Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
dungen herausgenommen hat, jetzo in einer neuen Lage
bey einander darstellet, in der sie in der Empfindung
nicht beysammen gewesen sind. Allein dieß ist nur ein
Zertheilen und ein Wiederaneinandersetzen. Dieß
ist noch nicht Entwickeln, Auflösen und Wieder-
vereinigen,
kein Jneinandertreiben und Vermi-
schen.

Jch will nicht dagegen seyn, wenn man alle diese
genannten Wirkungsarten unter dem generischen Begrif
des Zertheilens und des Zusammensetzens bringen
will. Alle Auflösungen in der Natur und alle Vermi-
schungen sind in diesem Sinn nichts als neue Theilun-
gen und neue Zusammensetzungen. Aber es sind als-
denn doch die beiden Arten dieser Operationen zu unter-
scheiden, durch deren Eine die neuen für unser Bewußt-
seyn einfache Scheine hervorkommen, da durch die an-
dern nur neue Verbindungen solcher Scheine, deren wir
uns einzeln schon bewußt gewesen sind, oder es doch ha-
ben seyn können, entstehen. Sieben Reihen von den
prismatischen Farben neben einander gelegt, machen
noch keinen weißen Strich, der doch aus der Vermi-
schung von ihnen entspringet. Jn dem einen Fall ist
entweder das ganze Bild, oder doch die einzelnen Theile,
die die Reflexion darinn unterscheidet, zerstreuet hie und
da in ähnlicher Gestalt in den Empfindungsvorstellun-
gen vorhanden: Jn dem andern aber zeigen sich einfache
Bilder von andern Gestalten, als sich jemals unter den
Empfindungsvorstellungen haben antreffen lassen.

Die gewöhnliche Erklärungsart von dem Entstehen
der Fiktionen scheint mir auch bey den gemeinsten Bey-
spielen von Dichtungen unhinlänglich zu seyn, um alles
das völlig zu begreifen, was die Dichtungskraft in ih-
nen hervorbringet. Nur die vorher angeführte Erdich-
tung von neuem aufmerksam betrachtet, so deucht mich,
es ist noch etwas mehr darinn als ein bloßes Zusammen-

setzen.
H 3

der Vorſtellungen.
dungen herausgenommen hat, jetzo in einer neuen Lage
bey einander darſtellet, in der ſie in der Empfindung
nicht beyſammen geweſen ſind. Allein dieß iſt nur ein
Zertheilen und ein Wiederaneinanderſetzen. Dieß
iſt noch nicht Entwickeln, Aufloͤſen und Wieder-
vereinigen,
kein Jneinandertreiben und Vermi-
ſchen.

Jch will nicht dagegen ſeyn, wenn man alle dieſe
genannten Wirkungsarten unter dem generiſchen Begrif
des Zertheilens und des Zuſammenſetzens bringen
will. Alle Aufloͤſungen in der Natur und alle Vermi-
ſchungen ſind in dieſem Sinn nichts als neue Theilun-
gen und neue Zuſammenſetzungen. Aber es ſind als-
denn doch die beiden Arten dieſer Operationen zu unter-
ſcheiden, durch deren Eine die neuen fuͤr unſer Bewußt-
ſeyn einfache Scheine hervorkommen, da durch die an-
dern nur neue Verbindungen ſolcher Scheine, deren wir
uns einzeln ſchon bewußt geweſen ſind, oder es doch ha-
ben ſeyn koͤnnen, entſtehen. Sieben Reihen von den
prismatiſchen Farben neben einander gelegt, machen
noch keinen weißen Strich, der doch aus der Vermi-
ſchung von ihnen entſpringet. Jn dem einen Fall iſt
entweder das ganze Bild, oder doch die einzelnen Theile,
die die Reflexion darinn unterſcheidet, zerſtreuet hie und
da in aͤhnlicher Geſtalt in den Empfindungsvorſtellun-
gen vorhanden: Jn dem andern aber zeigen ſich einfache
Bilder von andern Geſtalten, als ſich jemals unter den
Empfindungsvorſtellungen haben antreffen laſſen.

Die gewoͤhnliche Erklaͤrungsart von dem Entſtehen
der Fiktionen ſcheint mir auch bey den gemeinſten Bey-
ſpielen von Dichtungen unhinlaͤnglich zu ſeyn, um alles
das voͤllig zu begreifen, was die Dichtungskraft in ih-
nen hervorbringet. Nur die vorher angefuͤhrte Erdich-
tung von neuem aufmerkſam betrachtet, ſo deucht mich,
es iſt noch etwas mehr darinn als ein bloßes Zuſammen-

