſtandenen Accorden, den Ton erkennen, aus wel- chem ein Stuͤk geſezt iſt, die Jnſtrumente moͤgen hoͤher, oder tiefer, als gewoͤhnlich geſtimmt ſeyn. Deutliche Beyſpiehle von der Verſchiedenheit der Terzen, die auf ſolche Weiſe entſtehen, hat Hr. Kirnberger in ſeinem vorher angefuͤhrten Werke gegeben. Hieraus folget nun, daß bey dem reineſten Ge- ſange ein Grundton andere große oder kleine Terzen habe, als ein anderer. Demnach waͤre nicht die Temperatur (wenn ſie auch moͤglich waͤre) die beſte, die jedem Tone ſeine reine große Terz in dem Ver- haͤltnis ⅘, und ſeine reine kleine Terz in dem Ver- haͤltnis von ⅚ gaͤbe; weil in einigen Toͤnen ſolche Terzen wuͤrklich nicht ſtatt haben, ſondern bey dem reineſten und natuͤrlichſten Geſange zweyer Stimmen gegen einander, etwas hoͤher, oder tiefer werden. Die Hauptſache bey Erfindung einer wahren, in der Natur gegruͤndeten Temperatur kam darauf an, jedem Tone ſolche Terzen zu geben, die nach der angefuͤhrten Bemerkung, ihm natuͤrlich ſind. Daß dieſes durch die Kirnbergeriſche Temperatur wuͤrklich geſchehe, wird jeder, der im Stand iſt Har- monien zu fuͤhlen, von ſelbſt bemerken. Dieſes iſt der Grund, warum wir ſie allen andern vorziehen, und fuͤr die einzige natuͤrliche Temperatur halten. Wird eine Orgel, oder ein Clavier nach dieſer Temperatur geſtimmt, welches ganz leicht iſt (*), ſo (*) S. Tonarten und Ton. (*) S. Deſ- ſen Kunſt des reinen Sazes. S. 11. 12. (*) S. Stim- mung. (*) S. Stim- mung. D d d d d d d 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1149[1131]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/578>, abgerufen am 24.11.2024.