Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.I. Versuch. Ueber die Natur bestimmte und bleibende Spuren in sich aufzunehmen.Hiezu besitzet sie ein positives, reelles und absolutes Ver- mögen, und dieß Vermögen ist ein wirksames Vermö- gen. Es ist nicht blos Receptivität; es ist schon selbst- thätig und mitwirkend alsdenn, wenn die äußere Ur- sache Eindrücke auf die Seele hervorbringet. So et- was ähnliches ist auch die Elasticität in der Saite, welche nachzittert, und die Schwere in dem Perpendikul, der zu schwingen fortfähret. Aber noch mehr: Dieß Ver- mögen in der menschlichen Seele ist nicht von einer un- veränderlichen Größe, sondern kann als ein selbstthäti- ges Vermögen erhöhet werden. Die Selbstthätig- keit in ihm ist die veränderliche Größe. Das Vermögen zu percipiren nimmt nicht allein eine Ver- größerung an, in dieser Art thätig zu seyn; es ist auch perfectibel, in so ferne es ein selbstthätiges, oder aus sich selbst, aus einem innern Princip wirkendes Vermögen ist. Die Elasticität der Saite kann durch die stärkere oder mindere Spannung mehr oder weniger Jntension erlangen, und dann wird sie aufgelegt, schneller zu schwingen, und länger ihre Schwingungen fortzusetzen, aber ihre innere Selbstthätigkeit bleibet in so weit von gleicher Größe, wie sie ist, als sie, um in einen Schwung zu kommen, und thätig zu werden, jedesmal von einer äußern Ursache gereizet wiederum geschlagen, gedruckt, gestoßen und über einen Raum getrieben wer- den muß, wie das erstemal, wenn sie über denselbigen Raum hin und her zittern soll. Denn der Antheil, welchen sie als Kraft an der Weite der einzelnen Schwün- ge hat, die sie annimmt, und die Beziehung der innern Kraft auf die äußere reizende oder beywirkende Ursache, ist unveränderlich derselbige. Dieß führet uns auf das charakteristische der menschlichen Vorstellungskraft. Die letztere bedarf anfangs der Einwirkung einer äußern Ur- sache, um auf eine gewisse Art modificirt zu werden, und um
I. Verſuch. Ueber die Natur beſtimmte und bleibende Spuren in ſich aufzunehmen.Hiezu beſitzet ſie ein poſitives, reelles und abſolutes Ver- moͤgen, und dieß Vermoͤgen iſt ein wirkſames Vermoͤ- gen. Es iſt nicht blos Receptivitaͤt; es iſt ſchon ſelbſt- thaͤtig und mitwirkend alsdenn, wenn die aͤußere Ur- ſache Eindruͤcke auf die Seele hervorbringet. So et- was aͤhnliches iſt auch die Elaſticitaͤt in der Saite, welche nachzittert, und die Schwere in dem Perpendikul, der zu ſchwingen fortfaͤhret. Aber noch mehr: Dieß Ver- moͤgen in der menſchlichen Seele iſt nicht von einer un- veraͤnderlichen Groͤße, ſondern kann als ein ſelbſtthaͤti- ges Vermoͤgen erhoͤhet werden. Die Selbſtthaͤtig- keit in ihm iſt die veraͤnderliche Groͤße. Das Vermoͤgen zu percipiren nimmt nicht allein eine Ver- groͤßerung an, in dieſer Art thaͤtig zu ſeyn; es iſt auch perfectibel, in ſo ferne es ein ſelbſtthaͤtiges, oder aus ſich ſelbſt, aus einem innern Princip wirkendes Vermoͤgen iſt. Die Elaſticitaͤt der Saite kann durch die ſtaͤrkere oder mindere Spannung mehr oder weniger Jntenſion erlangen, und dann wird ſie aufgelegt, ſchneller zu ſchwingen, und laͤnger ihre Schwingungen fortzuſetzen, aber ihre innere Selbſtthaͤtigkeit bleibet in ſo weit von gleicher Groͤße, wie ſie iſt, als ſie, um in einen Schwung zu kommen, und thaͤtig zu werden, jedesmal von einer aͤußern Urſache gereizet wiederum geſchlagen, gedruckt, geſtoßen und uͤber einen Raum getrieben wer- den muß, wie das erſtemal, wenn ſie uͤber denſelbigen Raum hin und her zittern ſoll. Denn der Antheil, welchen ſie als Kraft an der Weite der einzelnen Schwuͤn- ge hat, die ſie annimmt, und die Beziehung der innern Kraft auf die aͤußere reizende oder beywirkende Urſache, iſt unveraͤnderlich derſelbige. Dieß fuͤhret uns auf das charakteriſtiſche der menſchlichen Vorſtellungskraft. Die letztere bedarf anfangs der Einwirkung einer aͤußern Ur- ſache, um auf eine gewiſſe Art modificirt zu werden, und um
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I. Verſuch. Ueber die Natur
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Hiezu beſitzet ſie ein poſitives, reelles und abſolutes Ver-
moͤgen, und dieß Vermoͤgen iſt ein wirkſames Vermoͤ-
gen. Es iſt nicht blos Receptivitaͤt; es iſt ſchon ſelbſt-
thaͤtig und mitwirkend alsdenn, wenn die aͤußere Ur-
ſache Eindruͤcke auf die Seele hervorbringet. So et-
was aͤhnliches iſt auch die Elaſticitaͤt in der Saite, welche
nachzittert, und die Schwere in dem Perpendikul, der
zu ſchwingen fortfaͤhret. Aber noch mehr: Dieß Ver-
moͤgen in der menſchlichen Seele iſt nicht von einer un-
veraͤnderlichen Groͤße, ſondern kann als ein ſelbſtthaͤti-
ges Vermoͤgen erhoͤhet werden. Die Selbſtthaͤtig-
keit in ihm iſt die veraͤnderliche Groͤße. Das
Vermoͤgen zu percipiren nimmt nicht allein eine Ver-
groͤßerung an, in dieſer Art thaͤtig zu ſeyn; es iſt auch
perfectibel, in ſo ferne es ein ſelbſtthaͤtiges, oder aus ſich
ſelbſt, aus einem innern Princip wirkendes Vermoͤgen
iſt. Die Elaſticitaͤt der Saite kann durch die ſtaͤrkere
oder mindere Spannung mehr oder weniger Jntenſion
erlangen, und dann wird ſie aufgelegt, ſchneller zu
ſchwingen, und laͤnger ihre Schwingungen fortzuſetzen,
aber ihre innere Selbſtthaͤtigkeit bleibet in ſo weit von
gleicher Groͤße, wie ſie iſt, als ſie, um in einen
Schwung zu kommen, und thaͤtig zu werden, jedesmal
von einer aͤußern Urſache gereizet wiederum geſchlagen,
gedruckt, geſtoßen und uͤber einen Raum getrieben wer-
den muß, wie das erſtemal, wenn ſie uͤber denſelbigen
Raum hin und her zittern ſoll. Denn der Antheil,
welchen ſie als Kraft an der Weite der einzelnen Schwuͤn-
ge hat, die ſie annimmt, und die Beziehung der innern
Kraft auf die aͤußere reizende oder beywirkende Urſache,
iſt unveraͤnderlich derſelbige. Dieß fuͤhret uns auf das
charakteriſtiſche der menſchlichen Vorſtellungskraft. Die
letztere bedarf anfangs der Einwirkung einer aͤußern Ur-
ſache, um auf eine gewiſſe Art modificirt zu werden, und
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