Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

über Empfindungen u. Empfindnisse.
auch die Unbequemlichkeit babey, daß man die vorstel-
lende Kraft mehr selbstthätig anstrengen, und sich auf
keine angenehme Art bemühen muß, weil die Phantasie
allemal träge ist, Vorstellungen in sich gegenwärtig zu
erhalten, die mit ihren übrigen Reihen von Jdeen in kei-
ner Verbindung sind.

Man gehe die übrigen Empfindungen von den Ver-
hältnissen und Beziehungen der Dinge auf einander durch.
Es wird sich zeigen, es hat mit allen eine ähnliche Be-
wandniß. Wie empfinden wir, daß ein Objekt weiter
von uns entfernet sey, als ein anders? was empfin-
den wir, wenn wir die Folge der Dinge empfinden?
was alsdenn, wenn wir empfinden, daß in uns oder
außer uns ein Ding als eine Ursache etwas anderes als
ihre Wirkung hervorbringe? und was ist alsdann in
uns? Es ist nicht davon die Frage, worinnen das
Objektivische dieser Beziehungen in den Gegenständen
außer der Vorstellung bestehe? auch noch nicht davon,
was das Urtheil oder der Verhältnißgedanke selbst sey?
und wie er entstehe? sondern nur davon, was wir füh-
len und empfinden? Jn allen Fällen, wo wir, es sey
mit Grunde oder ohne Grund, solche Beziehungen in
den gegenwärtigen ideellen Objekten empfinden, entstehet
bey dem Uebergang der vorstellenden und empfindenden
Kraft von dem Einen zu dem andern, eine absolute und
positive Modifikation; und bey jedweder besondern Art
der Verhältnisse eine eigene von einer eigenen unter-
schiedene Art, welche gefühlet und bey einer genauern
Beobachtung unserer selbst bemerket werden kann. Jch
sehe, daß der Thurm weiter von mir absteht, als das
Haus; daß ein Wasser mir näher sey, als das jenseit
desselben liegende Gehölz. Nun sey dieß ein Gedanke
oder ein Gefühl, so entstehet jener so wenig als dieses,
ohne daß in mir, indem ich die Augen von dem Einen
zum andern hinwende, eine Veränderung vorgehet, die

ent-
N 4

uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe.
auch die Unbequemlichkeit babey, daß man die vorſtel-
lende Kraft mehr ſelbſtthaͤtig anſtrengen, und ſich auf
keine angenehme Art bemuͤhen muß, weil die Phantaſie
allemal traͤge iſt, Vorſtellungen in ſich gegenwaͤrtig zu
erhalten, die mit ihren uͤbrigen Reihen von Jdeen in kei-
ner Verbindung ſind.

Man gehe die uͤbrigen Empfindungen von den Ver-
haͤltniſſen und Beziehungen der Dinge auf einander durch.
Es wird ſich zeigen, es hat mit allen eine aͤhnliche Be-
wandniß. Wie empfinden wir, daß ein Objekt weiter
von uns entfernet ſey, als ein anders? was empfin-
den wir, wenn wir die Folge der Dinge empfinden?
was alsdenn, wenn wir empfinden, daß in uns oder
außer uns ein Ding als eine Urſache etwas anderes als
ihre Wirkung hervorbringe? und was iſt alsdann in
uns? Es iſt nicht davon die Frage, worinnen das
Objektiviſche dieſer Beziehungen in den Gegenſtaͤnden
außer der Vorſtellung beſtehe? auch noch nicht davon,
was das Urtheil oder der Verhaͤltnißgedanke ſelbſt ſey?
und wie er entſtehe? ſondern nur davon, was wir fuͤh-
len und empfinden? Jn allen Faͤllen, wo wir, es ſey
mit Grunde oder ohne Grund, ſolche Beziehungen in
den gegenwaͤrtigen ideellen Objekten empfinden, entſtehet
bey dem Uebergang der vorſtellenden und empfindenden
Kraft von dem Einen zu dem andern, eine abſolute und
poſitive Modifikation; und bey jedweder beſondern Art
der Verhaͤltniſſe eine eigene von einer eigenen unter-
ſchiedene Art, welche gefuͤhlet und bey einer genauern
Beobachtung unſerer ſelbſt bemerket werden kann. Jch
ſehe, daß der Thurm weiter von mir abſteht, als das
Haus; daß ein Waſſer mir naͤher ſey, als das jenſeit
deſſelben liegende Gehoͤlz. Nun ſey dieß ein Gedanke
oder ein Gefuͤhl, ſo entſtehet jener ſo wenig als dieſes,
ohne daß in mir, indem ich die Augen von dem Einen
zum andern hinwende, eine Veraͤnderung vorgehet, die

