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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Leb

kommt genau mit der Empfindung überein, die der
Dichter hier gehabt, und die jeder Leser haben wird.

Eine einzige Anmerkung bestimmt alles, was sich
über den lebendigen Ausdruk sagen läßt. Der Ton
und Fall des Verses ist nicht für den Verstand, son-
dern für das Herz. Dieses beschäftiget sich blos
mit seinen Empfindungen; es hat kein Aug zum
sehen, erkennet nicht, sondern fühlt nur. Jn der
Empfindung geben wir blos auf unsern innern Zu-
stand Achtung, nicht auf die Beschaffenheit des Ge-
genstandes; was also im lebendigen Ausdruke nicht
Gefühl ist, gehort nicht zur Sprache des Herzens,
und kann poßirlich oder gar abgeschmakt werden.
Sehen wir nicht in einigen niedrig comischen Ope-
retten, daß gerade dergleichen Schilderungen am
besten das poßirliche ausdrüken; wie wenn ein Mensch
im Schreken das Pochen des Herzens durch Vers
und Gesang nachahmet?

Die ungeschikteste Anwendung des schildernden
Ausdruks wird da gemacht, wo man den Gegen-
stand der uns in Empfindung sezet, gerade gegen
die Empfindung schildert; wie es bisweilen sehr un-
überlegt in der Musik geschieht. Ein Mensch, der
vom Ueberdruß des Lebens durchdrungen, sich nach
der ewigen Ruhe sehnet, muß von seinem nahen Tode
nicht in dem ängstlichen Ton des Menschen spre-
chen, der diesen Schritt mit Schreken thut. Es
wäre völlig ungereimt, wenn ein Dichter ihm eine
Red in den Mund legte, die durch den Ton und den
Fall der Worte das Schrekhafte des Sterbens, und
das Fürchterliche der Ewigkeit schilderte.

Also muß kein Gegenstand nach seiner Beschaffen-
heit; sondern nach dem Eindruk den er auf das
Herze macht, durch den Ton geschildert werden.
Wer einen Sturm beschreibet, um andern etwas von
der Angst fühlen zu lassen, die er dabey ausgestan-
den hat, erreicht allerdings seinen Endzwek besser,
wenn auch der Ton der Worte das Heulen und Brau-
sen des Windes nachahmet; würde er aber in ei-
nem lehrenden Vortrag die Gewalt des Windes be-
schreiben, da er als ein Naturforscher davon spricht,
so würd' es sehr frostig herauskommen, wenn er die
Grade der Stärke des Windes durch seinen Vortrag
zu empfinden geben wollte; ganz lächerlich aber
würd' es seyn, wenn man, da des Sturms nur
beyläufig Erwähnung geschiehet, ihn so schildern
wollte. Wer noch voll Schreken die Gefahr überge-
ritten zu werden, erzählte; würde der nicht lächer-
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Leb
lich werden, wenn er das Galoppiren des Pferdes
durch seine Rede schilderte? Da überhaupt der leben-
dige Ausdruk den Charakter der Musik an sich hat,
so muß sich der Geschmak desselben auch nach den
Grundsäzen des Ausdruks der Musik richten. (*)

Den lebendigen Ausdruk därf man nicht mühe-
sam suchen; er biethet sich insgemein von selbst an.
Der Dichter därf nur sich seiner Empfindung über-
lassen, sie wird ihn auf Töne, Wörter, Sylden-
maaß und Rhythmus leiten, die sich am besten da-
zu schiken; sein Ausdruk wird lebendig werden, ohne
daß er es gesucht hat. Jst er durch die Empfin-
dung selbst darauf geleitet worden, so wird sein Aus-
druk um so viel kräftiger seyn. Mich dünkt, daß
unter den Dichtern, die mir bekannt sind, Euripides
darin am glüklichsten gewesen sey; eine einzige Stelle
soll zur Probe dienen, wie nachdrüklich er die Leiden-
schaft durch den Ton der Worte zu schildern gewußt
hat. Jn seinem Orestes steht Elektra vor der Thüre
des Saales, in welchem ihr Bruder mit dem Pyla-
des die Helena ermorden wollen. Als sie da das
Schreyen der Helena höret, ruft sie ihren Freunden
durch die Thüre zu.

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Mich dünkt, daß der Ton dieser Verse den heftigen
Affekt der Elektra sehr lebhaft mahle. Der erste
drükt die hizige Eil, in der der Mord begangen
werden soll, durch die schnellen Daktylen aus; töd-
tet sie, stechet sie, mordet, zernichtet sie.
Die Hef-
tigkeit der mördrischen Streiche scheinet durch die
folgenden zwey Verse, fühlbar, und der vierte ist
völlig in dem Tone des Scheltens.

