Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.

Ein höherer Grad von Menschenverstand kann der
kultivirte Menschenverstand genennet werden. Er fin-
det sich bey den polizirten Völkern in Vergleichung mit
den Barbaren und Wilden; bey dem brittischen Matro-
sen in Vergleichung mit dem Neuholländer. Sonsten
wissen wir wohl, daß es unter den so genannten wilden
Völkern Jndividuen giebt, die durch ihre feine und rich-
tige Beurtheilungskraft tausende von unsern gemeinen
Leuten beschämen. Dieser kultivirte Menschenverstand
hat sehr unterschiedene Stufen, und das Maaß desselben
bey Einer Person ist bey weitem nicht das Maaß bey an-
dern.

Der gelehrte Menschenverstand ist durch Unter-
weisungen und eigenes Nachdenken nach einem Grad hö-
her aufgeklärt. Jeder Mensch erwirbet sich in seinem
Fach, durch die öftere und fleißige Bearbeitung einerley
Art von Vorstellungen und Jdeen, eine gewisse Fertig-
keit,
ohne deutliche Entwickelung der Begriffe, mit Ei-
nem scharfen Blick über die dahin gehörigen Sachen rich-
tig zu urtheilen. Dieser in Hinsicht gewisser Arten
von Kenntnissen vorzüglich kultivirte
Menschen-
verstand ist der eigentliche gelehrte Schulwitz, oder
Schulverstand. Er ist es in einer noch engern Be-
deutung, wenn die Kenntnisse, mit denen er zu thun hat,
zu den besonders so genannten gelehrten Kenntnissen ge-
hören. Aber ehe die Begriffe so zubereitet worden sind,
als sie diesem fertigen Menschenverstande vorliegen, und
ehe die Urtheilskraft so stark ward, daß sie mit Einem
festen Blick die Verhältnisse der Dinge durch die Ver-
gleichung gewahrnehmen konnte, ehe es so weit kam,
wie viel Vorarbeiten sind nicht vorhergegangen? Ein
solcher kultivirter Menschenverstand, ein fertiges Wahr-
heitsgefühl,
eine starke unmittelbare Beurtheilungs-
kraft, kann nicht leicht bey allen Arten von Kenntnissen
erlanget werden; bey einigen muß man sich durchaus ent-

wickelter
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.

Ein hoͤherer Grad von Menſchenverſtand kann der
kultivirte Menſchenverſtand genennet werden. Er fin-
det ſich bey den polizirten Voͤlkern in Vergleichung mit
den Barbaren und Wilden; bey dem brittiſchen Matro-
ſen in Vergleichung mit dem Neuhollaͤnder. Sonſten
wiſſen wir wohl, daß es unter den ſo genannten wilden
Voͤlkern Jndividuen giebt, die durch ihre feine und rich-
tige Beurtheilungskraft tauſende von unſern gemeinen
Leuten beſchaͤmen. Dieſer kultivirte Menſchenverſtand
hat ſehr unterſchiedene Stufen, und das Maaß deſſelben
bey Einer Perſon iſt bey weitem nicht das Maaß bey an-
dern.

Der gelehrte Menſchenverſtand iſt durch Unter-
weiſungen und eigenes Nachdenken nach einem Grad hoͤ-
her aufgeklaͤrt. Jeder Menſch erwirbet ſich in ſeinem
Fach, durch die oͤftere und fleißige Bearbeitung einerley
Art von Vorſtellungen und Jdeen, eine gewiſſe Fertig-
keit,
ohne deutliche Entwickelung der Begriffe, mit Ei-
nem ſcharfen Blick uͤber die dahin gehoͤrigen Sachen rich-
tig zu urtheilen. Dieſer in Hinſicht gewiſſer Arten
von Kenntniſſen vorzuͤglich kultivirte
Menſchen-
verſtand iſt der eigentliche gelehrte Schulwitz, oder
Schulverſtand. Er iſt es in einer noch engern Be-
deutung, wenn die Kenntniſſe, mit denen er zu thun hat,
zu den beſonders ſo genannten gelehrten Kenntniſſen ge-
hoͤren. Aber ehe die Begriffe ſo zubereitet worden ſind,
als ſie dieſem fertigen Menſchenverſtande vorliegen, und
ehe die Urtheilskraft ſo ſtark ward, daß ſie mit Einem
feſten Blick die Verhaͤltniſſe der Dinge durch die Ver-
gleichung gewahrnehmen konnte, ehe es ſo weit kam,
wie viel Vorarbeiten ſind nicht vorhergegangen? Ein
ſolcher kultivirter Menſchenverſtand, ein fertiges Wahr-
heitsgefuͤhl,
eine ſtarke unmittelbare Beurtheilungs-
kraft, kann nicht leicht bey allen Arten von Kenntniſſen
erlanget werden; bey einigen muß man ſich durchaus ent-

