Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
Menschen lassen die beyden Gegenstände in so manchen
Hinsichten an der Größe, Farbe, Gestalt, Lage der Thei-
le, Stellung, Mienen bis auf kleine Beschaffenheiten
mit einander vergleichen. Da ist in den sinnlichen Vor-
stellungen alles Bild und Zeichen. Wenn sich hingegen
ein blinder Mathematiker die verschiedenen preismati-
schen Farben nach ihrer Analogie mit den Tönen, unter
Tönen vorstellet, so sind seine Vorstellungen des Gehörs
nur Vorstellungen von den Farben in einer sehr einge-
schränkten Hinsicht. Jene sind Gemählde auch in Hin-
sicht des Kolorits; diese nur in Hinsicht der Zeichnung.
Und dieß ist auch der Grund, warum man so leicht über
die Gränze der Aehnlichkeit hinaus gehen, und falsche
Anwendungen von analogischen Jdeen machen kann.
Jener Blinde stellte sich das Licht wie den Zucker vor,
der ihm einen angenehmen Geschmack gab. Jn so weit
konnte der Geschmack eine Analogische Vorstellung von
der Gesichtsempfindung des Lichts abgeben. Aber wenn
er nun daraus gefolgert hätte, das Licht lasse sich durch
die Nässe zerschmelzen, oder mit den Zähnen zermalmen,
so würde dieß so ein Versehen gewesen seyn, als aus der
Ueberschreitung der Analogie entspringen muß.

Die vornehmste Schwierigkeit bey unsern analogi-
schen Kenntnissen bestehet gemeiniglich darinn, daß die
Gründe aufgesucht und deutlich bestimmet werden, wor-
auf die Analogie unsrer Jdeen mit ihrem Objekte beru-
het. Diese Gründe der Analogie müssen zugleich auch
ihre Ausdehnung und ihre Grenzen anweisen. Wie und
auf welche Art wird es uns möglich, die Analogie unem-
pfindbarer Gegenstände mit empfindbaren, oder mit den
Vorstellungen dieser letztern zu erkennen, und durch wel-
che Wirkungsart des Verstandes können wir darüber
unterrichtet werden? Auf diese Frage antworte ich durch
eine neue Frage: Wie ist es möglich, zu wissen, daß
die äußern Gegenstände und ihre sinnlichen Bilder in uns

einander

der Vorſtellungen.
Menſchen laſſen die beyden Gegenſtaͤnde in ſo manchen
Hinſichten an der Groͤße, Farbe, Geſtalt, Lage der Thei-
le, Stellung, Mienen bis auf kleine Beſchaffenheiten
mit einander vergleichen. Da iſt in den ſinnlichen Vor-
ſtellungen alles Bild und Zeichen. Wenn ſich hingegen
ein blinder Mathematiker die verſchiedenen preismati-
ſchen Farben nach ihrer Analogie mit den Toͤnen, unter
Toͤnen vorſtellet, ſo ſind ſeine Vorſtellungen des Gehoͤrs
nur Vorſtellungen von den Farben in einer ſehr einge-
ſchraͤnkten Hinſicht. Jene ſind Gemaͤhlde auch in Hin-
ſicht des Kolorits; dieſe nur in Hinſicht der Zeichnung.
Und dieß iſt auch der Grund, warum man ſo leicht uͤber
die Graͤnze der Aehnlichkeit hinaus gehen, und falſche
Anwendungen von analogiſchen Jdeen machen kann.
Jener Blinde ſtellte ſich das Licht wie den Zucker vor,
der ihm einen angenehmen Geſchmack gab. Jn ſo weit
konnte der Geſchmack eine Analogiſche Vorſtellung von
der Geſichtsempfindung des Lichts abgeben. Aber wenn
er nun daraus gefolgert haͤtte, das Licht laſſe ſich durch
die Naͤſſe zerſchmelzen, oder mit den Zaͤhnen zermalmen,
ſo wuͤrde dieß ſo ein Verſehen geweſen ſeyn, als aus der
Ueberſchreitung der Analogie entſpringen muß.

Die vornehmſte Schwierigkeit bey unſern analogi-
ſchen Kenntniſſen beſtehet gemeiniglich darinn, daß die
Gruͤnde aufgeſucht und deutlich beſtimmet werden, wor-
auf die Analogie unſrer Jdeen mit ihrem Objekte beru-
het. Dieſe Gruͤnde der Analogie muͤſſen zugleich auch
ihre Ausdehnung und ihre Grenzen anweiſen. Wie und
auf welche Art wird es uns moͤglich, die Analogie unem-
pfindbarer Gegenſtaͤnde mit empfindbaren, oder mit den
Vorſtellungen dieſer letztern zu erkennen, und durch wel-
che Wirkungsart des Verſtandes koͤnnen wir daruͤber
unterrichtet werden? Auf dieſe Frage antworte ich durch
eine neue Frage: Wie iſt es moͤglich, zu wiſſen, daß
die aͤußern Gegenſtaͤnde und ihre ſinnlichen Bilder in uns

