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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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Vorrede.
Abbildung des Wirklichen, oft ein Gemein-
begriff aus mehrern einzelnen Empfindungen
zu seyn scheinet, und die wir geneigt sind, da-
für anzunehmen, weil sie ein Kind unsers
Witzes ist. Je lebhafter die Phantasie ist,
desto häufiger sind solche Meteoren, und den-
noch siehet man auch ohne eine starke Phanta-
sie nichts. Hier muß sich nun der wahre Be-
obachtungsgeist zeigen, und jene starke Phan-
tasie auf die Darstellung des Wirklichen ein-
zuschränken wissen. Es ist schwer, sich in
Hinsicht dieser Suggestionen der Dichtkraft
allemal so zu benehmen, wie man soll. Sie
können scharfe Bemerkungen eines Genies
seyn, die richtig sind, aber eben so wohl auch
nur Jrrwische, die uns mißleiten. Ein Be-
griff von einer wirklichen Sache, den der Ver-
stand aus Empfindungen bildet, seinen noth-
wendigen Denkgesetzen gemäß, ist etwas an-
ders als eine Jdee der Dichtkraft, die nur
durch die Empfindungen veranlasset wird, und
nur nebenher während des Gefühls entstehet.
Jmgleichen ist eine Folgerung unserer Ver-
nunft aus der Empfindung etwas anders, als
eine Jdee, die von der Phantasie der Empfin-
dung als eine Folge von ihr zugesetzet wird.
Oftmals kommt man darüber nicht zur Ge-
wißheit, als bis das ganze Verfahren mehr-
malen wiederholet, und sorgfältig zergliedert
worden ist. Ueberhaupt aber haben solche Dich-
tungen einen Werth, wenn sie von wahren
Genies herrühren. Auch bloße Einfälle von

diesen

Vorrede.
Abbildung des Wirklichen, oft ein Gemein-
begriff aus mehrern einzelnen Empfindungen
zu ſeyn ſcheinet, und die wir geneigt ſind, da-
fuͤr anzunehmen, weil ſie ein Kind unſers
Witzes iſt. Je lebhafter die Phantaſie iſt,
deſto haͤufiger ſind ſolche Meteoren, und den-
noch ſiehet man auch ohne eine ſtarke Phanta-
ſie nichts. Hier muß ſich nun der wahre Be-
obachtungsgeiſt zeigen, und jene ſtarke Phan-
taſie auf die Darſtellung des Wirklichen ein-
zuſchraͤnken wiſſen. Es iſt ſchwer, ſich in
Hinſicht dieſer Suggeſtionen der Dichtkraft
allemal ſo zu benehmen, wie man ſoll. Sie
koͤnnen ſcharfe Bemerkungen eines Genies
ſeyn, die richtig ſind, aber eben ſo wohl auch
nur Jrrwiſche, die uns mißleiten. Ein Be-
griff von einer wirklichen Sache, den der Ver-
ſtand aus Empfindungen bildet, ſeinen noth-
wendigen Denkgeſetzen gemaͤß, iſt etwas an-
ders als eine Jdee der Dichtkraft, die nur
durch die Empfindungen veranlaſſet wird, und
nur nebenher waͤhrend des Gefuͤhls entſtehet.
Jmgleichen iſt eine Folgerung unſerer Ver-
nunft aus der Empfindung etwas anders, als
eine Jdee, die von der Phantaſie der Empfin-
dung als eine Folge von ihr zugeſetzet wird.
Oftmals kommt man daruͤber nicht zur Ge-
wißheit, als bis das ganze Verfahren mehr-
malen wiederholet, und ſorgfaͤltig zergliedert
worden iſt. Ueberhaupt aber haben ſolche Dich-
tungen einen Werth, wenn ſie von wahren
Genies herruͤhren. Auch bloße Einfaͤlle von

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[XVIII/0022] Vorrede. Abbildung des Wirklichen, oft ein Gemein- begriff aus mehrern einzelnen Empfindungen zu ſeyn ſcheinet, und die wir geneigt ſind, da- fuͤr anzunehmen, weil ſie ein Kind unſers Witzes iſt. Je lebhafter die Phantaſie iſt, deſto haͤufiger ſind ſolche Meteoren, und den- noch ſiehet man auch ohne eine ſtarke Phanta- ſie nichts. Hier muß ſich nun der wahre Be- obachtungsgeiſt zeigen, und jene ſtarke Phan- taſie auf die Darſtellung des Wirklichen ein- zuſchraͤnken wiſſen. Es iſt ſchwer, ſich in Hinſicht dieſer Suggeſtionen der Dichtkraft allemal ſo zu benehmen, wie man ſoll. Sie koͤnnen ſcharfe Bemerkungen eines Genies ſeyn, die richtig ſind, aber eben ſo wohl auch nur Jrrwiſche, die uns mißleiten. Ein Be- griff von einer wirklichen Sache, den der Ver- ſtand aus Empfindungen bildet, ſeinen noth- wendigen Denkgeſetzen gemaͤß, iſt etwas an- ders als eine Jdee der Dichtkraft, die nur durch die Empfindungen veranlaſſet wird, und nur nebenher waͤhrend des Gefuͤhls entſtehet. Jmgleichen iſt eine Folgerung unſerer Ver- nunft aus der Empfindung etwas anders, als eine Jdee, die von der Phantaſie der Empfin- dung als eine Folge von ihr zugeſetzet wird. Oftmals kommt man daruͤber nicht zur Ge- wißheit, als bis das ganze Verfahren mehr- malen wiederholet, und ſorgfaͤltig zergliedert worden iſt. Ueberhaupt aber haben ſolche Dich- tungen einen Werth, wenn ſie von wahren Genies herruͤhren. Auch bloße Einfaͤlle von dieſen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/22>, abgerufen am 02.05.2024.