Es muß uns nothwendig rühren, wenn Horaz,
da er von dem Sterben eines glüklichen und durch
manches angenehme Band an das Leben angeheste-
ten Mannes in dem beweglichen Ton spricht, den
der folgende Vers so gut ausdrükt:

Linquenda tellus et domus et placens,
Uxor. (*)

Und wir empfinden die Hoheit der Juno in ihren
Worten:

-- quae Divum incedo Regina.

Eben so fühlt man ein Schaudern durch alle Glieder
wenn man bep Virgils Beschreibung der seyerlichen

Anstal-
(*) S. Mu-
sik; Mah-
lerey in der
Musik.
(*) Euri-
pid. Orest.
vs.
1305.
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Leb

kommt genau mit der Empfindung uͤberein, die der
Dichter hier gehabt, und die jeder Leſer haben wird.

Eine einzige Anmerkung beſtimmt alles, was ſich
uͤber den lebendigen Ausdruk ſagen laͤßt. Der Ton
und Fall des Verſes iſt nicht fuͤr den Verſtand, ſon-
dern fuͤr das Herz. Dieſes beſchaͤftiget ſich blos
mit ſeinen Empfindungen; es hat kein Aug zum
ſehen, erkennet nicht, ſondern fuͤhlt nur. Jn der
Empfindung geben wir blos auf unſern innern Zu-
ſtand Achtung, nicht auf die Beſchaffenheit des Ge-
genſtandes; was alſo im lebendigen Ausdruke nicht
Gefuͤhl iſt, gehort nicht zur Sprache des Herzens,
und kann poßirlich oder gar abgeſchmakt werden.
Sehen wir nicht in einigen niedrig comiſchen Ope-
retten, daß gerade dergleichen Schilderungen am
beſten das poßirliche ausdruͤken; wie wenn ein Menſch
im Schreken das Pochen des Herzens durch Vers
und Geſang nachahmet?

Die ungeſchikteſte Anwendung des ſchildernden
Ausdruks wird da gemacht, wo man den Gegen-
ſtand der uns in Empfindung ſezet, gerade gegen
die Empfindung ſchildert; wie es bisweilen ſehr un-
uͤberlegt in der Muſik geſchieht. Ein Menſch, der
vom Ueberdruß des Lebens durchdrungen, ſich nach
der ewigen Ruhe ſehnet, muß von ſeinem nahen Tode
nicht in dem aͤngſtlichen Ton des Menſchen ſpre-
chen, der dieſen Schritt mit Schreken thut. Es
waͤre voͤllig ungereimt, wenn ein Dichter ihm eine
Red in den Mund legte, die durch den Ton und den
Fall der Worte das Schrekhafte des Sterbens, und
das Fuͤrchterliche der Ewigkeit ſchilderte.

Alſo muß kein Gegenſtand nach ſeiner Beſchaffen-
heit; ſondern nach dem Eindruk den er auf das
Herze macht, durch den Ton geſchildert werden.
Wer einen Sturm beſchreibet, um andern etwas von
der Angſt fuͤhlen zu laſſen, die er dabey ausgeſtan-
den hat, erreicht allerdings ſeinen Endzwek beſſer,
wenn auch der Ton der Worte das Heulen und Brau-
ſen des Windes nachahmet; wuͤrde er aber in ei-
nem lehrenden Vortrag die Gewalt des Windes be-
ſchreiben, da er als ein Naturforſcher davon ſpricht,
ſo wuͤrd’ es ſehr froſtig herauskommen, wenn er die
Grade der Staͤrke des Windes durch ſeinen Vortrag
zu empfinden geben wollte; ganz laͤcherlich aber
wuͤrd’ es ſeyn, wenn man, da des Sturms nur
beylaͤufig Erwaͤhnung geſchiehet, ihn ſo ſchildern
wollte. Wer noch voll Schreken die Gefahr uͤberge-
ritten zu werden, erzaͤhlte; wuͤrde der nicht laͤcher-
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Leb
lich werden, wenn er das Galoppiren des Pferdes
durch ſeine Rede ſchilderte? Da uͤberhaupt der leben-
dige Ausdruk den Charakter der Muſik an ſich hat,
ſo muß ſich der Geſchmak deſſelben auch nach den
Grundſaͤzen des Ausdruks der Muſik richten. (*)

