setzen. Die Flügel des Pegasus mögen in dem Kopf des ersten Dichters, der dieß Bild hervorbrachte, ein reines Phantasma gewesen seyn; und die Vorstellung von dem Pferde gleichfalls. Aber da ist eine Stelle in dem Bilde an den Schultern des Pferdes, etwas dunkler, als die übrigen, wo die Flügel an dem Körper ange- setzet sind; da fließen die Bilder von des Pferdes Schul- tern und von den Wurzeln der Flügel in einander; da ist also ein selbstgemachter Schein, der sich verlieret, wenn man das Bild vom Pferde und das Bild von den Flü- geln deutlich von einander wieder abtrennet. Verbindet man blos diese beyden Bilder, so hat man die Flügel dicht an den Schultern des Pferdes angesetzet; aber dann erscheinen sie nicht so, wie vorher in der verwirr- ten Fiktion, nicht so, als wenn sie daran gewachsen sind; es ist kein in eins fortgehendes Ganze mehr da, wie es in der lebhaften Dichtung war, wo die beyden Bilder an ihren Gränzen mit einander vermischt und gleichsam in einander hineingesetzet waren, wovon ihre Vereinigung zu Einem Ganzen, und die Einheit in der Fiktion ab- hieng. Jst hier also nichts mehr als ein Aneinanderle- gen zweyer Einbildungen?
Um die gewöhnliche Theorie zu rechtfertigen, möchte man die Vereinigung der beiden gedachten Phantasmen dadurch erklären, daß die Phantasie an der Stelle, wo die beyden Theile vereiniget sind, noch ein drittes dunk- les Phantasma hinzusetze, und da gleichsam eine Hefte oder ein Band auflege, um jene zusammen zu halten. So würde denn wiederum das Ganze nichts anders seyn, als ein Haufen zusammengebrachter einzelner Phantas- men. Jch antworte -- ohne noch auf andere Fiktio- nen zu sehen, die unten angeführet werden sollen -- diese Erklärung sey schon aus dem Grunde unzulänglich, weil man hier außer den einzelnen Phantasmen von dem Pferde und von den Flügeln, noch auch das dritte, das
ein
I. Verſuch. Ueber die Natur
ſetzen. Die Fluͤgel des Pegaſus moͤgen in dem Kopf des erſten Dichters, der dieß Bild hervorbrachte, ein reines Phantasma geweſen ſeyn; und die Vorſtellung von dem Pferde gleichfalls. Aber da iſt eine Stelle in dem Bilde an den Schultern des Pferdes, etwas dunkler, als die uͤbrigen, wo die Fluͤgel an dem Koͤrper ange- ſetzet ſind; da fließen die Bilder von des Pferdes Schul- tern und von den Wurzeln der Fluͤgel in einander; da iſt alſo ein ſelbſtgemachter Schein, der ſich verlieret, wenn man das Bild vom Pferde und das Bild von den Fluͤ- geln deutlich von einander wieder abtrennet. Verbindet man blos dieſe beyden Bilder, ſo hat man die Fluͤgel dicht an den Schultern des Pferdes angeſetzet; aber dann erſcheinen ſie nicht ſo, wie vorher in der verwirr- ten Fiktion, nicht ſo, als wenn ſie daran gewachſen ſind; es iſt kein in eins fortgehendes Ganze mehr da, wie es in der lebhaften Dichtung war, wo die beyden Bilder an ihren Graͤnzen mit einander vermiſcht und gleichſam in einander hineingeſetzet waren, wovon ihre Vereinigung zu Einem Ganzen, und die Einheit in der Fiktion ab- hieng. Jſt hier alſo nichts mehr als ein Aneinanderle- gen zweyer Einbildungen?
Um die gewoͤhnliche Theorie zu rechtfertigen, moͤchte man die Vereinigung der beiden gedachten Phantasmen dadurch erklaͤren, daß die Phantaſie an der Stelle, wo die beyden Theile vereiniget ſind, noch ein drittes dunk- les Phantasma hinzuſetze, und da gleichſam eine Hefte oder ein Band auflege, um jene zuſammen zu halten. So wuͤrde denn wiederum das Ganze nichts anders ſeyn, als ein Haufen zuſammengebrachter einzelner Phantas- men. Jch antworte — ohne noch auf andere Fiktio- nen zu ſehen, die unten angefuͤhret werden ſollen — dieſe Erklaͤrung ſey ſchon aus dem Grunde unzulaͤnglich, weil man hier außer den einzelnen Phantasmen von dem Pferde und von den Fluͤgeln, noch auch das dritte, das
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I. Verſuch. Ueber die Natur
ſetzen. Die Fluͤgel des Pegaſus moͤgen in dem Kopf
des erſten Dichters, der dieß Bild hervorbrachte, ein
reines Phantasma geweſen ſeyn; und die Vorſtellung
von dem Pferde gleichfalls. Aber da iſt eine Stelle in
dem Bilde an den Schultern des Pferdes, etwas dunkler,
als die uͤbrigen, wo die Fluͤgel an dem Koͤrper ange-
ſetzet ſind; da fließen die Bilder von des Pferdes Schul-
tern und von den Wurzeln der Fluͤgel in einander; da iſt
alſo ein ſelbſtgemachter Schein, der ſich verlieret, wenn
man das Bild vom Pferde und das Bild von den Fluͤ-
geln deutlich von einander wieder abtrennet. Verbindet
man blos dieſe beyden Bilder, ſo hat man die Fluͤgel
dicht an den Schultern des Pferdes angeſetzet; aber
dann erſcheinen ſie nicht ſo, wie vorher in der verwirr-
ten Fiktion, nicht ſo, als wenn ſie daran gewachſen ſind;
es iſt kein in eins fortgehendes Ganze mehr da, wie es
in der lebhaften Dichtung war, wo die beyden Bilder an
ihren Graͤnzen mit einander vermiſcht und gleichſam in
einander hineingeſetzet waren, wovon ihre Vereinigung
zu Einem Ganzen, und die Einheit in der Fiktion ab-
hieng. Jſt hier alſo nichts mehr als ein Aneinanderle-
gen zweyer Einbildungen?
Um die gewoͤhnliche Theorie zu rechtfertigen, moͤchte
man die Vereinigung der beiden gedachten Phantasmen
dadurch erklaͤren, daß die Phantaſie an der Stelle, wo
die beyden Theile vereiniget ſind, noch ein drittes dunk-
les Phantasma hinzuſetze, und da gleichſam eine Hefte
oder ein Band auflege, um jene zuſammen zu halten.
So wuͤrde denn wiederum das Ganze nichts anders ſeyn,
als ein Haufen zuſammengebrachter einzelner Phantas-
men. Jch antworte — ohne noch auf andere Fiktio-
nen zu ſehen, die unten angefuͤhret werden ſollen —
dieſe Erklaͤrung ſey ſchon aus dem Grunde unzulaͤnglich,
weil man hier außer den einzelnen Phantasmen von dem
Pferde und von den Fluͤgeln, noch auch das dritte, das
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/178>, abgerufen am 22.12.2024.
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