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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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durch die das Bild begleitende Tendenz verursachet wird.
Die Veranlassung dazu ist, wie gesagt worden, in der
Vorstellung; daß aber diese eine solche Veranlassung für
die Reflexion seyn kann; daß die letztere der Leitung von
jener wirklich folget, davon lieget der Grund in der Na-
tur der Reflexion selbst. Dieß muß noch etwas weiter
hergeholet werden. Wie entstehet überhaupt die Be-
ziehung eines Bildes auf den abgebildeten Gegenstand,
und wird mit dem Bilde, welches vor uns ist, der
Gedanke verbunden, daß wir die Sache selbst in dem
Bilde vor uns haben? wie wird die Aufmerksamkeit
auf diese letztere über das Bild hinausgerichtet, daß wir
so denken und so überlegen, als hätten wir die Sache
vor uns? oder mit einem Wort, auf welche Art lernen
wir in dem Bilde die Sache sehen und erkennen?

Ein paar Beobachtungen lassen uns diesen Gang
der Reflexion und die allgemeine Regel ihres Verfahrens
bemerken. Ein kleiner Knabe spielet zuweilen mit dem
Portrait seines Vaters, als mit einem buntbemahlten
leichten Körper, ohne daran zu gedenken, daß es seinen
Vater vorstelle. Der Cheßeldenische Blinde hatte auf
eine ähnliche Art schon einige Zeit her die Gemählde an
der Wand von Personen, mit denen er umgieng, als
buntscheckigte Flächen angesehen, ehe er gewahr nahm,
daß sie Abbildungen von seinen Bekannten waren. Jm
Anfang war sowohl das Bild als die abgebildete Sache
jedes ein eigenes Objekt, nach seinen Vorstellungen
So verhält es sich überhaupt bey allen unsern willkühr
lichen, in die äußern Sinne fallenden Zeichen. Was
sind die Wörter einer Sprache, die wir noch nicht ver-
stehen, für uns, wenn wir sie aussprechen hören, oder
auf dem Papier geschrieben sehen? Nichts als Töne
und sichtbare Figuren. Erlernen wir aber nachher ihre
Bedeutung, so wird die Aufmerksamkeit so stark auf die
durch sie bezeichnete Gedanken hingezogen, daß die indi-

viduelle
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der Vorſtellungen.
durch die das Bild begleitende Tendenz verurſachet wird.
Die Veranlaſſung dazu iſt, wie geſagt worden, in der
Vorſtellung; daß aber dieſe eine ſolche Veranlaſſung fuͤr
die Reflexion ſeyn kann; daß die letztere der Leitung von
jener wirklich folget, davon lieget der Grund in der Na-
tur der Reflexion ſelbſt. Dieß muß noch etwas weiter
hergeholet werden. Wie entſtehet uͤberhaupt die Be-
ziehung eines Bildes auf den abgebildeten Gegenſtand,
und wird mit dem Bilde, welches vor uns iſt, der
Gedanke verbunden, daß wir die Sache ſelbſt in dem
Bilde vor uns haben? wie wird die Aufmerkſamkeit
auf dieſe letztere uͤber das Bild hinausgerichtet, daß wir
ſo denken und ſo uͤberlegen, als haͤtten wir die Sache
vor uns? oder mit einem Wort, auf welche Art lernen
wir in dem Bilde die Sache ſehen und erkennen?

Ein paar Beobachtungen laſſen uns dieſen Gang
der Reflexion und die allgemeine Regel ihres Verfahrens
bemerken. Ein kleiner Knabe ſpielet zuweilen mit dem
Portrait ſeines Vaters, als mit einem buntbemahlten
leichten Koͤrper, ohne daran zu gedenken, daß es ſeinen
Vater vorſtelle. Der Cheßeldeniſche Blinde hatte auf
eine aͤhnliche Art ſchon einige Zeit her die Gemaͤhlde an
der Wand von Perſonen, mit denen er umgieng, als
buntſcheckigte Flaͤchen angeſehen, ehe er gewahr nahm,
daß ſie Abbildungen von ſeinen Bekannten waren. Jm
Anfang war ſowohl das Bild als die abgebildete Sache
jedes ein eigenes Objekt, nach ſeinen Vorſtellungen
So verhaͤlt es ſich uͤberhaupt bey allen unſern willkuͤhr
lichen, in die aͤußern Sinne fallenden Zeichen. Was
ſind die Woͤrter einer Sprache, die wir noch nicht ver-
ſtehen, fuͤr uns, wenn wir ſie ausſprechen hoͤren, oder
auf dem Papier geſchrieben ſehen? Nichts als Toͤne
und ſichtbare Figuren. Erlernen wir aber nachher ihre
Bedeutung, ſo wird die Aufmerkſamkeit ſo ſtark auf die
durch ſie bezeichnete Gedanken hingezogen, daß die indi-

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[83/0143] der Vorſtellungen. durch die das Bild begleitende Tendenz verurſachet wird. Die Veranlaſſung dazu iſt, wie geſagt worden, in der Vorſtellung; daß aber dieſe eine ſolche Veranlaſſung fuͤr die Reflexion ſeyn kann; daß die letztere der Leitung von jener wirklich folget, davon lieget der Grund in der Na- tur der Reflexion ſelbſt. Dieß muß noch etwas weiter hergeholet werden. Wie entſtehet uͤberhaupt die Be- ziehung eines Bildes auf den abgebildeten Gegenſtand, und wird mit dem Bilde, welches vor uns iſt, der Gedanke verbunden, daß wir die Sache ſelbſt in dem Bilde vor uns haben? wie wird die Aufmerkſamkeit auf dieſe letztere uͤber das Bild hinausgerichtet, daß wir ſo denken und ſo uͤberlegen, als haͤtten wir die Sache vor uns? oder mit einem Wort, auf welche Art lernen wir in dem Bilde die Sache ſehen und erkennen? Ein paar Beobachtungen laſſen uns dieſen Gang der Reflexion und die allgemeine Regel ihres Verfahrens bemerken. Ein kleiner Knabe ſpielet zuweilen mit dem Portrait ſeines Vaters, als mit einem buntbemahlten leichten Koͤrper, ohne daran zu gedenken, daß es ſeinen Vater vorſtelle. Der Cheßeldeniſche Blinde hatte auf eine aͤhnliche Art ſchon einige Zeit her die Gemaͤhlde an der Wand von Perſonen, mit denen er umgieng, als buntſcheckigte Flaͤchen angeſehen, ehe er gewahr nahm, daß ſie Abbildungen von ſeinen Bekannten waren. Jm Anfang war ſowohl das Bild als die abgebildete Sache jedes ein eigenes Objekt, nach ſeinen Vorſtellungen So verhaͤlt es ſich uͤberhaupt bey allen unſern willkuͤhr lichen, in die aͤußern Sinne fallenden Zeichen. Was ſind die Woͤrter einer Sprache, die wir noch nicht ver- ſtehen, fuͤr uns, wenn wir ſie ausſprechen hoͤren, oder auf dem Papier geſchrieben ſehen? Nichts als Toͤne und ſichtbare Figuren. Erlernen wir aber nachher ihre Bedeutung, ſo wird die Aufmerkſamkeit ſo ſtark auf die durch ſie bezeichnete Gedanken hingezogen, daß die indi- viduelle F 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/143>, abgerufen am 22.12.2024.