Den lebendigen Ausdruk daͤrf man nicht muͤhe-
ſam ſuchen; er biethet ſich insgemein von ſelbſt an.
Der Dichter daͤrf nur ſich ſeiner Empfindung uͤber-
laſſen, ſie wird ihn auf Toͤne, Woͤrter, Sylden-
maaß und Rhythmus leiten, die ſich am beſten da-
zu ſchiken; ſein Ausdruk wird lebendig werden, ohne
daß er es geſucht hat. Jſt er durch die Empfin-
dung ſelbſt darauf geleitet worden, ſo wird ſein Aus-
druk um ſo viel kraͤftiger ſeyn. Mich duͤnkt, daß
unter den Dichtern, die mir bekannt ſind, Euripides
darin am gluͤklichſten geweſen ſey; eine einzige Stelle
ſoll zur Probe dienen, wie nachdruͤklich er die Leiden-
ſchaft durch den Ton der Worte zu ſchildern gewußt
hat. Jn ſeinem Oreſtes ſteht Elektra vor der Thuͤre
des Saales, in welchem ihr Bruder mit dem Pyla-
des die Helena ermorden wollen. Als ſie da das
Schreyen der Helena hoͤret, ruft ſie ihren Freunden
durch die Thuͤre zu.

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Mich duͤnkt, daß der Ton dieſer Verſe den heftigen
Affekt der Elektra ſehr lebhaft mahle. Der erſte
druͤkt die hizige Eil, in der der Mord begangen
werden ſoll, durch die ſchnellen Daktylen aus; toͤd-
tet ſie, ſtechet ſie, mordet, zernichtet ſie.
Die Hef-
tigkeit der moͤrdriſchen Streiche ſcheinet durch die
folgenden zwey Verſe, fuͤhlbar, und der vierte iſt
voͤllig in dem Tone des Scheltens.

Es muß uns nothwendig ruͤhren, wenn Horaz,
da er von dem Sterben eines gluͤklichen und durch
manches angenehme Band an das Leben angeheſte-
ten Mannes in dem beweglichen Ton ſpricht, den
der folgende Vers ſo gut ausdruͤkt:

Linquenda tellus et domus et placens,
Uxor. (*)

Und wir empfinden die Hoheit der Juno in ihren
Worten:

quæ Divum incedo Regina.

Eben ſo fuͤhlt man ein Schaudern durch alle Glieder
wenn man bep Virgils Beſchreibung der ſeyerlichen

