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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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nen, oder werde es, wenn es vergrößert wird, so saget
man etwas unbestimmtes, das, von einer Seite betrach-
tet, so unbegreiflich als unerweislich ist. Mag doch ei-
ne Auster, welche empfindet, auch von den Eindrücken
auf sie einige Nachempfindungen haben, wie die gespann-
te elastische Saite nachzittert; und mag eine gewisse
Spur oder eine Folge von diesem Eindruck in ihr blei-
ben, wie in der unvollkommen elastischen Saite auch ge-
schicht, die von jedwedem einzeln Schlag eine kleine ob-
gleich unbemerkbare Veränderung in der Lage und Ver-
bindung ihrer Theile nach behält; kann deswegen die Au-
ster und die Saite dieß Aufbehaltene selbstthätig wieder ent-
wickeln und den vorigen Zustand wieder herstellen, ohne daß
die ehemalige äußere Ursache, oder doch eine ähnliche, von
neuem auf sie wirke? Und wenn nun jenes Vermögen auf-
zunehmen vergrößert, die Perceptionskraft feiner, aus-
gebreiteter, stärker, und mehr aufgelegt wird, mehrere,
stärkere, besser abgesetzte und deutlicher ausgedruckte
Spuren, auch von den schwächsten Eindrücken anzuneh-
men, wie soll daraus eine Kraft werden, von selbst aus
sich solche wiederum hervorzuziehen? Das ist, wie kann
ein erhöhetes Percipiren in ein Reproduciren verändert
werden?

Das Vermögen der Perception in der menschlichen
Seele muß also noch eine andere Seite haben, und noch
eine andere veränderliche Größe, durch deren Ver-
größerung die Phantasie und das Dichtungsvermögen
daraus hervorschießet; oder diese letztern Vermögen sind
mit dem ersten heterogener Natur; die wohl aus Einer
Substanz beysammen sind, aber als verschiedene
Grundzüge, welche aus Einem und demselben absoluten
Princip in ihr nicht abgeleitet werden können.

Da treffen wir aber auch, wie ich meine, bald auf
den rechten Punkt. Die menschliche Seele ist fähig
nachzuempfinden, und von diesen Nachempfindungen

bestimm-

der Vorſtellungen.
nen, oder werde es, wenn es vergroͤßert wird, ſo ſaget
man etwas unbeſtimmtes, das, von einer Seite betrach-
tet, ſo unbegreiflich als unerweislich iſt. Mag doch ei-
ne Auſter, welche empfindet, auch von den Eindruͤcken
auf ſie einige Nachempfindungen haben, wie die geſpann-
te elaſtiſche Saite nachzittert; und mag eine gewiſſe
Spur oder eine Folge von dieſem Eindruck in ihr blei-
ben, wie in der unvollkommen elaſtiſchen Saite auch ge-
ſchicht, die von jedwedem einzeln Schlag eine kleine ob-
gleich unbemerkbare Veraͤnderung in der Lage und Ver-
bindung ihrer Theile nach behaͤlt; kann deswegen die Au-
ſter und die Saite dieß Aufbehaltene ſelbſtthaͤtig wieder ent-
wickeln und den vorigen Zuſtand wieder herſtellen, ohne daß
die ehemalige aͤußere Urſache, oder doch eine aͤhnliche, von
neuem auf ſie wirke? Und wenn nun jenes Vermoͤgen auf-
zunehmen vergroͤßert, die Perceptionskraft feiner, aus-
gebreiteter, ſtaͤrker, und mehr aufgelegt wird, mehrere,
ſtaͤrkere, beſſer abgeſetzte und deutlicher ausgedruckte
Spuren, auch von den ſchwaͤchſten Eindruͤcken anzuneh-
men, wie ſoll daraus eine Kraft werden, von ſelbſt aus
ſich ſolche wiederum hervorzuziehen? Das iſt, wie kann
ein erhoͤhetes Percipiren in ein Reproduciren veraͤndert
werden?

Das Vermoͤgen der Perception in der menſchlichen
Seele muß alſo noch eine andere Seite haben, und noch
eine andere veraͤnderliche Groͤße, durch deren Ver-
groͤßerung die Phantaſie und das Dichtungsvermoͤgen
daraus hervorſchießet; oder dieſe letztern Vermoͤgen ſind
mit dem erſten heterogener Natur; die wohl aus Einer
Subſtanz beyſammen ſind, aber als verſchiedene
Grundzuͤge, welche aus Einem und demſelben abſoluten
Princip in ihr nicht abgeleitet werden koͤnnen.

Da treffen wir aber auch, wie ich meine, bald auf
den rechten Punkt. Die menſchliche Seele iſt faͤhig
nachzuempfinden, und von dieſen Nachempfindungen

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[155/0215] der Vorſtellungen. nen, oder werde es, wenn es vergroͤßert wird, ſo ſaget man etwas unbeſtimmtes, das, von einer Seite betrach- tet, ſo unbegreiflich als unerweislich iſt. Mag doch ei- ne Auſter, welche empfindet, auch von den Eindruͤcken auf ſie einige Nachempfindungen haben, wie die geſpann- te elaſtiſche Saite nachzittert; und mag eine gewiſſe Spur oder eine Folge von dieſem Eindruck in ihr blei- ben, wie in der unvollkommen elaſtiſchen Saite auch ge- ſchicht, die von jedwedem einzeln Schlag eine kleine ob- gleich unbemerkbare Veraͤnderung in der Lage und Ver- bindung ihrer Theile nach behaͤlt; kann deswegen die Au- ſter und die Saite dieß Aufbehaltene ſelbſtthaͤtig wieder ent- wickeln und den vorigen Zuſtand wieder herſtellen, ohne daß die ehemalige aͤußere Urſache, oder doch eine aͤhnliche, von neuem auf ſie wirke? Und wenn nun jenes Vermoͤgen auf- zunehmen vergroͤßert, die Perceptionskraft feiner, aus- gebreiteter, ſtaͤrker, und mehr aufgelegt wird, mehrere, ſtaͤrkere, beſſer abgeſetzte und deutlicher ausgedruckte Spuren, auch von den ſchwaͤchſten Eindruͤcken anzuneh- men, wie ſoll daraus eine Kraft werden, von ſelbſt aus ſich ſolche wiederum hervorzuziehen? Das iſt, wie kann ein erhoͤhetes Percipiren in ein Reproduciren veraͤndert werden? Das Vermoͤgen der Perception in der menſchlichen Seele muß alſo noch eine andere Seite haben, und noch eine andere veraͤnderliche Groͤße, durch deren Ver- groͤßerung die Phantaſie und das Dichtungsvermoͤgen daraus hervorſchießet; oder dieſe letztern Vermoͤgen ſind mit dem erſten heterogener Natur; die wohl aus Einer Subſtanz beyſammen ſind, aber als verſchiedene Grundzuͤge, welche aus Einem und demſelben abſoluten Princip in ihr nicht abgeleitet werden koͤnnen. Da treffen wir aber auch, wie ich meine, bald auf den rechten Punkt. Die menſchliche Seele iſt faͤhig nachzuempfinden, und von dieſen Nachempfindungen beſtimm-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/215>, abgerufen am 22.12.2024.