zu vermehren. Dadurch wird er fühlen lernen, wodurch ein Ton fröhlich, zärtlich, schmeichelnd, krie- chend, demüthig, oder traurig, kläglich, scheltend, zornig, streng, wodurch er flüchtig, gleichgültig, ernsthaft, feyerlich wird. Denn es ist außer Zwei- fel, daß blos der Ton der Red alle diese Eigenschaf- ten annehmen könne.
Nach dem Ton, seiner Bildung und Stimmung, kommt die Bewegung der Stimme zum Ausdruk in Betrachtung. Die Tonsezer unterscheiden nicht nur die verschiedenen Grade des geschwinden und lang- samen in der Bewegung, durch ihre Kunstwörter Allegro, Andante, Largo u. d. gl. sondern auch noch den besondern leidenschaftlichen Charakter, den sie durch die Worte Vivace, Moderato, Grave, Gra- tioso, con Tenerezza und dergleichen Ausdrüken. Die Tanzmelodien beweisen, daß die Bewegung al- lein ungemein viel zum Ausdruk der besondern Ar- ten der Empfindung beytrage. Da sie insgemein ohne Worte nur durch Jnstrumente vorgetragen werden, so müßten die Tonsezer nothwendig alle mögliche Veränderungen des Ausdruks, der aus der Art der Bewegung entstehet, in ihrer Gewalt haben, da Redner und Dichter sich zum Theil auch auf den Sinn der Worte verlassen können. Deswegen kann der Redner nur in der Schule der Musik alles lernen, was er über die Bewegung der Stimme zu beobachten hat. So kläglich die vorher angeführte Stelle aus der bekannten Ramlerischen Cantate dem Sinne nach ist, wird sie jeder Tonsezer in einer solchen Bewegung, und Taktart sezen können, die des kläglichen Sinnes ungeachtet, Gleichgültigkeit, oder gar Leichtsinn ausdrükt.
Es ist um so viel wichtiger die wahre Bewegung für jeden Ausdruk zu treffen; da sie die leidenschaft- liche Bildung der einzelen Töne, wovon vorher ge- sprochen worden, entweder erleichtert, auch wol an die Hand giebt, oder gar unmöglich macht. Denn wo irgend eine Sylbe nach Art der Bewegung auf eine schlechte Taktzeit fällt, so ist es nicht möglich ihr einen leidenschaftlichen Nachdruk zu geben, weil die Bewegung ein leichtes Anschlagen derselben erfo- dert. Dem Redner ist also zur kräftigen Deklam a- tion eine genaue Kenntnis von den Eigenschaften und Würkungen des Rhythmus unumgänglich noth- wendig. Er muß für jede Periode der Rede, nach dem in dem Sinne liegenden Ausdruk, den schiklich- sten Rhythmus zu wählen wissen, sonst ist es nicht [Spaltenumbruch]
Vor
möglich, daß er überall die wahre Deklamation treffe. Da die Theorie des Rhythmus selbst noch so wenig bearbeitet ist, so kann man auch dem Red- ner keine bestimmte Regeln über die besondern Fälle der Deklamation geben. Wer indessen zu wissen verlanget, was etwa hierüber von den besten Lehrern der Redner gesagt worden, den verweisen wir auf das dritte Capitel des XI Buchs der Jnstitution des Quintilians.
Jede Leidenschaft und überhaupt jede besondere Gemüthslage hat nicht nur ihre eigene Art, sondern in dieser Art auch ihren Grad der Würksamkeit, und beydes kann durch rhythmische Bewegung aus- gedrükt, oder geschildert werden. Das ruhige, ge- lassene, sanfte, zärtliche, das lebhafte, heftige, stür- mische und mehr dergleichen Eigenschaften, unsrer innern Würksamkeit, können durch rhythmische Be- wegung fühlbar gemacht werden; dieses ist durch der Musik völlig außer Zweifel gesezt. Also muß der Redner, so genau, als ihm möglich ist, diese Uebereinstimmung zwischen der rhythmischen Bewe- gung der Töne, und den Gemüthsbewegungen, sorg- fältig bemerken. Dieses ist der Weg, auf dem er zum wahren Ausdruk der Deklamation kommen kann. Denn kommt es in jedem besondern Fall noch darauf an, daß er sich befleiße, die wahre Ge- müthslage, in welcher jede Periode der Rede muß vorgetragen werden, genau zu treffen, und daß er Empfindsamkeit genug habe, sich in dieselbe zu sezen. Hat er diesen Punkt gewonnen, so wird er auch Ton und Bewegung treffen; die Kunst aber, oder die genauere Kenntnis der Beschaffenheit der rhythmi- schen Charaktere, wird das, was die Empfindung ihm bereits an die Hand gegeben hat, noch vollkom- mener machen. So viel sey von dem ersten Punkt des Vortrages; der Declamation gesagt.
