Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Versuch. Ueber den Unterschied
Forscher nach Gewißheit, hiebey und insbesondere bey
dem Vorzug an Zuverläßigkeit, den man der vernünfti-
gen Einsicht aus allgemeinen Begriffen vor der sinnlichen
Erkenntniß einräumet, noch manche Dunkelheit antref-
fen? zumal wenn er die Gründe prüfet, die diesen Un-
terschied evident machen sollen. Jch habe zu meiner
eigenen Ueberzeugung den Weg genommen, auf dem ich
diese Betrachtung fortsetzen will.

Doch muß ich zu dieser Absicht vorher noch einmal
zu dem sinnlichen Urtheil zurück gehen. Ein Bey-
spiel sey das Muster der übrigen. Dieß sinnliche Ur-
theil nemlich: Die Sonne und der Mond sind fast von
gleicher Größe. Was hat es mit diesem Urtheil für eine
Beschaffenheit? Wie ist es entstanden? in der Gestalt,
wie es in dem Kopf des Schäfers vorhanden, und ein
sinnliches Urtheil ist? Nicht so, wie derselbige Gedanke
bey dem philosophischen Dichter, eine Wirkung eines
vernünftigen, obgleich falschen Raisonnements war:

Nec nimio solis major rota, nec minor ardor
Esse potest, nostris quam sensibus esse videtur.
Lucret.

Man wird bey diesem wie bey allen ihm ähnlichen
sinnlichen Urtheilen, folgende Bemerkungen machen
können.

Wenn das Urtheil: "die Sonne und der Mond
"sind einander an Größe gleich, nicht mehr sagen woll-
"te, als sie sind es dem Ansehen, den Augen nach,
"und werden es allemal seyn, wenn wir diese Körper
"von der Erde aus sehen," so würde dieses Urtheil ein
wahres und ein nothwendig wahres Urtheil seyn.
Es hieße alsdenn nichts mehr, als so viel: Zwey Kör-
per, die gleich groß durch das Gesicht erscheinen,
werden gleich groß gesehen, und haben eine gleiche sicht-
liche Größe.

Wenn

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
Forſcher nach Gewißheit, hiebey und insbeſondere bey
dem Vorzug an Zuverlaͤßigkeit, den man der vernuͤnfti-
gen Einſicht aus allgemeinen Begriffen vor der ſinnlichen
Erkenntniß einraͤumet, noch manche Dunkelheit antref-
fen? zumal wenn er die Gruͤnde pruͤfet, die dieſen Un-
terſchied evident machen ſollen. Jch habe zu meiner
eigenen Ueberzeugung den Weg genommen, auf dem ich
dieſe Betrachtung fortſetzen will.

Doch muß ich zu dieſer Abſicht vorher noch einmal
zu dem ſinnlichen Urtheil zuruͤck gehen. Ein Bey-
ſpiel ſey das Muſter der uͤbrigen. Dieß ſinnliche Ur-
theil nemlich: Die Sonne und der Mond ſind faſt von
gleicher Groͤße. Was hat es mit dieſem Urtheil fuͤr eine
Beſchaffenheit? Wie iſt es entſtanden? in der Geſtalt,
wie es in dem Kopf des Schaͤfers vorhanden, und ein
ſinnliches Urtheil iſt? Nicht ſo, wie derſelbige Gedanke
bey dem philoſophiſchen Dichter, eine Wirkung eines
vernuͤnftigen, obgleich falſchen Raiſonnements war:

Nec nimio ſolis major rota, nec minor ardor
Eſſe poteſt, noſtris quam ſenſibus eſſe videtur.
Lucret.

Man wird bey dieſem wie bey allen ihm aͤhnlichen
ſinnlichen Urtheilen, folgende Bemerkungen machen
koͤnnen.

Wenn das Urtheil: „die Sonne und der Mond
„ſind einander an Groͤße gleich, nicht mehr ſagen woll-
„te, als ſie ſind es dem Anſehen, den Augen nach,
„und werden es allemal ſeyn, wenn wir dieſe Koͤrper
„von der Erde aus ſehen,‟ ſo wuͤrde dieſes Urtheil ein
wahres und ein nothwendig wahres Urtheil ſeyn.
Es hieße alsdenn nichts mehr, als ſo viel: Zwey Koͤr-
per, die gleich groß durch das Geſicht erſcheinen,
werden gleich groß geſehen, und haben eine gleiche ſicht-
liche Groͤße.

Wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0512" n="452"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Unter&#x017F;chied</hi></fw><lb/>
For&#x017F;cher nach Gewißheit, hiebey und insbe&#x017F;ondere bey<lb/>
dem Vorzug an Zuverla&#x0364;ßigkeit, den man der vernu&#x0364;nfti-<lb/>
gen Ein&#x017F;icht aus allgemeinen Begriffen vor der &#x017F;innlichen<lb/>
Erkenntniß einra&#x0364;umet, noch manche Dunkelheit antref-<lb/>
fen? zumal wenn er die Gru&#x0364;nde pru&#x0364;fet, die die&#x017F;en Un-<lb/>
ter&#x017F;chied evident machen &#x017F;ollen. Jch habe zu meiner<lb/>
eigenen Ueberzeugung den Weg genommen, auf dem ich<lb/>
die&#x017F;e Betrachtung fort&#x017F;etzen will.</p><lb/>
            <p>Doch muß ich zu die&#x017F;er Ab&#x017F;icht vorher noch einmal<lb/>
zu dem <hi rendition="#fr">&#x017F;innlichen Urtheil</hi> zuru&#x0364;ck gehen. Ein Bey-<lb/>
&#x017F;piel &#x017F;ey das Mu&#x017F;ter der u&#x0364;brigen. Dieß &#x017F;innliche Ur-<lb/>
theil nemlich: Die Sonne und der Mond &#x017F;ind fa&#x017F;t von<lb/>
gleicher Gro&#x0364;ße. Was hat es mit die&#x017F;em Urtheil fu&#x0364;r eine<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit? Wie i&#x017F;t es ent&#x017F;tanden? in der Ge&#x017F;talt,<lb/>
wie es in dem Kopf des Scha&#x0364;fers vorhanden, und ein<lb/>
&#x017F;innliches Urtheil i&#x017F;t? Nicht &#x017F;o, wie der&#x017F;elbige Gedanke<lb/>
bey dem philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Dichter, eine Wirkung eines<lb/>
vernu&#x0364;nftigen, obgleich fal&#x017F;chen Rai&#x017F;onnements war:</p><lb/>
            <cit>
              <quote> <hi rendition="#aq">Nec nimio &#x017F;olis major rota, nec minor ardor<lb/>
E&#x017F;&#x017F;e pote&#x017F;t, no&#x017F;tris quam &#x017F;en&#x017F;ibus e&#x017F;&#x017F;e videtur.<lb/><hi rendition="#et"><hi rendition="#i">Lucret.</hi></hi></hi> </quote>
              <bibl/>
            </cit><lb/>
            <p>Man wird bey die&#x017F;em wie bey allen ihm a&#x0364;hnlichen<lb/>
&#x017F;innlichen Urtheilen, folgende Bemerkungen machen<lb/>
ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>Wenn das Urtheil: &#x201E;die Sonne und der Mond<lb/>
&#x201E;&#x017F;ind einander an Gro&#x0364;ße <hi rendition="#fr">gleich,</hi> nicht mehr &#x017F;agen woll-<lb/>
&#x201E;te, als &#x017F;ie &#x017F;ind es dem An&#x017F;ehen, <hi rendition="#fr">den Augen</hi> nach,<lb/>
&#x201E;und werden es allemal &#x017F;eyn, wenn wir die&#x017F;e Ko&#x0364;rper<lb/>
&#x201E;von der Erde aus &#x017F;ehen,&#x201F; &#x017F;o wu&#x0364;rde die&#x017F;es Urtheil ein<lb/>
wahres und ein <hi rendition="#fr">nothwendig wahres</hi> Urtheil &#x017F;eyn.<lb/>
Es hieße alsdenn nichts mehr, als &#x017F;o viel: Zwey Ko&#x0364;r-<lb/>
per, die <hi rendition="#fr">gleich groß durch das Ge&#x017F;icht</hi> er&#x017F;cheinen,<lb/>
werden gleich groß ge&#x017F;ehen, und haben eine gleiche <hi rendition="#fr">&#x017F;icht-<lb/>
liche Gro&#x0364;ße.</hi></p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Wenn</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[452/0512] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied Forſcher nach Gewißheit, hiebey und insbeſondere bey dem Vorzug an Zuverlaͤßigkeit, den man der vernuͤnfti- gen Einſicht aus allgemeinen Begriffen vor der ſinnlichen Erkenntniß einraͤumet, noch manche Dunkelheit antref- fen? zumal wenn er die Gruͤnde pruͤfet, die dieſen Un- terſchied evident machen ſollen. Jch habe zu meiner eigenen Ueberzeugung den Weg genommen, auf dem ich dieſe Betrachtung fortſetzen will. Doch muß ich zu dieſer Abſicht vorher noch einmal zu dem ſinnlichen Urtheil zuruͤck gehen. Ein Bey- ſpiel ſey das Muſter der uͤbrigen. Dieß ſinnliche Ur- theil nemlich: Die Sonne und der Mond ſind faſt von gleicher Groͤße. Was hat es mit dieſem Urtheil fuͤr eine Beſchaffenheit? Wie iſt es entſtanden? in der Geſtalt, wie es in dem Kopf des Schaͤfers vorhanden, und ein ſinnliches Urtheil iſt? Nicht ſo, wie derſelbige Gedanke bey dem philoſophiſchen Dichter, eine Wirkung eines vernuͤnftigen, obgleich falſchen Raiſonnements war: Nec nimio ſolis major rota, nec minor ardor Eſſe poteſt, noſtris quam ſenſibus eſſe videtur. Lucret. Man wird bey dieſem wie bey allen ihm aͤhnlichen ſinnlichen Urtheilen, folgende Bemerkungen machen koͤnnen. Wenn das Urtheil: „die Sonne und der Mond „ſind einander an Groͤße gleich, nicht mehr ſagen woll- „te, als ſie ſind es dem Anſehen, den Augen nach, „und werden es allemal ſeyn, wenn wir dieſe Koͤrper „von der Erde aus ſehen,‟ ſo wuͤrde dieſes Urtheil ein wahres und ein nothwendig wahres Urtheil ſeyn. Es hieße alsdenn nichts mehr, als ſo viel: Zwey Koͤr- per, die gleich groß durch das Geſicht erſcheinen, werden gleich groß geſehen, und haben eine gleiche ſicht- liche Groͤße. Wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/512
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/512>, abgerufen am 22.12.2024.