Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Versuch. Ueber die Natur
dungskraft, die bey der Reproduktion mit den nach-
folgenden
Vorstellungen anfängt, den Weg über je-
nes Glied in der Reihe nemlich über die Gemüthsbewe-
gung genommen haben, ehe sie zu der Reproduktion der
vorhergehenden verursachenden Vorstellungen hat hin-
kommen können. Das heißt, sie muß die Gemüthsbe-
wegung unmittelbar bey Jdeen wieder erwecken, die sol-
che nicht verursachen, und die Wiedervorstellung von je-
ner zu einer neuen Empfindung machen können.

Endlich müßte folgen, daß die Uebertragung
der Neigungen
von einer Jdee auf andere, die durch
viele Beobachtungen bestätiget ist, ein bloßer Schein
sey. Jst sie gegründet, so kann eine Neigung unmit-
telbar in Verknüpfung mit einer Vorstellung gebracht
werden, mit der sie sonsten nur auf eine entfernte Art
zusammenhängt. Finden sich nun dergleichen Uebertra-
gungen wirklich, so giebt es ja Fälle, in denen die Nei-
gung zunächst durch Jdeen wieder erwecket wird, wo-
von es sich nicht einmal vermuthen läßt, daß sie als
wirkende Ursachen sie hervorbringen. Dergleichen Ue-
bertragungen sind gewöhnlich. Wenn wir eine fremde
Sprache erlernen, so übersetzen wir ihre Wörter zuerst
in die Wörter unserer Muttersprache, und durch diese
Vermittelung erregen wir die damit verbundenen Gedan-
ken. Am Ende verlieret sich dieß. Wir gewöhnen
uns, die Jdeen mit den fremden Wörtern unmittelbar
zu verbinden, und bedörfen dann jener Zwischenvorstel-
lungen nicht mehr. Mich deucht, man müsse vielen
Beobachtungen Gewalt anthun, wenn man es läugnen
wollte, daß wir es nicht mit dem Vergnügen und Ver-
druß sehr oft eben so machen, und sie mit den gleichgül-
tigsten Vorstellungen unmittelbar zusammen bringen.

Dieß sey genug, um einen Einwurf zu heben, den
ich nicht ganz zurücklassen konnte, ohne gleich im Anfang
auf meinem Weg aufgehalten zu werden. Das minde-

ste,

I. Verſuch. Ueber die Natur
dungskraft, die bey der Reproduktion mit den nach-
folgenden
Vorſtellungen anfaͤngt, den Weg uͤber je-
nes Glied in der Reihe nemlich uͤber die Gemuͤthsbewe-
gung genommen haben, ehe ſie zu der Reproduktion der
vorhergehenden verurſachenden Vorſtellungen hat hin-
kommen koͤnnen. Das heißt, ſie muß die Gemuͤthsbe-
wegung unmittelbar bey Jdeen wieder erwecken, die ſol-
che nicht verurſachen, und die Wiedervorſtellung von je-
ner zu einer neuen Empfindung machen koͤnnen.

Endlich muͤßte folgen, daß die Uebertragung
der Neigungen
von einer Jdee auf andere, die durch
viele Beobachtungen beſtaͤtiget iſt, ein bloßer Schein
ſey. Jſt ſie gegruͤndet, ſo kann eine Neigung unmit-
telbar in Verknuͤpfung mit einer Vorſtellung gebracht
werden, mit der ſie ſonſten nur auf eine entfernte Art
zuſammenhaͤngt. Finden ſich nun dergleichen Uebertra-
gungen wirklich, ſo giebt es ja Faͤlle, in denen die Nei-
gung zunaͤchſt durch Jdeen wieder erwecket wird, wo-
von es ſich nicht einmal vermuthen laͤßt, daß ſie als
wirkende Urſachen ſie hervorbringen. Dergleichen Ue-
bertragungen ſind gewoͤhnlich. Wenn wir eine fremde
Sprache erlernen, ſo uͤberſetzen wir ihre Woͤrter zuerſt
in die Woͤrter unſerer Mutterſprache, und durch dieſe
Vermittelung erregen wir die damit verbundenen Gedan-
ken. Am Ende verlieret ſich dieß. Wir gewoͤhnen
uns, die Jdeen mit den fremden Woͤrtern unmittelbar
zu verbinden, und bedoͤrfen dann jener Zwiſchenvorſtel-
lungen nicht mehr. Mich deucht, man muͤſſe vielen
Beobachtungen Gewalt anthun, wenn man es laͤugnen
wollte, daß wir es nicht mit dem Vergnuͤgen und Ver-
druß ſehr oft eben ſo machen, und ſie mit den gleichguͤl-
tigſten Vorſtellungen unmittelbar zuſammen bringen.

Dieß ſey genug, um einen Einwurf zu heben, den
ich nicht ganz zuruͤcklaſſen konnte, ohne gleich im Anfang
auf meinem Weg aufgehalten zu werden. Das minde-