Soll der Vortrag ganz vollkommen seyn, so muß auch das Sichtbare an dem Redner mit dem, was man von ihm hört übereinstimmen. Es ist unnöthig hier zu wiederholen, was schon an so mancher Stelle dieses Werks angemerkt worden, daß Stel- lung, Gebehrden und Gesichtszüge, bald jede Em- pfindung der Seele verrathen, oder vielmehr mit solcher Kraft ausdrüken, daß empfindsame Men- schen, durch das bloße Anschauen dieselben Empfin- dungen fühlen, die sie an andern sehen. (*) Wie dieses Sichtbare bey jeder verschiedenen Gemüths- lage beschaffen sey, kann Niemand beschreiben, auch
kann
(*) Man muß hier das vor Au- gen haben, was in den Artikeln Stellung, Gebehrden, Schönheit, hierüber ge- sagt worden
[Spaltenumbruch]
Vor
zu vermehren. Dadurch wird er fuͤhlen lernen, wodurch ein Ton froͤhlich, zaͤrtlich, ſchmeichelnd, krie- chend, demuͤthig, oder traurig, klaͤglich, ſcheltend, zornig, ſtreng, wodurch er fluͤchtig, gleichguͤltig, ernſthaft, feyerlich wird. Denn es iſt außer Zwei- fel, daß blos der Ton der Red alle dieſe Eigenſchaf- ten annehmen koͤnne.
Nach dem Ton, ſeiner Bildung und Stimmung, kommt die Bewegung der Stimme zum Ausdruk in Betrachtung. Die Tonſezer unterſcheiden nicht nur die verſchiedenen Grade des geſchwinden und lang- ſamen in der Bewegung, durch ihre Kunſtwoͤrter Allegro, Andante, Largo u. d. gl. ſondern auch noch den beſondern leidenſchaftlichen Charakter, den ſie durch die Worte Vivace, Moderato, Grave, Gra- tioſo, con Tenerezza und dergleichen Ausdruͤken. Die Tanzmelodien beweiſen, daß die Bewegung al- lein ungemein viel zum Ausdruk der beſondern Ar- ten der Empfindung beytrage. Da ſie insgemein ohne Worte nur durch Jnſtrumente vorgetragen werden, ſo muͤßten die Tonſezer nothwendig alle moͤgliche Veraͤnderungen des Ausdruks, der aus der Art der Bewegung entſtehet, in ihrer Gewalt haben, da Redner und Dichter ſich zum Theil auch auf den Sinn der Worte verlaſſen koͤnnen. Deswegen kann der Redner nur in der Schule der Muſik alles lernen, was er uͤber die Bewegung der Stimme zu beobachten hat. So klaͤglich die vorher angefuͤhrte Stelle aus der bekannten Ramleriſchen Cantate dem Sinne nach iſt, wird ſie jeder Tonſezer in einer ſolchen Bewegung, und Taktart ſezen koͤnnen, die des klaͤglichen Sinnes ungeachtet, Gleichguͤltigkeit, oder gar Leichtſinn ausdruͤkt.
Es iſt um ſo viel wichtiger die wahre Bewegung fuͤr jeden Ausdruk zu treffen; da ſie die leidenſchaft- liche Bildung der einzelen Toͤne, wovon vorher ge- ſprochen worden, entweder erleichtert, auch wol an die Hand giebt, oder gar unmoͤglich macht. Denn wo irgend eine Sylbe nach Art der Bewegung auf eine ſchlechte Taktzeit faͤllt, ſo iſt es nicht moͤglich ihr einen leidenſchaftlichen Nachdruk zu geben, weil die Bewegung ein leichtes Anſchlagen derſelben erfo- dert. Dem Redner iſt alſo zur kraͤftigen Deklam a- tion eine genaue Kenntnis von den Eigenſchaften und Wuͤrkungen des Rhythmus unumgaͤnglich noth- wendig. Er muß fuͤr jede Periode der Rede, nach dem in dem Sinne liegenden Ausdruk, den ſchiklich- ſten Rhythmus zu waͤhlen wiſſen, ſonſt iſt es nicht [Spaltenumbruch]
Vor
moͤglich, daß er uͤberall die wahre Deklamation treffe. Da die Theorie des Rhythmus ſelbſt noch ſo wenig bearbeitet iſt, ſo kann man auch dem Red- ner keine beſtimmte Regeln uͤber die beſondern Faͤlle der Deklamation geben. Wer indeſſen zu wiſſen verlanget, was etwa hieruͤber von den beſten Lehrern der Redner geſagt worden, den verweiſen wir auf das dritte Capitel des XI Buchs der Jnſtitution des Quintilians.