ſetzen.
H 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0177" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi></fw><lb/>
dungen herausgenommen hat, jetzo in einer neuen Lage<lb/>
bey einander dar&#x017F;tellet, in der &#x017F;ie in der Empfindung<lb/>
nicht bey&#x017F;ammen gewe&#x017F;en &#x017F;ind. Allein dieß i&#x017F;t nur ein<lb/><hi rendition="#fr">Zertheilen</hi> und ein <hi rendition="#fr">Wiederaneinander&#x017F;etzen.</hi> Dieß<lb/>
i&#x017F;t noch nicht <hi rendition="#fr">Entwickeln, Auflo&#x0364;&#x017F;en</hi> und <hi rendition="#fr">Wieder-<lb/>
vereinigen,</hi> kein <hi rendition="#fr">Jneinandertreiben</hi> und <hi rendition="#fr">Vermi-<lb/>
&#x017F;chen.</hi></p><lb/>
            <p>Jch will nicht dagegen &#x017F;eyn, wenn man alle die&#x017F;e<lb/>
genannten Wirkungsarten unter dem generi&#x017F;chen Begrif<lb/>
des <hi rendition="#fr">Zertheilens</hi> und des <hi rendition="#fr">Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzens</hi> bringen<lb/>
will. Alle Auflo&#x0364;&#x017F;ungen in der Natur und alle Vermi-<lb/>
&#x017F;chungen &#x017F;ind in die&#x017F;em Sinn nichts als neue Theilun-<lb/>
gen und neue Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzungen. Aber es &#x017F;ind als-<lb/>
denn doch die beiden Arten die&#x017F;er Operationen zu unter-<lb/>
&#x017F;cheiden, durch deren Eine die <hi rendition="#fr">neuen</hi> fu&#x0364;r un&#x017F;er Bewußt-<lb/>
&#x017F;eyn <hi rendition="#fr">einfache</hi> Scheine hervorkommen, da durch die an-<lb/>
dern nur <hi rendition="#fr">neue</hi> Verbindungen &#x017F;olcher Scheine, deren wir<lb/>
uns einzeln &#x017F;chon bewußt gewe&#x017F;en &#x017F;ind, oder es doch ha-<lb/>
ben &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, ent&#x017F;tehen. Sieben Reihen von den<lb/>
prismati&#x017F;chen Farben neben einander gelegt, machen<lb/>
noch keinen weißen Strich, der doch aus der Vermi-<lb/>
&#x017F;chung von ihnen ent&#x017F;pringet. Jn dem einen Fall i&#x017F;t<lb/>
entweder das ganze Bild, oder doch die einzelnen Theile,<lb/>
die die Reflexion darinn unter&#x017F;cheidet, zer&#x017F;treuet hie und<lb/>
da in a&#x0364;hnlicher Ge&#x017F;talt in den Empfindungsvor&#x017F;tellun-<lb/>
gen vorhanden: Jn dem andern aber zeigen &#x017F;ich einfache<lb/>
Bilder von andern Ge&#x017F;talten, als &#x017F;ich jemals unter den<lb/>
Empfindungsvor&#x017F;tellungen haben antreffen la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Die gewo&#x0364;hnliche Erkla&#x0364;rungsart von dem Ent&#x017F;tehen<lb/>
der <hi rendition="#fr">Fiktionen</hi> &#x017F;cheint mir auch bey den gemein&#x017F;ten Bey-<lb/>
&#x017F;pielen von Dichtungen unhinla&#x0364;nglich zu &#x017F;eyn, um alles<lb/>
das vo&#x0364;llig zu begreifen, was die Dichtungskraft in ih-<lb/>
nen hervorbringet. Nur die vorher angefu&#x0364;hrte Erdich-<lb/>
tung von neuem aufmerk&#x017F;am betrachtet, &#x017F;o deucht mich,<lb/>
es i&#x017F;t noch etwas mehr darinn als ein bloßes Zu&#x017F;ammen-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;etzen.</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0177] der Vorſtellungen. dungen herausgenommen hat, jetzo in einer neuen Lage bey einander darſtellet, in der ſie in der Empfindung nicht beyſammen geweſen ſind. Allein dieß iſt nur ein Zertheilen und ein Wiederaneinanderſetzen. Dieß iſt noch nicht Entwickeln, Aufloͤſen und Wieder- vereinigen, kein Jneinandertreiben und Vermi- ſchen. Jch will nicht dagegen ſeyn, wenn man alle dieſe genannten Wirkungsarten unter dem generiſchen Begrif des Zertheilens und des Zuſammenſetzens bringen will. Alle Aufloͤſungen in der Natur und alle Vermi- ſchungen ſind in dieſem Sinn nichts als neue Theilun- gen und neue Zuſammenſetzungen. Aber es ſind als- denn doch die beiden Arten dieſer Operationen zu unter- ſcheiden, durch deren Eine die neuen fuͤr unſer Bewußt- ſeyn einfache Scheine hervorkommen, da durch die an- dern nur neue Verbindungen ſolcher Scheine, deren wir uns einzeln ſchon bewußt geweſen ſind, oder es doch ha- ben ſeyn koͤnnen, entſtehen. Sieben Reihen von den prismatiſchen Farben neben einander gelegt, machen noch keinen weißen Strich, der doch aus der Vermi- ſchung von ihnen entſpringet. Jn dem einen Fall iſt entweder das ganze Bild, oder doch die einzelnen Theile, die die Reflexion darinn unterſcheidet, zerſtreuet hie und da in aͤhnlicher Geſtalt in den Empfindungsvorſtellun- gen vorhanden: Jn dem andern aber zeigen ſich einfache Bilder von andern Geſtalten, als ſich jemals unter den Empfindungsvorſtellungen haben antreffen laſſen. Die gewoͤhnliche Erklaͤrungsart von dem Entſtehen der Fiktionen ſcheint mir auch bey den gemeinſten Bey- ſpielen von Dichtungen unhinlaͤnglich zu ſeyn, um alles das voͤllig zu begreifen, was die Dichtungskraft in ih- nen hervorbringet. Nur die vorher angefuͤhrte Erdich- tung von neuem aufmerkſam betrachtet, ſo deucht mich, es iſt noch etwas mehr darinn als ein bloßes Zuſammen- ſetzen. H 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/177
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/177>, abgerufen am 17.05.2024.