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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Vor
bene wolklingende Perioden vor sich, versuche jede
davon auf mehr, als einerley Art herzusagen, und
bemerke bey jeder Veränderung die Verschiedenheit
der Würkung auf dem Wolklang. Noch besser wär
es, wenn er diese verschiedentlich abgeänderte De-
klamation einer Periode durch andere vornehmen
ließe, und durch aufmerksames Anhören den Grad
des Wolklanges bey jeder Wiederholung zu empfin-
den suchte.
3. Die dritte Eigenschaft der vollkommenen De-
klamation ist der gute Ausdruk, oder die Ueberein-
stimmung des Klanges der Rede mit ihrem Jnhalt.
Die Musik beweiset daß jede Leidenschaft und jede
besondere sowol ruhige, als unruhige Lage des Ge-
müthes durch Ton und Bewegung könne geschildert
werden, und man höret auch täglich, daß in dem
Ton der gemeinen Rede in gar viel Fällen mehr
Kraft liegt, als in dem Sinn der Worte. Man
stelle sich vor, daß folgende Worte in dem wahren
Ton der tiefsten Wehmuth ausgesprochen werden:
-- Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich sehe
Gespizte Kelle!

So wird man begreifen, daß der, der den Sinn
der Worte nicht verstünde, dennoch durch den bloßen
Schall weit schmerzhafter würde gerührt werden,
als der, der ohne Ton den Sinn der Worte ver-
nähme. Die Worte Wehe! Wehe! bedeuten nichts,
als daß sie uns schlechtweg anzeigen, der Mensch,
der sie spricht, leide; aber der Ton macht, daß wir
sein Leiden würklich empfinden.
Der Redner also, der den Vortrag völlig in sei-
ner Gewalt hat, kann uns durch Ton und Bewe-
gung der Stimme in jede Gemüthsfassung sezen; er
kann uns ruhig und gelassen, zum Nachdenken auf-
merksam, munter und fröhlich, zärtlich, traurig,
unruhig, verzagt, herzhaft oder ängstlich machen.
Stimmt also diese in Ton und Bewegung liegende
Kraft mit dem Sinn der Worte genau überein, so
bekommt die Rede selbst eine unwiderstehliche Kraft.
Jn der Beredsamkeit ist also nichts wichtiger, als
die Kunst, die Kraft der Rede durch den Vortrag
zu unterstüzen. Dieser besondere Theil der Dekla-
mation kann aber so wenig, als die andern durch
Worte gelehret werden. Alles was man hiebey thun
kann, und was in der That von großem Nuzen ist,
besteht darin, daß der Redner auf das besondere,
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Vor
was zu diesem Ausdruk gehöret, aufmerksam ge-
macht werde.

Zuerst kommt also der Ton der Stimme selbst in
Betrachtung. Ein einzeler unartikulirter Laut kann
fröhlich, oder traurig, heftig, oder sanft und ge-
lassen klingen. Er bekommt seine ästhetische Kraft
theils von dem Grad der Stärke, von der Langsam-
keit und Schnelligkeit, von dem Nachdruk oder der
Flüchtigkeit, womit er ausgesprochen wird, theils
von dem Ziehen, oder Stoßen, oder Anschwellen,
oder andern Arten seiner Erzeugung; theils von
dem Ort, wo er gebildet wird, oder wo er zu ent-
stehen scheinet, da er bald tief aus der Brust, bald
aus der Kehle zu kommen, bald nur in dem Munde,
oder gar nur auf den Lippen selbst gebildet zu seyn
scheinet. Es ist völlig unmöglich alle Verschieden-
heiten, die der Ton einer einzigen Sylbe annehmen
kann, und jeden Ausdruk, den diese Verschiedenhei-
ten ihm geben, zu beschreiben. Dieses kann nur
empfunden werden. Aber es ist für den Redner
wichtig, daß er sich im genauen Beobachten und
Empfinden dieser Verschiedenheiten fleißig übe. Die
vorher angeführten Worte des Klagens können so
ausgesprochen werden, daß sie blos zärtliche und
gleichsam schmachtende Traurigkeit ausdrüken. Dies
würde geschehen, wenn man die Worte: Wehe!