Jede Leidenſchaft und uͤberhaupt jede beſondere Gemuͤthslage hat nicht nur ihre eigene Art, ſondern in dieſer Art auch ihren Grad der Wuͤrkſamkeit, und beydes kann durch rhythmiſche Bewegung aus- gedruͤkt, oder geſchildert werden. Das ruhige, ge- laſſene, ſanfte, zaͤrtliche, das lebhafte, heftige, ſtuͤr- miſche und mehr dergleichen Eigenſchaften, unſrer innern Wuͤrkſamkeit, koͤnnen durch rhythmiſche Be- wegung fuͤhlbar gemacht werden; dieſes iſt durch der Muſik voͤllig außer Zweifel geſezt. Alſo muß der Redner, ſo genau, als ihm moͤglich iſt, dieſe Uebereinſtimmung zwiſchen der rhythmiſchen Bewe- gung der Toͤne, und den Gemuͤthsbewegungen, ſorg- faͤltig bemerken. Dieſes iſt der Weg, auf dem er zum wahren Ausdruk der Deklamation kommen kann. Denn kommt es in jedem beſondern Fall noch darauf an, daß er ſich befleiße, die wahre Ge- muͤthslage, in welcher jede Periode der Rede muß vorgetragen werden, genau zu treffen, und daß er Empfindſamkeit genug habe, ſich in dieſelbe zu ſezen. Hat er dieſen Punkt gewonnen, ſo wird er auch Ton und Bewegung treffen; die Kunſt aber, oder die genauere Kenntnis der Beſchaffenheit der rhythmi- ſchen Charaktere, wird das, was die Empfindung ihm bereits an die Hand gegeben hat, noch vollkom- mener machen. So viel ſey von dem erſten Punkt des Vortrages; der Declamation geſagt.
Soll der Vortrag ganz vollkommen ſeyn, ſo muß auch das Sichtbare an dem Redner mit dem, was man von ihm hoͤrt uͤbereinſtimmen. Es iſt unnoͤthig hier zu wiederholen, was ſchon an ſo mancher Stelle dieſes Werks angemerkt worden, daß Stel- lung, Gebehrden und Geſichtszuͤge, bald jede Em- pfindung der Seele verrathen, oder vielmehr mit ſolcher Kraft ausdruͤken, daß empfindſame Men- ſchen, durch das bloße Anſchauen dieſelben Empfin- dungen fuͤhlen, die ſie an andern ſehen. (*) Wie dieſes Sichtbare bey jeder verſchiedenen Gemuͤths- lage beſchaffen ſey, kann Niemand beſchreiben, auch
kann
(*) Man muß hier das vor Au- gen haben, was in den Artikeln Stellung, Gebehrden, Schoͤnheit, hieruͤber ge- ſagt worden
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[1246[1228]/0675]
Vor
Vor
zu vermehren. Dadurch wird er fuͤhlen lernen,
wodurch ein Ton froͤhlich, zaͤrtlich, ſchmeichelnd, krie-
chend, demuͤthig, oder traurig, klaͤglich, ſcheltend,
zornig, ſtreng, wodurch er fluͤchtig, gleichguͤltig,
ernſthaft, feyerlich wird. Denn es iſt außer Zwei-
fel, daß blos der Ton der Red alle dieſe Eigenſchaf-
ten annehmen koͤnne.
Nach dem Ton, ſeiner Bildung und Stimmung,
kommt die Bewegung der Stimme zum Ausdruk in
Betrachtung. Die Tonſezer unterſcheiden nicht nur
die verſchiedenen Grade des geſchwinden und lang-
ſamen in der Bewegung, durch ihre Kunſtwoͤrter
Allegro, Andante, Largo u. d. gl. ſondern auch noch
den beſondern leidenſchaftlichen Charakter, den ſie
durch die Worte Vivace, Moderato, Grave, Gra-
tioſo, con Tenerezza und dergleichen Ausdruͤken.
Die Tanzmelodien beweiſen, daß die Bewegung al-
lein ungemein viel zum Ausdruk der beſondern Ar-
ten der Empfindung beytrage. Da ſie insgemein
ohne Worte nur durch Jnſtrumente vorgetragen
werden, ſo muͤßten die Tonſezer nothwendig alle
moͤgliche Veraͤnderungen des Ausdruks, der aus der
Art der Bewegung entſtehet, in ihrer Gewalt haben,
da Redner und Dichter ſich zum Theil auch auf
den Sinn der Worte verlaſſen koͤnnen. Deswegen
kann der Redner nur in der Schule der Muſik alles
lernen, was er uͤber die Bewegung der Stimme zu
beobachten hat. So klaͤglich die vorher angefuͤhrte
Stelle aus der bekannten Ramleriſchen Cantate
dem Sinne nach iſt, wird ſie jeder Tonſezer in einer
ſolchen Bewegung, und Taktart ſezen koͤnnen, die
des klaͤglichen Sinnes ungeachtet, Gleichguͤltigkeit,
oder gar Leichtſinn ausdruͤkt.
