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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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daß sie zu dem Gedanken kommt: Siehe, wie vergnügt
bist du, wie traurig, wie zornig u. s. w. so hat die Be-
wegung schon angefangen nachzulassen, der Sturm bricht
sich, und wir fühlen es in diesem Augenblick, daß er
schon etwas geschwächet sey, wenn er auch bald darauf
von neuem mit größerer Stärke hervordringet und die
Seele überwältiget. Das Bewußtseyn verbindet sich
nicht mit der ersten Aufwallung des Gemüths; es ist
offenbar nur eine Nachwallung von jener, welche wir
in uns gewahrnehmen.

Und nicht anders verhält es sich in den schwächern
Empfindnissen. Sie bestehen eine Weile, und
dann können wir sie gewahrnehmen, nicht in ihrem An-
fang, sondern in ihrer Mitte; dagegen andere Verän-
derungen, die keine Dauer in uns haben, die durch das
Herz fahren, wie der Blitz durch die Luft, und in dem
Augenblick vergehen, in welchem sie entstanden sind,
auch niemals beobachtet werden können. Wir fühlen
sie, indem sie hindurch fahren, und aus ihren Spuren
erkennen wir, daß sie da gewesen sind, aber die betrof-
fene Seele kann in dem Augenblick ihrer Gegenwart
nicht zur Besinnung kommen, noch sich ihrer bewußt
werden, und noch weniger kann sie mit dem Bewußt-
seyn bey ihnen sich verweilen und ihre Verhältnisse auf-
suchen.

6) Lasset uns nun solche vorhergehabte Empfind-
nisse
als abwesende mit der Einbildungskraft uns
wieder vorstellen. Wir finden sogleich, daß diese Wie-
dervorstellungen zu jenen ersten Empfindungsvorstellun-
gen ein ähnliches Verhältniß haben, wie die Einbildun-
gen von Körpern auf ihre Empfindungen. So wie wir
durch jedes Phantasma in den ersten Zustand der Em-
pfindung bis auf einen gewissen Grad zurückversetzet wer-
den; so geschieht es auch hier. Wir können niemals ei-
ne Vorstellung davon haben, welch ein Vergnügen wir

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der Vorſtellungen.
daß ſie zu dem Gedanken kommt: Siehe, wie vergnuͤgt
biſt du, wie traurig, wie zornig u. ſ. w. ſo hat die Be-
wegung ſchon angefangen nachzulaſſen, der Sturm bricht
ſich, und wir fuͤhlen es in dieſem Augenblick, daß er
ſchon etwas geſchwaͤchet ſey, wenn er auch bald darauf
von neuem mit groͤßerer Staͤrke hervordringet und die
Seele uͤberwaͤltiget. Das Bewußtſeyn verbindet ſich
nicht mit der erſten Aufwallung des Gemuͤths; es iſt
offenbar nur eine Nachwallung von jener, welche wir
in uns gewahrnehmen.

Und nicht anders verhaͤlt es ſich in den ſchwaͤchern
Empfindniſſen. Sie beſtehen eine Weile, und
dann koͤnnen wir ſie gewahrnehmen, nicht in ihrem An-
fang, ſondern in ihrer Mitte; dagegen andere Veraͤn-
derungen, die keine Dauer in uns haben, die durch das
Herz fahren, wie der Blitz durch die Luft, und in dem
Augenblick vergehen, in welchem ſie entſtanden ſind,
auch niemals beobachtet werden koͤnnen. Wir fuͤhlen
ſie, indem ſie hindurch fahren, und aus ihren Spuren
erkennen wir, daß ſie da geweſen ſind, aber die betrof-
fene Seele kann in dem Augenblick ihrer Gegenwart
nicht zur Beſinnung kommen, noch ſich ihrer bewußt
werden, und noch weniger kann ſie mit dem Bewußt-
ſeyn bey ihnen ſich verweilen und ihre Verhaͤltniſſe auf-
ſuchen.

6) Laſſet uns nun ſolche vorhergehabte Empfind-
niſſe
als abweſende mit der Einbildungskraft uns
wieder vorſtellen. Wir finden ſogleich, daß dieſe Wie-
dervorſtellungen zu jenen erſten Empfindungsvorſtellun-
gen ein aͤhnliches Verhaͤltniß haben, wie die Einbildun-
gen von Koͤrpern auf ihre Empfindungen. So wie wir
durch jedes Phantasma in den erſten Zuſtand der Em-
pfindung bis auf einen gewiſſen Grad zuruͤckverſetzet wer-
den; ſo geſchieht es auch hier. Wir koͤnnen niemals ei-
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[55/0115] der Vorſtellungen. daß ſie zu dem Gedanken kommt: Siehe, wie vergnuͤgt biſt du, wie traurig, wie zornig u. ſ. w. ſo hat die Be- wegung ſchon angefangen nachzulaſſen, der Sturm bricht ſich, und wir fuͤhlen es in dieſem Augenblick, daß er ſchon etwas geſchwaͤchet ſey, wenn er auch bald darauf von neuem mit groͤßerer Staͤrke hervordringet und die Seele uͤberwaͤltiget. Das Bewußtſeyn verbindet ſich nicht mit der erſten Aufwallung des Gemuͤths; es iſt offenbar nur eine Nachwallung von jener, welche wir in uns gewahrnehmen. Und nicht anders verhaͤlt es ſich in den ſchwaͤchern Empfindniſſen. Sie beſtehen eine Weile, und dann koͤnnen wir ſie gewahrnehmen, nicht in ihrem An- fang, ſondern in ihrer Mitte; dagegen andere Veraͤn- derungen, die keine Dauer in uns haben, die durch das Herz fahren, wie der Blitz durch die Luft, und in dem Augenblick vergehen, in welchem ſie entſtanden ſind, auch niemals beobachtet werden koͤnnen. Wir fuͤhlen ſie, indem ſie hindurch fahren, und aus ihren Spuren erkennen wir, daß ſie da geweſen ſind, aber die betrof- fene Seele kann in dem Augenblick ihrer Gegenwart nicht zur Beſinnung kommen, noch ſich ihrer bewußt werden, und noch weniger kann ſie mit dem Bewußt- ſeyn bey ihnen ſich verweilen und ihre Verhaͤltniſſe auf- ſuchen. 6) Laſſet uns nun ſolche vorhergehabte Empfind- niſſe als abweſende mit der Einbildungskraft uns wieder vorſtellen. Wir finden ſogleich, daß dieſe Wie- dervorſtellungen zu jenen erſten Empfindungsvorſtellun- gen ein aͤhnliches Verhaͤltniß haben, wie die Einbildun- gen von Koͤrpern auf ihre Empfindungen. So wie wir durch jedes Phantasma in den erſten Zuſtand der Em- pfindung bis auf einen gewiſſen Grad zuruͤckverſetzet wer- den; ſo geſchieht es auch hier. Wir koͤnnen niemals ei- ne Vorſtellung davon haben, welch ein Vergnuͤgen wir an D 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/115>, abgerufen am 22.12.2024.