Wehe!
aus der Kehle sanft und gelassen, langsam
und mit einer allmähligen Wendüng oder Jnflexion
des Tones auf der ersten Sylbe jedes Worts aus-
spräche. Tiefere Wehmuth würden sie ausdrüken,
wenn der Ton auf der ersten Sylbe tief aus der
Brust, mit einem dumpfigen Ton, allmählig et-
was verstärkt und sich in der zweyten Sylbe ver-
liehrend, ausgesprochen würde. Schrekhaft wür-
den sie klingen, wenn sie mit lautem, offenen
Schreyen, einem hellen Ton, schnell hinter einan-
der, als wenn man um Hülfe rufte, vorgebracht
würden. Es ist aber unendlich viel leichter mit der
Stimme solche Veränderungen des Vortrages vor-
zunehmen, und ihre verschiedene Würkung zu beob-
achten, als sie zu beschreiben. Also müssen wir uns
begnügen, nur dieses einzige Beyspiehl angezeiget
zu haben; daß übrige muß dem eigenen Fleiß des
angehenden Redners überlassen werden. Weil es
hier blos auf Erfahrung ankommt, so muß er sich
angelegen seyn lassen, jede Gelegenheit, wo er Men-
schen die in Leidenschaft gesezt sind, sprechen höret,
sich zu Nuze zu machen, um seine Beobachtungen

zu
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Vor
bene wolklingende Perioden vor ſich, verſuche jede
davon auf mehr, als einerley Art herzuſagen, und
bemerke bey jeder Veraͤnderung die Verſchiedenheit
der Wuͤrkung auf dem Wolklang. Noch beſſer waͤr
es, wenn er dieſe verſchiedentlich abgeaͤnderte De-
klamation einer Periode durch andere vornehmen
ließe, und durch aufmerkſames Anhoͤren den Grad
des Wolklanges bey jeder Wiederholung zu empfin-
den ſuchte.
3. Die dritte Eigenſchaft der vollkommenen De-
klamation iſt der gute Ausdruk, oder die Ueberein-
ſtimmung des Klanges der Rede mit ihrem Jnhalt.
Die Muſik beweiſet daß jede Leidenſchaft und jede
beſondere ſowol ruhige, als unruhige Lage des Ge-
muͤthes durch Ton und Bewegung koͤnne geſchildert
werden, und man hoͤret auch taͤglich, daß in dem
Ton der gemeinen Rede in gar viel Faͤllen mehr
Kraft liegt, als in dem Sinn der Worte. Man
ſtelle ſich vor, daß folgende Worte in dem wahren
Ton der tiefſten Wehmuth ausgeſprochen werden:
— Wehe! Wehe!
Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe
Geſpizte Kelle!

So wird man begreifen, daß der, der den Sinn
der Worte nicht verſtuͤnde, dennoch durch den bloßen
Schall weit ſchmerzhafter wuͤrde geruͤhrt werden,
als der, der ohne Ton den Sinn der Worte ver-
naͤhme. Die Worte Wehe! Wehe! bedeuten nichts,
als daß ſie uns ſchlechtweg anzeigen, der Menſch,
der ſie ſpricht, leide; aber der Ton macht, daß wir
ſein Leiden wuͤrklich empfinden.
Der Redner alſo, der den Vortrag voͤllig in ſei-
ner Gewalt hat, kann uns durch Ton und Bewe-
gung der Stimme in jede Gemuͤthsfaſſung ſezen; er
kann uns ruhig und gelaſſen, zum Nachdenken auf-
merkſam, munter und froͤhlich, zaͤrtlich, traurig,
unruhig, verzagt, herzhaft oder aͤngſtlich machen.
Stimmt alſo dieſe in Ton und Bewegung liegende
Kraft mit dem Sinn der Worte genau uͤberein, ſo
bekommt die Rede ſelbſt eine unwiderſtehliche Kraft.
Jn der Beredſamkeit iſt alſo nichts wichtiger, als
die Kunſt, die Kraft der Rede durch den Vortrag
zu unterſtuͤzen. Dieſer beſondere Theil der Dekla-
mation kann aber ſo wenig, als die andern durch
Worte gelehret werden. Alles was man hiebey thun
kann, und was in der That von großem Nuzen iſt,
beſteht darin, daß der Redner auf das beſondere,
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Vor
was zu dieſem Ausdruk gehoͤret, aufmerkſam ge-
macht werde.