ent-
N 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0259" n="199"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">u&#x0364;ber Empfindungen u. Empfindni&#x017F;&#x017F;e.</hi></fw><lb/>
auch die Unbequemlichkeit babey, daß man die vor&#x017F;tel-<lb/>
lende Kraft mehr &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tig an&#x017F;trengen, und &#x017F;ich auf<lb/>
keine angenehme Art bemu&#x0364;hen muß, weil die Phanta&#x017F;ie<lb/>
allemal tra&#x0364;ge i&#x017F;t, Vor&#x017F;tellungen in &#x017F;ich gegenwa&#x0364;rtig zu<lb/>
erhalten, die mit ihren u&#x0364;brigen Reihen von Jdeen in kei-<lb/>
ner Verbindung &#x017F;ind.</p><lb/>
            <p>Man gehe die u&#x0364;brigen Empfindungen von den Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en und Beziehungen der Dinge auf einander durch.<lb/>
Es wird &#x017F;ich zeigen, es hat mit allen eine a&#x0364;hnliche Be-<lb/>
wandniß. Wie empfinden wir, daß ein Objekt <hi rendition="#fr">weiter</hi><lb/>
von uns <hi rendition="#fr">entfernet</hi> &#x017F;ey, als ein anders? was empfin-<lb/>
den wir, wenn wir die <hi rendition="#fr">Folge</hi> der Dinge empfinden?<lb/>
was alsdenn, wenn wir empfinden, daß in uns oder<lb/>
außer uns ein Ding als eine Ur&#x017F;ache etwas anderes als<lb/>
ihre Wirkung hervorbringe? und was i&#x017F;t alsdann in<lb/>
uns? Es i&#x017F;t nicht davon die Frage, worinnen das<lb/><hi rendition="#fr">Objektivi&#x017F;che</hi> die&#x017F;er Beziehungen in den Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
außer der Vor&#x017F;tellung be&#x017F;tehe? auch noch nicht davon,<lb/>
was das Urtheil oder der Verha&#x0364;ltnißgedanke &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ey?<lb/>
und wie er ent&#x017F;tehe? &#x017F;ondern nur davon, was wir fu&#x0364;h-<lb/>
len und empfinden? Jn allen Fa&#x0364;llen, wo wir, es &#x017F;ey<lb/>
mit Grunde oder ohne Grund, &#x017F;olche Beziehungen in<lb/>
den gegenwa&#x0364;rtigen ideellen Objekten empfinden, ent&#x017F;tehet<lb/>
bey dem Uebergang der vor&#x017F;tellenden und empfindenden<lb/>
Kraft von dem Einen zu dem andern, eine ab&#x017F;olute und<lb/>
po&#x017F;itive Modifikation; und bey jedweder be&#x017F;ondern Art<lb/>
der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e eine eigene von einer eigenen unter-<lb/>
&#x017F;chiedene Art, welche gefu&#x0364;hlet und bey einer genauern<lb/>
Beobachtung un&#x017F;erer &#x017F;elb&#x017F;t bemerket werden kann. Jch<lb/>
&#x017F;ehe, daß der Thurm weiter von mir ab&#x017F;teht, als das<lb/>
Haus; daß ein Wa&#x017F;&#x017F;er mir na&#x0364;her &#x017F;ey, als das jen&#x017F;eit<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben liegende Geho&#x0364;lz. Nun &#x017F;ey dieß ein Gedanke<lb/>
oder ein Gefu&#x0364;hl, &#x017F;o ent&#x017F;tehet jener &#x017F;o wenig als die&#x017F;es,<lb/>
ohne daß in mir, indem ich die Augen von dem Einen<lb/>
zum andern hinwende, eine Vera&#x0364;nderung vorgehet, die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ent-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[199/0259] uͤber Empfindungen u. Empfindniſſe. auch die Unbequemlichkeit babey, daß man die vorſtel- lende Kraft mehr ſelbſtthaͤtig anſtrengen, und ſich auf keine angenehme Art bemuͤhen muß, weil die Phantaſie allemal traͤge iſt, Vorſtellungen in ſich gegenwaͤrtig zu erhalten, die mit ihren uͤbrigen Reihen von Jdeen in kei- ner Verbindung ſind. Man gehe die uͤbrigen Empfindungen von den Ver- haͤltniſſen und Beziehungen der Dinge auf einander durch. Es wird ſich zeigen, es hat mit allen eine aͤhnliche Be- wandniß. Wie empfinden wir, daß ein Objekt weiter von uns entfernet ſey, als ein anders? was empfin- den wir, wenn wir die Folge der Dinge empfinden? was alsdenn, wenn wir empfinden, daß in uns oder außer uns ein Ding als eine Urſache etwas anderes als ihre Wirkung hervorbringe? und was iſt alsdann in uns? Es iſt nicht davon die Frage, worinnen das Objektiviſche dieſer Beziehungen in den Gegenſtaͤnden außer der Vorſtellung beſtehe? auch noch nicht davon, was das Urtheil oder der Verhaͤltnißgedanke ſelbſt ſey? und wie er entſtehe? ſondern nur davon, was wir fuͤh- len und empfinden? Jn allen Faͤllen, wo wir, es ſey mit Grunde oder ohne Grund, ſolche Beziehungen in den gegenwaͤrtigen ideellen Objekten empfinden, entſtehet bey dem Uebergang der vorſtellenden und empfindenden Kraft von dem Einen zu dem andern, eine abſolute und poſitive Modifikation; und bey jedweder beſondern Art der Verhaͤltniſſe eine eigene von einer eigenen unter- ſchiedene Art, welche gefuͤhlet und bey einer genauern Beobachtung unſerer ſelbſt bemerket werden kann. Jch ſehe, daß der Thurm weiter von mir abſteht, als das Haus; daß ein Waſſer mir naͤher ſey, als das jenſeit deſſelben liegende Gehoͤlz. Nun ſey dieß ein Gedanke oder ein Gefuͤhl, ſo entſtehet jener ſo wenig als dieſes, ohne daß in mir, indem ich die Augen von dem Einen zum andern hinwende, eine Veraͤnderung vorgehet, die ent- N 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/259
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/259>, abgerufen am 22.12.2024.