Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Versuch. Ueber die Natur
einander entsprechen? Woher weiß ich, daß ein frem-
der Mensch vor mir stehe, wenn ich jetzo eine andere
Gestalt in mir habe? Jn solchen Fällen, wo nicht von
der Analogie willkührlicher Zeichen, die wir selbst ge-
macht haben, und von deren Uebereinstimmung wir also
auch selbst die Urheber sind, sondern von der Analogie
unserer natürlichen Zeichen die Rede ist, beruhet un-
sere Erkenntniß von ihr auf allgemeinen Grundwahrhei-
ten der Vernunft, oder auf natürlichen Denkungsgesetzen
des Verstandes, nach welchen wir über Gegenstände,
Dinge, Sachen und Beschaffenheiten aller Arten ur-
theilen und urtheilen müssen. Nach solchen nothwendi-
gen Denkgesetzen beurtheilet die Vernunft alles, Bekann-
tes und Unbekanntes, das Unempfindbare und das Em-
pfundene, die Objekte und Vorstellungen, Ursache und
Wirkungen, und setzet die Grundanalogie zwischen ihnen
fest. Es ist dieß aber ein Geschäft der Denkkraft, die
sich der Vorstellungen bedienet, und nicht eigentlich der
vorstellenden Kraft, die jene herbeyschaffet. Jch über-
gehe daher die weitere Untersuchung dieser Denkungs-
weise. Am meisten liegen dabey die allgemeinen Axio-
me von der Analogie der Wirkungen mit ihren Ursachen,
und von der darauf beruhenden Erkennbarkeit der Ursache,
aus ihren Wirkungen zum Grunde. Die sind es, wor-
nach wir die Analogie unserer Vorstellungen mit ihren
Objekten, und zwar sowohl bey den analogischen, als bey
den anschaulichen Vorstellungen voraussetzen. Wenn
man aber bey einer Gattung von Bildern und Zeichen
ihre Beziehung auf Objekte erkennet, so kann auch nach-
her anstatt derselben eine andere, die ihr ähnlich oder mit
ihr in der Empfindung verbunden ist, gebrauchet, und
die Analogie der erstern Art mit den Objekten auf die
letztere ihr untergelegte übertragen werden.

XII.

I. Verſuch. Ueber die Natur
einander entſprechen? Woher weiß ich, daß ein frem-
der Menſch vor mir ſtehe, wenn ich jetzo eine andere
Geſtalt in mir habe? Jn ſolchen Faͤllen, wo nicht von
der Analogie willkuͤhrlicher Zeichen, die wir ſelbſt ge-
macht haben, und von deren Uebereinſtimmung wir alſo
auch ſelbſt die Urheber ſind, ſondern von der Analogie
unſerer natuͤrlichen Zeichen die Rede iſt, beruhet un-
ſere Erkenntniß von ihr auf allgemeinen Grundwahrhei-
ten der Vernunft, oder auf natuͤrlichen Denkungsgeſetzen
des Verſtandes, nach welchen wir uͤber Gegenſtaͤnde,
Dinge, Sachen und Beſchaffenheiten aller Arten ur-
theilen und urtheilen muͤſſen. Nach ſolchen nothwendi-
gen Denkgeſetzen beurtheilet die Vernunft alles, Bekann-
tes und Unbekanntes, das Unempfindbare und das Em-
pfundene, die Objekte und Vorſtellungen, Urſache und
Wirkungen, und ſetzet die Grundanalogie zwiſchen ihnen
feſt. Es iſt dieß aber ein Geſchaͤft der Denkkraft, die
ſich der Vorſtellungen bedienet, und nicht eigentlich der
vorſtellenden Kraft, die jene herbeyſchaffet. Jch uͤber-
gehe daher die weitere Unterſuchung dieſer Denkungs-
weiſe. Am meiſten liegen dabey die allgemeinen Axio-
me von der Analogie der Wirkungen mit ihren Urſachen,
und von der darauf beruhenden Erkennbarkeit der Urſache,
aus ihren Wirkungen zum Grunde. Die ſind es, wor-
nach wir die Analogie unſerer Vorſtellungen mit ihren
Objekten, und zwar ſowohl bey den analogiſchen, als bey
den anſchaulichen Vorſtellungen vorausſetzen. Wenn
man aber bey einer Gattung von Bildern und Zeichen
ihre Beziehung auf Objekte erkennet, ſo kann auch nach-
her anſtatt derſelben eine andere, die ihr aͤhnlich oder mit
ihr in der Empfindung verbunden iſt, gebrauchet, und
die Analogie der erſtern Art mit den Objekten auf die
letztere ihr untergelegte uͤbertragen werden.

