anders urtheilen kann, woferne der Association der Ge- fühlsgleichheit mit der Gesichtsgleichheit nichts im Wege ist. Der Schäfer muß so denken: "die Sonne sey mit dem Monde fast von gleicher Größe." Denn so ist der Schein des Gesichts, und es sind keine andere Vorstellungen vorhanden, die seine Denkkraft in eine andere Richtung bringen können. Er muß also entwe- der gar nicht urtheilen, oder so urtheilen, wie er es wirk- lich thut. Lasset uns die Probe mit uns selbst machen, und die Gegenstände stark und lebhaft anschauen, und denn alles Raisonnement aus Grundsätzen zu unterdrü- cken suchen, so werden wir bemerken, daß in uns dassel- bige sinnliche Urtheil hervorkomme. Jn so manchen Fällen wird uns ein Versuch dieser Art nur gar zu leicht; und das ist Eine von den Ursachen welche die sinnliche Kenntniß gegen das bessere Wissen der Vernunft so stark machet.
Drittens. Der Verhältnißgedanke, der hier ent- stehet, kann dennoch von den dermaligen sinnlichen Vorstellungen der Gegenstände getrennet werden, und er wird wirklich davon getrennet. Wie nothwendig also auch die Verbindung zwischen den Vorstellungen und der Reflexion gewesen seyn mag, so ist sie doch in so weit zufällig gewesen, daß die Denkthätigkeit oder der Aktus des Urtheils, als eine Wirkung, die in den sinn- lichen Vorstellungen ihren bestimmenden Grund hatte, durch die Dazwischenkunft anderer Vorstellungen von jenen getrennet werden konnte. Die sinnlichen Vorstel- lungen bleiben bey einer bessern Erkenntniß dieselbigen, wie sie vorher waren; aber es sind Raisonnements in dem Kopf des Verständigen, welche seine Denkkraft verhindern, die Objekte für das zu halten, was sie zu seyn scheinen. Jene Nothwendigkeit in der Wirkung der Denkkraft war also bedingt, und setzte voraus, daß
nichts
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
anders urtheilen kann, woferne der Aſſociation der Ge- fuͤhlsgleichheit mit der Geſichtsgleichheit nichts im Wege iſt. Der Schaͤfer muß ſo denken: „die Sonne ſey mit dem Monde faſt von gleicher Groͤße.‟ Denn ſo iſt der Schein des Geſichts, und es ſind keine andere Vorſtellungen vorhanden, die ſeine Denkkraft in eine andere Richtung bringen koͤnnen. Er muß alſo entwe- der gar nicht urtheilen, oder ſo urtheilen, wie er es wirk- lich thut. Laſſet uns die Probe mit uns ſelbſt machen, und die Gegenſtaͤnde ſtark und lebhaft anſchauen, und denn alles Raiſonnement aus Grundſaͤtzen zu unterdruͤ- cken ſuchen, ſo werden wir bemerken, daß in uns daſſel- bige ſinnliche Urtheil hervorkomme. Jn ſo manchen Faͤllen wird uns ein Verſuch dieſer Art nur gar zu leicht; und das iſt Eine von den Urſachen welche die ſinnliche Kenntniß gegen das beſſere Wiſſen der Vernunft ſo ſtark machet.
Drittens. Der Verhaͤltnißgedanke, der hier ent- ſtehet, kann dennoch von den dermaligen ſinnlichen Vorſtellungen der Gegenſtaͤnde getrennet werden, und er wird wirklich davon getrennet. Wie nothwendig alſo auch die Verbindung zwiſchen den Vorſtellungen und der Reflexion geweſen ſeyn mag, ſo iſt ſie doch in ſo weit zufaͤllig geweſen, daß die Denkthaͤtigkeit oder der Aktus des Urtheils, als eine Wirkung, die in den ſinn- lichen Vorſtellungen ihren beſtimmenden Grund hatte, durch die Dazwiſchenkunft anderer Vorſtellungen von jenen getrennet werden konnte. Die ſinnlichen Vorſtel- lungen bleiben bey einer beſſern Erkenntniß dieſelbigen, wie ſie vorher waren; aber es ſind Raiſonnements in dem Kopf des Verſtaͤndigen, welche ſeine Denkkraft verhindern, die Objekte fuͤr das zu halten, was ſie zu ſeyn ſcheinen. Jene Nothwendigkeit in der Wirkung der Denkkraft war alſo bedingt, und ſetzte voraus, daß
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
anders urtheilen kann, woferne der Aſſociation der Ge-
fuͤhlsgleichheit mit der Geſichtsgleichheit nichts im Wege
iſt. Der Schaͤfer muß ſo denken: „die Sonne ſey
mit dem Monde faſt von gleicher Groͤße.‟ Denn ſo
iſt der Schein des Geſichts, und es ſind keine andere
Vorſtellungen vorhanden, die ſeine Denkkraft in eine
andere Richtung bringen koͤnnen. Er muß alſo entwe-
der gar nicht urtheilen, oder ſo urtheilen, wie er es wirk-
lich thut. Laſſet uns die Probe mit uns ſelbſt machen,
und die Gegenſtaͤnde ſtark und lebhaft anſchauen, und
denn alles Raiſonnement aus Grundſaͤtzen zu unterdruͤ-
cken ſuchen, ſo werden wir bemerken, daß in uns daſſel-
bige ſinnliche Urtheil hervorkomme. Jn ſo manchen
Faͤllen wird uns ein Verſuch dieſer Art nur gar zu leicht;
und das iſt Eine von den Urſachen welche die ſinnliche
Kenntniß gegen das beſſere Wiſſen der Vernunft ſo ſtark
machet.
Drittens. Der Verhaͤltnißgedanke, der hier ent-
ſtehet, kann dennoch von den dermaligen ſinnlichen
Vorſtellungen der Gegenſtaͤnde getrennet werden, und
er wird wirklich davon getrennet. Wie nothwendig alſo
auch die Verbindung zwiſchen den Vorſtellungen und
der Reflexion geweſen ſeyn mag, ſo iſt ſie doch in ſo
weit zufaͤllig geweſen, daß die Denkthaͤtigkeit oder der
Aktus des Urtheils, als eine Wirkung, die in den ſinn-
lichen Vorſtellungen ihren beſtimmenden Grund hatte,
durch die Dazwiſchenkunft anderer Vorſtellungen von
jenen getrennet werden konnte. Die ſinnlichen Vorſtel-
lungen bleiben bey einer beſſern Erkenntniß dieſelbigen,
wie ſie vorher waren; aber es ſind Raiſonnements in
dem Kopf des Verſtaͤndigen, welche ſeine Denkkraft
verhindern, die Objekte fuͤr das zu halten, was ſie zu
ſeyn ſcheinen. Jene Nothwendigkeit in der Wirkung
der Denkkraft war alſo bedingt, und ſetzte voraus, daß
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/514>, abgerufen am 22.12.2024.
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