Zuerſt kommt alſo der Ton der Stimme ſelbſt in
Betrachtung. Ein einzeler unartikulirter Laut kann
froͤhlich, oder traurig, heftig, oder ſanft und ge-
laſſen klingen. Er bekommt ſeine aͤſthetiſche Kraft
theils von dem Grad der Staͤrke, von der Langſam-
keit und Schnelligkeit, von dem Nachdruk oder der
Fluͤchtigkeit, womit er ausgeſprochen wird, theils
von dem Ziehen, oder Stoßen, oder Anſchwellen,
oder andern Arten ſeiner Erzeugung; theils von
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ſtehen ſcheinet, da er bald tief aus der Bruſt, bald
aus der Kehle zu kommen, bald nur in dem Munde,
oder gar nur auf den Lippen ſelbſt gebildet zu ſeyn
ſcheinet. Es iſt voͤllig unmoͤglich alle Verſchieden-
heiten, die der Ton einer einzigen Sylbe annehmen
kann, und jeden Ausdruk, den dieſe Verſchiedenhei-
ten ihm geben, zu beſchreiben. Dieſes kann nur
empfunden werden. Aber es iſt fuͤr den Redner
wichtig, daß er ſich im genauen Beobachten und
Empfinden dieſer Verſchiedenheiten fleißig uͤbe. Die
vorher angefuͤhrten Worte des Klagens koͤnnen ſo
ausgeſprochen werden, daß ſie blos zaͤrtliche und
gleichſam ſchmachtende Traurigkeit ausdruͤken. Dies
wuͤrde geſchehen, wenn man die Worte: Wehe!
Wehe!
aus der Kehle ſanft und gelaſſen, langſam
und mit einer allmaͤhligen Wenduͤng oder Jnflexion
des Tones auf der erſten Sylbe jedes Worts aus-
ſpraͤche. Tiefere Wehmuth wuͤrden ſie ausdruͤken,
wenn der Ton auf der erſten Sylbe tief aus der
Bruſt, mit einem dumpfigen Ton, allmaͤhlig et-
was verſtaͤrkt und ſich in der zweyten Sylbe ver-
liehrend, ausgeſprochen wuͤrde. Schrekhaft wuͤr-
den ſie klingen, wenn ſie mit lautem, offenen
Schreyen, einem hellen Ton, ſchnell hinter einan-
der, als wenn man um Huͤlfe rufte, vorgebracht
wuͤrden. Es iſt aber unendlich viel leichter mit der
Stimme ſolche Veraͤnderungen des Vortrages vor-
zunehmen, und ihre verſchiedene Wuͤrkung zu beob-
achten, als ſie zu beſchreiben. Alſo muͤſſen wir uns
begnuͤgen, nur dieſes einzige Beyſpiehl angezeiget
zu haben; daß uͤbrige muß dem eigenen Fleiß des
angehenden Redners uͤberlaſſen werden. Weil es
hier blos auf Erfahrung ankommt, ſo muß er ſich
angelegen ſeyn laſſen, jede Gelegenheit, wo er Men-
ſchen die in Leidenſchaft geſezt ſind, ſprechen hoͤret,
ſich zu Nuze zu machen, um ſeine Beobachtungen

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[1245[1227]/0674] Vor Vor bene wolklingende Perioden vor ſich, verſuche jede davon auf mehr, als einerley Art herzuſagen, und bemerke bey jeder Veraͤnderung die Verſchiedenheit der Wuͤrkung auf dem Wolklang. Noch beſſer waͤr es, wenn er dieſe verſchiedentlich abgeaͤnderte De- klamation einer Periode durch andere vornehmen ließe, und durch aufmerkſames Anhoͤren den Grad des Wolklanges bey jeder Wiederholung zu empfin- den ſuchte. 3. Die dritte Eigenſchaft der vollkommenen De- klamation iſt der gute Ausdruk, oder die Ueberein- ſtimmung des Klanges der Rede mit ihrem Jnhalt. Die Muſik beweiſet daß jede Leidenſchaft und jede beſondere ſowol ruhige, als unruhige Lage des Ge- muͤthes durch Ton und Bewegung koͤnne geſchildert werden, und man hoͤret auch taͤglich, daß in dem Ton der gemeinen Rede in gar viel Faͤllen mehr Kraft liegt, als in dem Sinn der Worte. Man ſtelle ſich vor, daß folgende Worte in dem wahren Ton der tiefſten Wehmuth ausgeſprochen werden: — Wehe! Wehe! Nicht Ketten, Bande nicht, ich ſehe Geſpizte Kelle! So wird man begreifen, daß der, der den Sinn der Worte nicht verſtuͤnde, dennoch durch den bloßen Schall weit ſchmerzhafter wuͤrde geruͤhrt werden, als