gefähr aufstößet und wider Willen in mir bleibet. Und es ist nicht schwer, in solchen Fällen zu bemerken, daß, je weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns passive verhalten, desto leichter und desto lebhafter lasse sich die Vorstellung in uns als eine gegenwärtige fühlen und ge- wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkührlich und ohne Anstrengung vorhanden sind, füllen den größten Theil unserer Phantasie aus, und sind unsere gewöhnli- che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig für uns.
Das nämliche wird bey den übrigen wirksamen Kraftäußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick, in welchem wir den Körper zu bewegen uns bestreben, fühlen wir diese intensive Anstrengung unserer Kraft nicht. Jn allen starken Affekten und in Gemüthsbewe- gungen, die mit mächtigen Tendenzen etwas hervorzu- bringen verbunden sind, zeiget es sich, daß unser Selbst- gefühl nur alsdenn sie gewahrnehmen kann, wenn sie schon gebrochen und geschwächet sind; oder auch nur in den Zwischenmomenten, wenn die thätige Kraft ruhet, und der Seele Gelegenheit giebt, sich zu begreifen, ihre Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed- weder Affekt hinterläßt seine Nachwallung, oder seine Veränderung, man setze sie, wohin man wolle, in die innern Organe des Gehirns, oder in die Substanz der Seele, oder in beide zugleich. Diese Nachwallungen sind etwas passives, das ohne eine selbstthätige Anstren- gung der Seelenkraft in uns bestehet. Und sie sind es nur, was wir fühlen und empfinden. Wenn der Affekt in der Seele selbst schon ausgestürmet hat, so kommen doch die vorigen Vorstellungen von neuem zurück, reizen von neuem, und nicht selten bringen sie das Gemüth noch einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele schon in Ruhe ist, und führet Vorstellungen und Re- gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be-
greiflich
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
gefaͤhr aufſtoͤßet und wider Willen in mir bleibet. Und es iſt nicht ſchwer, in ſolchen Faͤllen zu bemerken, daß, je weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns paſſive verhalten, deſto leichter und deſto lebhafter laſſe ſich die Vorſtellung in uns als eine gegenwaͤrtige fuͤhlen und ge- wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkuͤhrlich und ohne Anſtrengung vorhanden ſind, fuͤllen den groͤßten Theil unſerer Phantaſie aus, und ſind unſere gewoͤhnli- che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig fuͤr uns.
Das naͤmliche wird bey den uͤbrigen wirkſamen Kraftaͤußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick, in welchem wir den Koͤrper zu bewegen uns beſtreben, fuͤhlen wir dieſe intenſive Anſtrengung unſerer Kraft nicht. Jn allen ſtarken Affekten und in Gemuͤthsbewe- gungen, die mit maͤchtigen Tendenzen etwas hervorzu- bringen verbunden ſind, zeiget es ſich, daß unſer Selbſt- gefuͤhl nur alsdenn ſie gewahrnehmen kann, wenn ſie ſchon gebrochen und geſchwaͤchet ſind; oder auch nur in den Zwiſchenmomenten, wenn die thaͤtige Kraft ruhet, und der Seele Gelegenheit giebt, ſich zu begreifen, ihre Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed- weder Affekt hinterlaͤßt ſeine Nachwallung, oder ſeine Veraͤnderung, man ſetze ſie, wohin man wolle, in die innern Organe des Gehirns, oder in die Subſtanz der Seele, oder in beide zugleich. Dieſe Nachwallungen ſind etwas paſſives, das ohne eine ſelbſtthaͤtige Anſtren- gung der Seelenkraft in uns beſtehet. Und ſie ſind es nur, was wir fuͤhlen und empfinden. Wenn der Affekt in der Seele ſelbſt ſchon ausgeſtuͤrmet hat, ſo kommen doch die vorigen Vorſtellungen von neuem zuruͤck, reizen von neuem, und nicht ſelten bringen ſie das Gemuͤth noch einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele ſchon in Ruhe iſt, und fuͤhret Vorſtellungen und Re- gungen wieder herbey, auf eine Art, die es leicht be-
greiflich
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
gefaͤhr aufſtoͤßet und wider Willen in mir bleibet. Und
es iſt nicht ſchwer, in ſolchen Faͤllen zu bemerken, daß, je
weniger wir dabey thun, und je mehr wir uns paſſive
verhalten, deſto leichter und deſto lebhafter laſſe ſich die
Vorſtellung in uns als eine gegenwaͤrtige fuͤhlen und ge-
wahrnehmen. Solche Bilder, die unwillkuͤhrlich und
ohne Anſtrengung vorhanden ſind, fuͤllen den groͤßten
Theil unſerer Phantaſie aus, und ſind unſere gewoͤhnli-
che Unterhaltungen, und außerordentlich wichtig fuͤr
uns.
Das naͤmliche wird bey den uͤbrigen wirkſamen
Kraftaͤußerungen wahrgenommen. Jn dem Augenblick,
in welchem wir den Koͤrper zu bewegen uns beſtreben,
fuͤhlen wir dieſe intenſive Anſtrengung unſerer Kraft
nicht. Jn allen ſtarken Affekten und in Gemuͤthsbewe-
gungen, die mit maͤchtigen Tendenzen etwas hervorzu-
bringen verbunden ſind, zeiget es ſich, daß unſer Selbſt-
gefuͤhl nur alsdenn ſie gewahrnehmen kann, wenn ſie
ſchon gebrochen und geſchwaͤchet ſind; oder auch nur in
den Zwiſchenmomenten, wenn die thaͤtige Kraft ruhet,
und der Seele Gelegenheit giebt, ſich zu begreifen, ihre
Kraft aufzuhalten, und anders wohin zu lenken. Jed-
weder Affekt hinterlaͤßt ſeine Nachwallung, oder ſeine
Veraͤnderung, man ſetze ſie, wohin man wolle, in die
innern Organe des Gehirns, oder in die Subſtanz der
Seele, oder in beide zugleich. Dieſe Nachwallungen
ſind etwas paſſives, das ohne eine ſelbſtthaͤtige Anſtren-
gung der Seelenkraft in uns beſtehet. Und ſie ſind es
nur, was wir fuͤhlen und empfinden. Wenn der Affekt
in der Seele ſelbſt ſchon ausgeſtuͤrmet hat, ſo kommen
doch die vorigen Vorſtellungen von neuem zuruͤck, reizen
von neuem, und nicht ſelten bringen ſie das Gemuͤth noch
einmal auf. Der Magen kochet noch, wenn die Seele
ſchon in Ruhe iſt, und fuͤhret Vorſtellungen und Re-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/240>, abgerufen am 22.12.2024.
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