XII.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0154" n="94"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/>
einander ent&#x017F;prechen? Woher weiß ich, daß ein frem-<lb/>
der Men&#x017F;ch vor mir &#x017F;tehe, wenn ich jetzo eine andere<lb/>
Ge&#x017F;talt in mir habe? Jn &#x017F;olchen Fa&#x0364;llen, wo nicht von<lb/>
der Analogie willku&#x0364;hrlicher Zeichen, die wir &#x017F;elb&#x017F;t ge-<lb/>
macht haben, und von deren Ueberein&#x017F;timmung wir al&#x017F;o<lb/>
auch &#x017F;elb&#x017F;t die Urheber &#x017F;ind, &#x017F;ondern von der Analogie<lb/>
un&#x017F;erer natu&#x0364;rlichen Zeichen die Rede i&#x017F;t, beruhet un-<lb/>
&#x017F;ere Erkenntniß von ihr auf allgemeinen Grundwahrhei-<lb/>
ten der Vernunft, oder auf natu&#x0364;rlichen Denkungsge&#x017F;etzen<lb/>
des Ver&#x017F;tandes, nach welchen wir u&#x0364;ber Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde,<lb/>
Dinge, Sachen und Be&#x017F;chaffenheiten aller Arten ur-<lb/>
theilen und urtheilen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Nach &#x017F;olchen nothwendi-<lb/>
gen Denkge&#x017F;etzen beurtheilet die Vernunft alles, Bekann-<lb/>
tes und Unbekanntes, das Unempfindbare und das Em-<lb/>
pfundene, die Objekte und Vor&#x017F;tellungen, Ur&#x017F;ache und<lb/>
Wirkungen, und &#x017F;etzet die Grundanalogie zwi&#x017F;chen ihnen<lb/>
fe&#x017F;t. Es i&#x017F;t dieß aber ein Ge&#x017F;cha&#x0364;ft der Denkkraft, die<lb/>
&#x017F;ich der Vor&#x017F;tellungen bedienet, und nicht eigentlich der<lb/>
vor&#x017F;tellenden Kraft, die jene herbey&#x017F;chaffet. Jch u&#x0364;ber-<lb/>
gehe daher die weitere Unter&#x017F;uchung die&#x017F;er Denkungs-<lb/>
wei&#x017F;e. Am mei&#x017F;ten liegen dabey die allgemeinen Axio-<lb/>
me von der Analogie der Wirkungen mit ihren Ur&#x017F;achen,<lb/>
und von der darauf beruhenden Erkennbarkeit der Ur&#x017F;ache,<lb/>
aus ihren Wirkungen zum Grunde. Die &#x017F;ind es, wor-<lb/>
nach wir die Analogie un&#x017F;erer Vor&#x017F;tellungen mit ihren<lb/>
Objekten, und zwar &#x017F;owohl bey den analogi&#x017F;chen, als bey<lb/>
den an&#x017F;chaulichen Vor&#x017F;tellungen voraus&#x017F;etzen. Wenn<lb/>
man aber bey einer Gattung von Bildern und Zeichen<lb/>
ihre Beziehung auf Objekte erkennet, &#x017F;o kann auch nach-<lb/>
her an&#x017F;tatt der&#x017F;elben eine andere, die ihr a&#x0364;hnlich oder mit<lb/>
ihr in der Empfindung verbunden i&#x017F;t, gebrauchet, und<lb/>
die Analogie der er&#x017F;tern Art mit den Objekten auf die<lb/>
letztere ihr untergelegte u&#x0364;bertragen werden.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#aq">XII.</hi> </fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0154] I. Verſuch. Ueber die Natur einander entſprechen? Woher weiß ich, daß ein frem- der Menſch vor mir ſtehe, wenn ich jetzo eine andere Geſtalt in mir habe? Jn ſolchen Faͤllen, wo nicht von der Analogie willkuͤhrlicher Zeichen, die wir ſelbſt ge- macht haben, und von deren Uebereinſtimmung wir alſo auch ſelbſt die Urheber ſind, ſondern von der Analogie unſerer natuͤrlichen Zeichen die Rede iſt, beruhet un- ſere Erkenntniß von ihr auf allgemeinen Grundwahrhei- ten der Vernunft, oder auf natuͤrlichen Denkungsgeſetzen des Verſtandes, nach welchen wir uͤber Gegenſtaͤnde, Dinge, Sachen und Beſchaffenheiten aller Arten ur- theilen und urtheilen muͤſſen. Nach ſolchen nothwendi- gen Denkgeſetzen beurtheilet die Vernunft alles, Bekann- tes und Unbekanntes, das Unempfindbare und das Em- pfundene, die Objekte und Vorſtellungen, Urſache und Wirkungen, und ſetzet die Grundanalogie zwiſchen ihnen feſt. Es iſt dieß aber ein Geſchaͤft der Denkkraft, die ſich der Vorſtellungen bedienet, und nicht eigentlich der vorſtellenden Kraft, die jene herbeyſchaffet. Jch uͤber- gehe daher die weitere Unterſuchung dieſer Denkungs- weiſe. Am meiſten liegen dabey die allgemeinen Axio- me von der Analogie der Wirkungen mit ihren Urſachen, und von der darauf beruhenden Erkennbarkeit der Urſache, aus ihren Wirkungen zum Grunde. Die ſind es, wor- nach wir die Analogie unſerer Vorſtellungen mit ihren Objekten, und zwar ſowohl bey den analogiſchen, als bey den anſchaulichen Vorſtellungen vorausſetzen. Wenn man aber bey einer Gattung von Bildern und Zeichen ihre Beziehung auf Objekte erkennet, ſo kann auch nach- her anſtatt derſelben eine andere, die ihr aͤhnlich oder mit ihr in der Empfindung verbunden iſt, gebrauchet, und die Analogie der erſtern Art mit den Objekten auf die letztere ihr untergelegte uͤbertragen werden. XII.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/154
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/154>, abgerufen am 22.12.2024.