der, der ohne Ton den Sinn der Worte ver- naͤhme. Die Worte Wehe! Wehe! bedeuten nichts, als daß ſie uns ſchlechtweg anzeigen, der Menſch, der ſie ſpricht, leide; aber der Ton macht, daß wir ſein Leiden wuͤrklich empfinden. Der Redner alſo, der den Vortrag voͤllig in ſei- ner Gewalt hat, kann uns durch Ton und Bewe- gung der Stimme in jede Gemuͤthsfaſſung ſezen; er kann uns ruhig und gelaſſen, zum Nachdenken auf- merkſam, munter und froͤhlich, zaͤrtlich, traurig, unruhig, verzagt, herzhaft oder aͤngſtlich machen. Stimmt alſo dieſe in Ton und Bewegung liegende Kraft mit dem Sinn der Worte genau uͤberein, ſo bekommt die Rede ſelbſt eine unwiderſtehliche Kraft. Jn der Beredſamkeit iſt alſo nichts wichtiger, als die Kunſt, die Kraft der Rede durch den Vortrag zu unterſtuͤzen. Dieſer beſondere Theil der Dekla- mation kann aber ſo wenig, als die andern durch Worte gelehret werden. Alles was man hiebey thun kann, und was in der That von großem Nuzen iſt, beſteht darin, daß der Redner auf das beſondere, was zu dieſem Ausdruk gehoͤret, aufmerkſam ge- macht werde. Zuerſt kommt alſo der Ton der Stimme ſelbſt in Betrachtung. Ein einzeler unartikulirter Laut kann froͤhlich, oder traurig, heftig, oder ſanft und ge- laſſen klingen. Er bekommt ſeine aͤſthetiſche Kraft theils von dem Grad der Staͤrke, von der Langſam- keit und Schnelligkeit, von dem Nachdruk oder der Fluͤchtigkeit, womit er ausgeſprochen wird, theils von dem Ziehen, oder Stoßen, oder Anſchwellen, oder andern Arten ſeiner Erzeugung; theils von dem Ort, wo er gebildet wird, oder wo er zu ent- ſtehen ſcheinet, da er bald tief aus der Bruſt, bald aus der Kehle zu kommen, bald nur in dem Munde, oder gar nur auf den Lippen ſelbſt gebildet zu ſeyn ſcheinet. Es iſt voͤllig unmoͤglich alle Verſchieden- heiten, die der Ton einer einzigen Sylbe annehmen kann, und jeden Ausdruk, den dieſe Verſchiedenhei- ten ihm geben, zu beſchreiben. Dieſes kann nur empfunden werden. Aber es iſt fuͤr den Redner wichtig, daß er ſich im genauen Beobachten und Empfinden dieſer Verſchiedenheiten fleißig uͤbe. Die vorher angefuͤhrten Worte des Klagens koͤnnen ſo ausgeſprochen werden, daß ſie blos zaͤrtliche und gleichſam ſchmachtende Traurigkeit ausdruͤken. Dies wuͤrde geſchehen, wenn man die Worte: Wehe! Wehe! aus der Kehle ſanft und gelaſſen, langſam und mit einer allmaͤhligen Wenduͤng oder Jnflexion des Tones auf der erſten Sylbe jedes Worts aus- ſpraͤche. Tiefere Wehmuth wuͤrden ſie ausdruͤken, wenn der Ton auf der erſten Sylbe tief aus der Bruſt, mit einem dumpfigen Ton, allmaͤhlig et- was verſtaͤrkt und ſich in der zweyten Sylbe ver- liehrend, ausgeſprochen wuͤrde. Schrekhaft wuͤr- den ſie klingen, wenn ſie mit lautem, offenen Schreyen, einem hellen Ton, ſchnell hinter einan- der, als wenn man um Huͤlfe rufte, vorgebracht wuͤrden. Es iſt aber unendlich viel leichter mit der Stimme ſolche Veraͤnderungen des Vortrages vor- zunehmen, und ihre verſchiedene Wuͤrkung zu beob- achten, als ſie zu beſchreiben. Alſo muͤſſen wir uns begnuͤgen, nur dieſes einzige Beyſpiehl angezeiget zu haben; daß uͤbrige muß dem eigenen Fleiß des angehenden Redners uͤberlaſſen werden. Weil es hier blos auf Erfahrung ankommt, ſo muß er ſich angelegen ſeyn laſſen, jede Gelegenheit, wo er Men- ſchen die in Leidenſchaft geſezt ſind, ſprechen hoͤret, ſich zu Nuze zu machen, um ſeine Beobachtungen zu Q q q q q q q 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1245[1227]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/674>, abgerufen am 24.11.2024.