Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Versuch. Ueber den Unterschied
und auch zugleich die Quelle, woraus die Nothwendig-
keit fließet, die wir diesen Grundsätzen beylegen. Allein
es sey mir erlaubt, hinzuzusetzen, da haben wir bey die-
sen scharfsinnigen Philosophen die Wirkung davon, daß
sie den Gang des Menschenverstandes in den mathema-
tischen Wissenschaften nicht mit eben der Genauigkeit,
und mit eben der eindringenden Sorgfalt beobachtet, als
sie es in der Naturlehre, und in der Moral, und eini-
gen andern Kenntnissen gethan haben, wo der Einfluß
der allgemeinen nothwendigen Vernunftsätze nicht so auf-
fallend sich beweiset.

Es giebt allgemeine Erfahrungssätze, physi-
sche Sätze,
und manche von ihnen können bis zu ei-
ner solchen Allgemeinheit gebracht werden, daß sie kos-
mologische
Sätze sind. Der Körper ist schwer. Die
Materie besitzet eine anziehende Kraft u. d. gl. Solche
Sätze sind allgemeine Abstrakta von allen in den Em-
pfindungen wahrgenommenen Verbindungen der Jdeen,
deren Richtigkeit von der Uebereinstimmung oder der so
genannten Analogie der Erfahrungen abhänget, mit
einem Wort, Jnduktionssätze, die die Vernunft auf
dieselbige Art aufsammlet, wie die Gemeinbegriffe, die
von individuellen Vorstellungen abstrahiret sind. Wenn
man nur diese Wahrheiten im Sinne hat, so wende ich
kein Wort gegen die Erklärung ein, die man von dem
Entstehen allgemeiner Grundsätze gegeben hat. Die
Verbindung zwoer Jdeen, wenn sie öfterer geschehen ist,
bringet in dem Verstande eine Gewohnheit hervor, die
wie eine zwote Natur mit einer Art von Nothwendigkeit
wirket, welche fast eben so stark ist, als diejenige, mit
der die erste wahre Natur sich äußern muß. Der Geo-
meter kann keinen stärkern Naturzwang empfinden, wenn
er dem Triangel den dritten Winkel absprechen wollte,
als der gemeine unphilosophische Verstand, wenn er ei-
nen Stein ohne Schwere denken sollte. Ein sonst ver-

nünftiger

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
und auch zugleich die Quelle, woraus die Nothwendig-
keit fließet, die wir dieſen Grundſaͤtzen beylegen. Allein
es ſey mir erlaubt, hinzuzuſetzen, da haben wir bey die-
ſen ſcharfſinnigen Philoſophen die Wirkung davon, daß
ſie den Gang des Menſchenverſtandes in den mathema-
tiſchen Wiſſenſchaften nicht mit eben der Genauigkeit,
und mit eben der eindringenden Sorgfalt beobachtet, als
ſie es in der Naturlehre, und in der Moral, und eini-
gen andern Kenntniſſen gethan haben, wo der Einfluß
der allgemeinen nothwendigen Vernunftſaͤtze nicht ſo auf-
fallend ſich beweiſet.

Es giebt allgemeine Erfahrungsſaͤtze, phyſi-
ſche Saͤtze,
und manche von ihnen koͤnnen bis zu ei-
ner ſolchen Allgemeinheit gebracht werden, daß ſie kos-
mologiſche
Saͤtze ſind. Der Koͤrper iſt ſchwer. Die
Materie beſitzet eine anziehende Kraft u. d. gl. Solche
Saͤtze ſind allgemeine Abſtrakta von allen in den Em-
pfindungen wahrgenommenen Verbindungen der Jdeen,
deren Richtigkeit von der Uebereinſtimmung oder der ſo
genannten Analogie der Erfahrungen abhaͤnget, mit
einem Wort, Jnduktionsſaͤtze, die die Vernunft auf
dieſelbige Art aufſammlet, wie die Gemeinbegriffe, die
von individuellen Vorſtellungen abſtrahiret ſind. Wenn
man nur dieſe Wahrheiten im Sinne hat, ſo wende ich
kein Wort gegen die Erklaͤrung ein, die man von dem
Entſtehen allgemeiner Grundſaͤtze gegeben hat. Die
Verbindung zwoer Jdeen, wenn ſie oͤfterer geſchehen iſt,
bringet in dem Verſtande eine Gewohnheit hervor, die
wie eine zwote Natur mit einer Art von Nothwendigkeit
wirket, welche faſt eben ſo ſtark iſt, als diejenige, mit
der die erſte wahre Natur ſich aͤußern muß. Der Geo-
meter kann keinen ſtaͤrkern Naturzwang empfinden, wenn
er dem Triangel den dritten Winkel abſprechen wollte,
als der gemeine unphiloſophiſche Verſtand, wenn er ei-
nen Stein ohne Schwere denken ſollte. Ein ſonſt ver-