ſte,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0132" n="72"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/>
dungskraft, die bey der Reproduktion mit den <hi rendition="#fr">nach-<lb/>
folgenden</hi> Vor&#x017F;tellungen anfa&#x0364;ngt, den Weg u&#x0364;ber je-<lb/>
nes Glied in der Reihe nemlich u&#x0364;ber die Gemu&#x0364;thsbewe-<lb/>
gung genommen haben, ehe &#x017F;ie zu der Reproduktion der<lb/>
vorhergehenden verur&#x017F;achenden Vor&#x017F;tellungen hat hin-<lb/>
kommen ko&#x0364;nnen. Das heißt, &#x017F;ie muß die Gemu&#x0364;thsbe-<lb/>
wegung unmittelbar bey Jdeen wieder erwecken, die &#x017F;ol-<lb/>
che nicht verur&#x017F;achen, und die Wiedervor&#x017F;tellung von je-<lb/>
ner zu einer neuen Empfindung machen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Endlich</hi> mu&#x0364;ßte folgen, daß die <hi rendition="#fr">Uebertragung<lb/>
der Neigungen</hi> von einer Jdee auf andere, die durch<lb/>
viele Beobachtungen be&#x017F;ta&#x0364;tiget i&#x017F;t, ein bloßer Schein<lb/>
&#x017F;ey. J&#x017F;t &#x017F;ie gegru&#x0364;ndet, &#x017F;o kann eine Neigung unmit-<lb/>
telbar in Verknu&#x0364;pfung mit einer Vor&#x017F;tellung gebracht<lb/>
werden, mit der &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;ten nur auf eine entfernte Art<lb/>
zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngt. Finden &#x017F;ich nun dergleichen Uebertra-<lb/>
gungen wirklich, &#x017F;o giebt es ja Fa&#x0364;lle, in denen die Nei-<lb/>
gung zuna&#x0364;ch&#x017F;t durch Jdeen wieder erwecket wird, wo-<lb/>
von es &#x017F;ich nicht einmal vermuthen la&#x0364;ßt, daß &#x017F;ie als<lb/>
wirkende Ur&#x017F;achen &#x017F;ie hervorbringen. Dergleichen Ue-<lb/>
bertragungen &#x017F;ind gewo&#x0364;hnlich. Wenn wir eine fremde<lb/>
Sprache erlernen, &#x017F;o u&#x0364;ber&#x017F;etzen wir ihre Wo&#x0364;rter zuer&#x017F;t<lb/>
in die Wo&#x0364;rter un&#x017F;erer Mutter&#x017F;prache, und durch die&#x017F;e<lb/>
Vermittelung erregen wir die damit verbundenen Gedan-<lb/>
ken. Am Ende verlieret &#x017F;ich dieß. Wir gewo&#x0364;hnen<lb/>
uns, die Jdeen mit den fremden Wo&#x0364;rtern unmittelbar<lb/>
zu verbinden, und bedo&#x0364;rfen dann jener Zwi&#x017F;chenvor&#x017F;tel-<lb/>
lungen nicht mehr. Mich deucht, man mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e vielen<lb/>
Beobachtungen Gewalt anthun, wenn man es la&#x0364;ugnen<lb/>
wollte, daß wir es nicht mit dem Vergnu&#x0364;gen und Ver-<lb/>
druß &#x017F;ehr oft eben &#x017F;o machen, und &#x017F;ie mit den gleichgu&#x0364;l-<lb/>
tig&#x017F;ten Vor&#x017F;tellungen unmittelbar zu&#x017F;ammen bringen.</p><lb/>
          <p>Dieß &#x017F;ey genug, um einen Einwurf zu heben, den<lb/>
ich nicht ganz zuru&#x0364;ckla&#x017F;&#x017F;en konnte, ohne gleich im Anfang<lb/>
auf meinem Weg aufgehalten zu werden. Das minde-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;te,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0132] I. Verſuch. Ueber die Natur dungskraft, die bey der Reproduktion mit den nach- folgenden Vorſtellungen anfaͤngt, den Weg uͤber je- nes Glied in der Reihe nemlich uͤber die Gemuͤthsbewe- gung genommen haben, ehe ſie zu der Reproduktion der vorhergehenden verurſachenden Vorſtellungen hat hin- kommen koͤnnen. Das heißt, ſie muß die Gemuͤthsbe- wegung unmittelbar bey Jdeen wieder erwecken, die ſol- che nicht verurſachen, und die Wiedervorſtellung von je- ner zu einer neuen Empfindung machen koͤnnen. Endlich muͤßte folgen, daß die Uebertragung der Neigungen von einer Jdee auf andere, die durch viele Beobachtungen beſtaͤtiget iſt, ein bloßer Schein ſey. Jſt ſie gegruͤndet, ſo kann eine Neigung unmit- telbar in Verknuͤpfung mit einer Vorſtellung gebracht werden, mit der ſie ſonſten nur auf eine entfernte Art zuſammenhaͤngt. Finden ſich nun dergleichen Uebertra- gungen wirklich, ſo giebt es ja Faͤlle, in denen die Nei- gung zunaͤchſt durch Jdeen wieder erwecket wird, wo- von es ſich nicht einmal vermuthen laͤßt, daß ſie als wirkende Urſachen ſie hervorbringen. Dergleichen Ue- bertragungen ſind gewoͤhnlich. Wenn wir eine fremde Sprache erlernen, ſo uͤberſetzen wir ihre Woͤrter zuerſt in die Woͤrter unſerer Mutterſprache, und durch dieſe Vermittelung erregen wir die damit verbundenen Gedan- ken. Am Ende verlieret ſich dieß. Wir gewoͤhnen uns, die Jdeen mit den fremden Woͤrtern unmittelbar zu verbinden, und bedoͤrfen dann jener Zwiſchenvorſtel- lungen nicht mehr. Mich deucht, man muͤſſe vielen Beobachtungen Gewalt anthun, wenn man es laͤugnen wollte, daß wir es nicht mit dem Vergnuͤgen und Ver- druß ſehr oft eben ſo machen, und ſie mit den gleichguͤl- tigſten Vorſtellungen unmittelbar zuſammen bringen. Dieß ſey genug, um einen Einwurf zu heben, den ich nicht ganz zuruͤcklaſſen konnte, ohne gleich im Anfang auf meinem Weg aufgehalten zu werden. Das minde- ſte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/132
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/132>, abgerufen am 17.05.2024.