Anſtal-
(*) S. Mu-
ſik; Mah-
lerey in der
Muſik.
(*) Euri-
pid. Oreſt.
vs.
1305.
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[682[664]/0099] Leb Leb kommt genau mit der Empfindung uͤberein, die der Dichter hier gehabt, und die jeder Leſer haben wird. Eine einzige Anmerkung beſtimmt alles, was ſich uͤber den lebendigen Ausdruk ſagen laͤßt. Der Ton und Fall des Verſes iſt nicht fuͤr den Verſtand, ſon- dern fuͤr das Herz. Dieſes beſchaͤftiget ſich blos mit ſeinen Empfindungen; es hat kein Aug zum ſehen, erkennet nicht, ſondern fuͤhlt nur. Jn der Empfindung geben wir blos auf unſern innern Zu- ſtand Achtung, nicht auf die Beſchaffenheit des Ge- genſtandes; was alſo im lebendigen Ausdruke nicht Gefuͤhl iſt, gehort nicht zur Sprache des Herzens, und kann poßirlich oder gar abgeſchmakt werden. Sehen wir nicht in einigen niedrig comiſchen Ope- retten, daß gerade dergleichen Schilderungen am beſten das poßirliche ausdruͤken; wie wenn ein Menſch im Schreken das Pochen des Herzens durch Vers und Geſang nachahmet? Die ungeſchikteſte Anwendung des ſchildernden Ausdruks wird da gemacht, wo man den Gegen- ſtand der uns in Empfindung ſezet, gerade gegen die Empfindung ſchildert; wie es bisweilen ſehr un- uͤberlegt in der Muſik geſchieht. Ein Menſch, der vom Ueberdruß des Lebens durchdrungen, ſich nach der ewigen Ruhe ſehnet, muß von ſeinem nahen Tode nicht in dem aͤngſtlichen Ton des Menſchen ſpre- chen, der dieſen Schritt mit Schreken thut. Es waͤre voͤllig ungereimt, wenn ein Dichter ihm eine Red in den Mund legte, die durch den Ton und den Fall der Worte das Schrekhafte des Sterbens, und das Fuͤrchterliche der Ewigkeit ſchilderte. Alſo muß kein Gegenſtand nach ſeiner Beſchaffen- heit; ſondern nach dem Eindruk den er auf das Herze macht, durch den Ton geſchildert werden. Wer einen Sturm beſchreibet, um andern etwas von der Angſt fuͤhlen zu laſſen, die er dabey ausgeſtan- den hat, erreicht allerdings ſeinen Endzwek beſſer, wenn auch der Ton der Worte das Heulen und Brau- ſen des Windes nachahmet; wuͤrde er aber in ei- nem lehrenden Vortrag die Gewalt des Windes be- ſchreiben, da er als ein Naturforſcher davon ſpricht, ſo wuͤrd’ es ſehr froſtig herauskommen, wenn er die Grade der Staͤrke des Windes durch ſeinen Vortrag zu empfinden geben wollte; ganz laͤcherlich aber wuͤrd’ es ſeyn, wenn man, da des Sturms nur beylaͤufig Erwaͤhnung geſchiehet, ihn ſo ſchildern wollte. Wer noch voll Schreken die Gefahr uͤberge- ritten zu werden, erzaͤhlte; wuͤrde der nicht laͤcher- lich werden, wenn er das Galoppiren des Pferdes durch ſeine Rede ſchilderte? Da uͤberhaupt der leben- dige Ausdruk den Charakter der Muſik an ſich hat, ſo muß ſich der Geſchmak deſſelben auch nach den Grundſaͤzen des Ausdruks der Muſik richten. (*) Den lebendigen Ausdruk daͤrf man nicht muͤhe- ſam ſuchen; er biethet ſich insgemein von ſelbſt an. Der Dichter daͤrf nur ſich ſeiner Empfindung uͤber- laſſen, ſie wird ihn auf Toͤne, Woͤrter, Sylden- maaß und Rhythmus leiten, die ſich am beſten da- zu ſchiken; ſein Ausdruk wird lebendig werden, ohne daß er es geſucht hat. Jſt er durch die Empfin- dung ſelbſt darauf geleitet worden, ſo wird ſein Aus- druk um ſo viel kraͤftiger ſeyn. Mich duͤnkt, daß unter den Dichtern, die mir bekannt ſind, Euripides darin am gluͤklichſten geweſen ſey; eine einzige Stelle ſoll zur Probe dienen, wie nachdruͤklich er die Leiden- ſchaft durch den Ton der Worte zu ſchildern gewußt hat. Jn ſeinem Oreſtes ſteht Elektra vor der Thuͤre des Saales, in welchem ihr Bruder mit dem Pyla- des die Helena ermorden wollen. Als ſie da das Schreyen der Helena hoͤret, ruft ſie ihren Freunden durch die Thuͤre zu. ϕ_ν_υετε, κα_νετ_, θιιετ_, _λλυτ_. Διπτυχα, διςομα, φασγανα π_μπ_τ_, Εκχ_ρ_ς ίμςι ταν Λεπ_ρα, λ_πγαμ_ν - - (*) Mich duͤnkt, daß der Ton dieſer Verſe den heftigen Affekt der Elektra ſehr lebhaft mahle. Der erſte druͤkt die hizige Eil, in der der Mord begangen werden ſoll, durch die ſchnellen Daktylen aus; toͤd- tet ſie, ſtechet ſie, mordet, zernichtet ſie. Die Hef- tigkeit der moͤrdriſchen Streiche ſcheinet durch die folgenden zwey Verſe, fuͤhlbar, und der vierte iſt voͤllig in dem Tone des Scheltens. Es muß uns nothwendig ruͤhren, wenn Horaz, da er von dem Sterben eines gluͤklichen und durch manches angenehme Band an das Leben angeheſte- ten Mannes in dem beweglichen Ton ſpricht, den der folgende Vers ſo gut ausdruͤkt: Linquenda tellus et domus et placens, Uxor. (*) Und wir empfinden die Hoheit der Juno in ihren Worten: — quæ Divum incedo Regina. Eben ſo fuͤhlt man ein Schaudern durch alle Glieder wenn man bep Virgils Beſchreibung der ſeyerlichen Anſtal- (*) S. Mu- ſik; Mah- lerey in der Muſik. (*) Euri- pid. Oreſt. vs. 1305.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 682[664]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/99>, abgerufen am 27.11.2024.