Es iſt um ſo viel wichtiger die wahre Bewegung
fuͤr jeden Ausdruk zu treffen; da ſie die leidenſchaft-
liche Bildung der einzelen Toͤne, wovon vorher ge-
ſprochen worden, entweder erleichtert, auch wol an
die Hand giebt, oder gar unmoͤglich macht. Denn
wo irgend eine Sylbe nach Art der Bewegung auf
eine ſchlechte Taktzeit faͤllt, ſo iſt es nicht moͤglich
ihr einen leidenſchaftlichen Nachdruk zu geben, weil
die Bewegung ein leichtes Anſchlagen derſelben erfo-
dert. Dem Redner iſt alſo zur kraͤftigen Deklam a-
tion eine genaue Kenntnis von den Eigenſchaften
und Wuͤrkungen des Rhythmus unumgaͤnglich noth-
wendig. Er muß fuͤr jede Periode der Rede, nach
dem in dem Sinne liegenden Ausdruk, den ſchiklich-
ſten Rhythmus zu waͤhlen wiſſen, ſonſt iſt es nicht
moͤglich, daß er uͤberall die wahre Deklamation
treffe. Da die Theorie des Rhythmus ſelbſt noch
ſo wenig bearbeitet iſt, ſo kann man auch dem Red-
ner keine beſtimmte Regeln uͤber die beſondern Faͤlle
der Deklamation geben. Wer indeſſen zu wiſſen
verlanget, was etwa hieruͤber von den beſten Lehrern
der Redner geſagt worden, den verweiſen wir auf
das dritte Capitel des XI Buchs der Jnſtitution des
Quintilians.
Jede Leidenſchaft und uͤberhaupt jede beſondere
Gemuͤthslage hat nicht nur ihre eigene Art, ſondern
in dieſer Art auch ihren Grad der Wuͤrkſamkeit,
und beydes kann durch rhythmiſche Bewegung aus-
gedruͤkt, oder geſchildert werden. Das ruhige, ge-
laſſene, ſanfte, zaͤrtliche, das lebhafte, heftige, ſtuͤr-
miſche und mehr dergleichen Eigenſchaften, unſrer
innern Wuͤrkſamkeit, koͤnnen durch rhythmiſche Be-
wegung fuͤhlbar gemacht werden; dieſes iſt durch
der Muſik voͤllig außer Zweifel geſezt. Alſo muß
der Redner, ſo genau, als ihm moͤglich iſt, dieſe
Uebereinſtimmung zwiſchen der rhythmiſchen Bewe-
gung der Toͤne, und den Gemuͤthsbewegungen, ſorg-
faͤltig bemerken. Dieſes iſt der Weg, auf dem er
zum wahren Ausdruk der Deklamation kommen
kann. Denn kommt es in jedem beſondern Fall
noch darauf an, daß er ſich befleiße, die wahre Ge-
muͤthslage, in welcher jede Periode der Rede muß
vorgetragen werden, genau zu treffen, und daß er
Empfindſamkeit genug habe, ſich in dieſelbe zu ſezen.
Hat er dieſen Punkt gewonnen, ſo wird er auch Ton
und Bewegung treffen; die Kunſt aber, oder die
genauere Kenntnis der Beſchaffenheit der rhythmi-
ſchen Charaktere, wird das, was die Empfindung
ihm bereits an die Hand gegeben hat, noch vollkom-
mener machen. So viel ſey von dem erſten Punkt
des Vortrages; der Declamation geſagt.
Soll der Vortrag ganz vollkommen ſeyn, ſo muß
auch das Sichtbare an dem Redner mit dem, was
man von ihm hoͤrt uͤbereinſtimmen. Es iſt unnoͤthig
hier zu wiederholen, was ſchon an ſo mancher
Stelle dieſes Werks angemerkt worden, daß Stel-
lung, Gebehrden und Geſichtszuͤge, bald jede Em-
pfindung der Seele verrathen, oder vielmehr mit
ſolcher Kraft ausdruͤken, daß empfindſame Men-
ſchen, durch das bloße Anſchauen dieſelben Empfin-
dungen fuͤhlen, die ſie an andern ſehen. (*) Wie
dieſes Sichtbare bey jeder verſchiedenen Gemuͤths-
lage beſchaffen ſey, kann Niemand beſchreiben, auch
kann
(*) Man
muß hier
das vor Au-
gen haben,
was in den
Artikeln
Stellung,
Gebehrden,
Schoͤnheit,
hieruͤber ge-
ſagt worden
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1246[1228]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/675>, abgerufen am 24.11.2024.
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