nuͤnftiger
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0524" n="464"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Unter&#x017F;chied</hi></fw><lb/>
und auch zugleich die Quelle, woraus die Nothwendig-<lb/>
keit fließet, die wir die&#x017F;en Grund&#x017F;a&#x0364;tzen beylegen. Allein<lb/>
es &#x017F;ey mir erlaubt, hinzuzu&#x017F;etzen, da haben wir bey die-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;charf&#x017F;innigen Philo&#x017F;ophen die Wirkung davon, daß<lb/>
&#x017F;ie den Gang des Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes in den mathema-<lb/>
ti&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften nicht mit eben der Genauigkeit,<lb/>
und mit eben der eindringenden Sorgfalt beobachtet, als<lb/>
&#x017F;ie es in der Naturlehre, und in der Moral, und eini-<lb/>
gen andern Kenntni&#x017F;&#x017F;en gethan haben, wo der Einfluß<lb/>
der allgemeinen nothwendigen Vernunft&#x017F;a&#x0364;tze nicht &#x017F;o auf-<lb/>
fallend &#x017F;ich bewei&#x017F;et.</p><lb/>
            <p>Es giebt <hi rendition="#fr">allgemeine Erfahrungs&#x017F;a&#x0364;tze, phy&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;che Sa&#x0364;tze,</hi> und manche von ihnen ko&#x0364;nnen bis zu ei-<lb/>
ner &#x017F;olchen Allgemeinheit gebracht werden, daß &#x017F;ie <hi rendition="#fr">kos-<lb/>
mologi&#x017F;che</hi> Sa&#x0364;tze &#x017F;ind. Der Ko&#x0364;rper i&#x017F;t &#x017F;chwer. Die<lb/>
Materie be&#x017F;itzet eine anziehende Kraft u. d. gl. Solche<lb/>
Sa&#x0364;tze &#x017F;ind allgemeine Ab&#x017F;trakta von allen in den Em-<lb/>
pfindungen wahrgenommenen Verbindungen der Jdeen,<lb/>
deren Richtigkeit von der Ueberein&#x017F;timmung oder der &#x017F;o<lb/>
genannten <hi rendition="#fr">Analogie der Erfahrungen</hi> abha&#x0364;nget, mit<lb/>
einem Wort, <hi rendition="#fr">Jnduktions&#x017F;a&#x0364;tze,</hi> die die Vernunft auf<lb/>
die&#x017F;elbige Art auf&#x017F;ammlet, wie die Gemeinbegriffe, die<lb/>
von individuellen Vor&#x017F;tellungen ab&#x017F;trahiret &#x017F;ind. Wenn<lb/>
man nur die&#x017F;e Wahrheiten im Sinne hat, &#x017F;o wende ich<lb/>
kein Wort gegen die Erkla&#x0364;rung ein, die man von dem<lb/>
Ent&#x017F;tehen allgemeiner Grund&#x017F;a&#x0364;tze gegeben hat. Die<lb/>
Verbindung zwoer Jdeen, wenn &#x017F;ie o&#x0364;fterer ge&#x017F;chehen i&#x017F;t,<lb/>
bringet in dem Ver&#x017F;tande eine Gewohnheit hervor, die<lb/>
wie eine zwote Natur mit einer Art von Nothwendigkeit<lb/>
wirket, welche fa&#x017F;t eben &#x017F;o &#x017F;tark i&#x017F;t, als diejenige, mit<lb/>
der die er&#x017F;te wahre Natur &#x017F;ich a&#x0364;ußern muß. Der Geo-<lb/>
meter kann keinen &#x017F;ta&#x0364;rkern Naturzwang empfinden, wenn<lb/>
er dem Triangel den dritten Winkel ab&#x017F;prechen wollte,<lb/>
als der gemeine unphilo&#x017F;ophi&#x017F;che Ver&#x017F;tand, wenn er ei-<lb/>
nen Stein ohne Schwere denken &#x017F;ollte. Ein &#x017F;on&#x017F;t ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nu&#x0364;nftiger</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[464/0524] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied und auch zugleich die Quelle, woraus die Nothwendig- keit fließet, die wir dieſen Grundſaͤtzen beylegen. Allein es ſey mir erlaubt, hinzuzuſetzen, da haben wir bey die- ſen ſcharfſinnigen Philoſophen die Wirkung davon, daß ſie den Gang des Menſchenverſtandes in den mathema- tiſchen Wiſſenſchaften nicht mit eben der Genauigkeit, und mit eben der eindringenden Sorgfalt beobachtet, als ſie es in der Naturlehre, und in der Moral, und eini- gen andern Kenntniſſen gethan haben, wo der Einfluß der allgemeinen nothwendigen Vernunftſaͤtze nicht ſo auf- fallend ſich beweiſet. Es giebt allgemeine Erfahrungsſaͤtze, phyſi- ſche Saͤtze, und manche von ihnen koͤnnen bis zu ei- ner ſolchen Allgemeinheit gebracht werden, daß ſie kos- mologiſche Saͤtze ſind. Der Koͤrper iſt ſchwer. Die Materie beſitzet eine anziehende Kraft u. d. gl. Solche Saͤtze ſind allgemeine Abſtrakta von allen in den Em- pfindungen wahrgenommenen Verbindungen der Jdeen, deren Richtigkeit von der Uebereinſtimmung oder der ſo genannten Analogie der Erfahrungen abhaͤnget, mit einem Wort, Jnduktionsſaͤtze, die die Vernunft auf dieſelbige Art aufſammlet, wie die Gemeinbegriffe, die von individuellen Vorſtellungen abſtrahiret ſind. Wenn man nur dieſe Wahrheiten im Sinne hat, ſo wende ich kein Wort gegen die Erklaͤrung ein, die man von dem Entſtehen allgemeiner Grundſaͤtze gegeben hat. Die Verbindung zwoer Jdeen, wenn ſie oͤfterer geſchehen iſt, bringet in dem Verſtande eine Gewohnheit hervor, die wie eine zwote Natur mit einer Art von Nothwendigkeit wirket, welche faſt eben ſo ſtark iſt, als diejenige, mit der die erſte wahre Natur ſich aͤußern muß. Der Geo- meter kann keinen ſtaͤrkern Naturzwang empfinden, wenn er dem Triangel den dritten Winkel abſprechen wollte, als der gemeine unphiloſophiſche Verſtand, wenn er ei- nen Stein ohne Schwere denken ſollte. Ein ſonſt ver- nuͤnftiger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/524
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/524>, abgerufen am 16.07.2024.