einander
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0153" n="93"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi></fw><lb/>
Men&#x017F;chen la&#x017F;&#x017F;en die beyden Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde in &#x017F;o manchen<lb/>
Hin&#x017F;ichten an der Gro&#x0364;ße, Farbe, Ge&#x017F;talt, Lage der Thei-<lb/>
le, Stellung, Mienen bis auf kleine Be&#x017F;chaffenheiten<lb/>
mit einander vergleichen. Da i&#x017F;t in den &#x017F;innlichen Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen alles Bild und Zeichen. Wenn &#x017F;ich hingegen<lb/>
ein blinder Mathematiker die ver&#x017F;chiedenen preismati-<lb/>
&#x017F;chen Farben nach ihrer Analogie mit den To&#x0364;nen, unter<lb/>
To&#x0364;nen vor&#x017F;tellet, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;eine Vor&#x017F;tellungen des Geho&#x0364;rs<lb/>
nur Vor&#x017F;tellungen von den Farben in einer &#x017F;ehr einge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkten Hin&#x017F;icht. Jene &#x017F;ind Gema&#x0364;hlde auch in Hin-<lb/>
&#x017F;icht des Kolorits; die&#x017F;e nur in Hin&#x017F;icht der Zeichnung.<lb/>
Und dieß i&#x017F;t auch der Grund, warum man &#x017F;o leicht u&#x0364;ber<lb/>
die Gra&#x0364;nze der Aehnlichkeit hinaus gehen, und fal&#x017F;che<lb/>
Anwendungen von analogi&#x017F;chen Jdeen machen kann.<lb/>
Jener Blinde &#x017F;tellte &#x017F;ich das Licht wie den Zucker vor,<lb/>
der ihm einen angenehmen Ge&#x017F;chmack gab. Jn &#x017F;o weit<lb/>
konnte der Ge&#x017F;chmack eine Analogi&#x017F;che Vor&#x017F;tellung von<lb/>
der Ge&#x017F;ichtsempfindung des Lichts abgeben. Aber wenn<lb/>
er nun daraus gefolgert ha&#x0364;tte, das Licht la&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ich durch<lb/>
die Na&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zer&#x017F;chmelzen, oder mit den Za&#x0364;hnen zermalmen,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde dieß &#x017F;o ein Ver&#x017F;ehen gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, als aus der<lb/>
Ueber&#x017F;chreitung der Analogie ent&#x017F;pringen muß.</p><lb/>
          <p>Die vornehm&#x017F;te Schwierigkeit bey un&#x017F;ern analogi-<lb/>
&#x017F;chen Kenntni&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;tehet gemeiniglich darinn, daß die<lb/>
Gru&#x0364;nde aufge&#x017F;ucht und deutlich be&#x017F;timmet werden, wor-<lb/>
auf die Analogie un&#x017F;rer Jdeen mit ihrem Objekte beru-<lb/>
het. Die&#x017F;e Gru&#x0364;nde der Analogie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en zugleich auch<lb/>
ihre Ausdehnung und ihre Grenzen anwei&#x017F;en. Wie und<lb/>
auf welche Art wird es uns mo&#x0364;glich, die Analogie unem-<lb/>
pfindbarer Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde mit empfindbaren, oder mit den<lb/>
Vor&#x017F;tellungen die&#x017F;er letztern zu erkennen, und durch wel-<lb/>
che Wirkungsart des Ver&#x017F;tandes ko&#x0364;nnen wir daru&#x0364;ber<lb/>
unterrichtet werden? Auf die&#x017F;e Frage antworte ich durch<lb/>
eine neue Frage: Wie i&#x017F;t es mo&#x0364;glich, zu wi&#x017F;&#x017F;en, daß<lb/>
die a&#x0364;ußern Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde und ihre &#x017F;innlichen Bilder in uns<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">einander</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0153] der Vorſtellungen. Menſchen laſſen die beyden Gegenſtaͤnde in ſo manchen Hinſichten an der Groͤße, Farbe, Geſtalt, Lage der Thei- le, Stellung, Mienen bis auf kleine Beſchaffenheiten mit einander vergleichen. Da iſt in den ſinnlichen Vor- ſtellungen alles Bild und Zeichen. Wenn ſich hingegen ein blinder Mathematiker die verſchiedenen preismati- ſchen Farben nach ihrer Analogie mit den Toͤnen, unter Toͤnen vorſtellet, ſo ſind ſeine Vorſtellungen des Gehoͤrs nur Vorſtellungen von den Farben in einer ſehr einge- ſchraͤnkten Hinſicht. Jene ſind Gemaͤhlde auch in Hin- ſicht des Kolorits; dieſe nur in Hinſicht der Zeichnung. Und dieß iſt auch der Grund, warum man ſo leicht uͤber die Graͤnze der Aehnlichkeit hinaus gehen, und falſche Anwendungen von analogiſchen Jdeen machen kann. Jener Blinde ſtellte ſich das Licht wie den Zucker vor, der ihm einen angenehmen Geſchmack gab. Jn ſo weit konnte der Geſchmack eine Analogiſche Vorſtellung von der Geſichtsempfindung des Lichts abgeben. Aber wenn er nun daraus gefolgert haͤtte, das Licht laſſe ſich durch die Naͤſſe zerſchmelzen, oder mit den Zaͤhnen zermalmen, ſo wuͤrde dieß ſo ein Verſehen geweſen ſeyn, als aus der Ueberſchreitung der Analogie entſpringen muß. Die vornehmſte Schwierigkeit bey unſern analogi- ſchen Kenntniſſen beſtehet gemeiniglich darinn, daß die Gruͤnde aufgeſucht und deutlich beſtimmet werden, wor- auf die Analogie unſrer Jdeen mit ihrem Objekte beru- het. Dieſe Gruͤnde der Analogie muͤſſen zugleich auch ihre Ausdehnung und ihre Grenzen anweiſen. Wie und auf welche Art wird es uns moͤglich, die Analogie unem- pfindbarer Gegenſtaͤnde mit empfindbaren, oder mit den Vorſtellungen dieſer letztern zu erkennen, und durch wel- che Wirkungsart des Verſtandes koͤnnen wir daruͤber unterrichtet werden? Auf dieſe Frage antworte ich durch eine neue Frage: Wie iſt es moͤglich, zu wiſſen, daß die aͤußern Gegenſtaͤnde und ihre ſinnlichen Bilder in uns einander

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/153
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/153>, abgerufen am 22.12.2024.