wickelter
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0585" n="525"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi> </fw><lb/>
            <p>Ein ho&#x0364;herer Grad von Men&#x017F;chenver&#x017F;tand kann der<lb/><hi rendition="#fr">kultivirte</hi> Men&#x017F;chenver&#x017F;tand genennet werden. Er fin-<lb/>
det &#x017F;ich bey den <hi rendition="#fr">polizirten</hi> Vo&#x0364;lkern in Vergleichung mit<lb/>
den Barbaren und Wilden; bey dem britti&#x017F;chen Matro-<lb/>
&#x017F;en in Vergleichung mit dem Neuholla&#x0364;nder. Son&#x017F;ten<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en wir wohl, daß es unter den &#x017F;o genannten wilden<lb/>
Vo&#x0364;lkern Jndividuen giebt, die durch ihre feine und rich-<lb/>
tige Beurtheilungskraft tau&#x017F;ende von un&#x017F;ern gemeinen<lb/>
Leuten be&#x017F;cha&#x0364;men. Die&#x017F;er kultivirte Men&#x017F;chenver&#x017F;tand<lb/>
hat &#x017F;ehr unter&#x017F;chiedene Stufen, und das Maaß de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
bey Einer Per&#x017F;on i&#x017F;t bey weitem nicht das Maaß bey an-<lb/>
dern.</p><lb/>
            <p>Der <hi rendition="#fr">gelehrte Men&#x017F;chenver&#x017F;tand</hi> i&#x017F;t durch Unter-<lb/>
wei&#x017F;ungen und eigenes Nachdenken nach einem Grad ho&#x0364;-<lb/>
her aufgekla&#x0364;rt. Jeder Men&#x017F;ch erwirbet &#x017F;ich in &#x017F;einem<lb/>
Fach, durch die o&#x0364;ftere und fleißige Bearbeitung einerley<lb/>
Art von Vor&#x017F;tellungen und Jdeen, eine gewi&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#fr">Fertig-<lb/>
keit,</hi> ohne deutliche Entwickelung der Begriffe, mit Ei-<lb/>
nem &#x017F;charfen Blick u&#x0364;ber die dahin geho&#x0364;rigen Sachen rich-<lb/>
tig zu urtheilen. Die&#x017F;er in <hi rendition="#fr">Hin&#x017F;icht gewi&#x017F;&#x017F;er Arten<lb/>
von Kenntni&#x017F;&#x017F;en vorzu&#x0364;glich kultivirte</hi> Men&#x017F;chen-<lb/>
ver&#x017F;tand i&#x017F;t der eigentliche <hi rendition="#fr">gelehrte Schulwitz,</hi> oder<lb/><hi rendition="#fr">Schulver&#x017F;tand.</hi> Er i&#x017F;t es in einer noch engern Be-<lb/>
deutung, wenn die Kenntni&#x017F;&#x017F;e, mit denen er zu thun hat,<lb/>
zu den be&#x017F;onders &#x017F;o genannten <hi rendition="#fr">gelehrten</hi> Kenntni&#x017F;&#x017F;en ge-<lb/>
ho&#x0364;ren. Aber ehe die Begriffe &#x017F;o zubereitet worden &#x017F;ind,<lb/>
als &#x017F;ie die&#x017F;em fertigen Men&#x017F;chenver&#x017F;tande vorliegen, und<lb/>
ehe die Urtheilskraft &#x017F;o &#x017F;tark ward, daß &#x017F;ie mit Einem<lb/>
fe&#x017F;ten Blick die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Dinge durch die Ver-<lb/>
gleichung gewahrnehmen konnte, ehe es &#x017F;o weit kam,<lb/>
wie viel Vorarbeiten &#x017F;ind nicht vorhergegangen? Ein<lb/>
&#x017F;olcher kultivirter Men&#x017F;chenver&#x017F;tand, ein <hi rendition="#fr">fertiges Wahr-<lb/>
heitsgefu&#x0364;hl,</hi> eine &#x017F;tarke unmittelbare Beurtheilungs-<lb/>
kraft, kann nicht leicht bey allen Arten von Kenntni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
erlanget werden; bey einigen muß man &#x017F;ich durchaus ent-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wickelter</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[525/0585] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. Ein hoͤherer Grad von Menſchenverſtand kann der kultivirte Menſchenverſtand genennet werden. Er fin- det ſich bey den polizirten Voͤlkern in Vergleichung mit den Barbaren und Wilden; bey dem brittiſchen Matro- ſen in Vergleichung mit dem Neuhollaͤnder. Sonſten wiſſen wir wohl, daß es unter den ſo genannten wilden Voͤlkern Jndividuen giebt, die durch ihre feine und rich- tige Beurtheilungskraft tauſende von unſern gemeinen Leuten beſchaͤmen. Dieſer kultivirte Menſchenverſtand hat ſehr unterſchiedene Stufen, und das Maaß deſſelben bey Einer Perſon iſt bey weitem nicht das Maaß bey an- dern. Der gelehrte Menſchenverſtand iſt durch Unter- weiſungen und eigenes Nachdenken nach einem Grad hoͤ- her aufgeklaͤrt. Jeder Menſch erwirbet ſich in ſeinem Fach, durch die oͤftere und fleißige Bearbeitung einerley Art von Vorſtellungen und Jdeen, eine gewiſſe Fertig- keit, ohne deutliche Entwickelung der Begriffe, mit Ei- nem ſcharfen Blick uͤber die dahin gehoͤrigen Sachen rich- tig zu urtheilen. Dieſer in Hinſicht gewiſſer Arten von Kenntniſſen vorzuͤglich kultivirte Menſchen- verſtand iſt der eigentliche gelehrte Schulwitz, oder Schulverſtand. Er iſt es in einer noch engern Be- deutung, wenn die Kenntniſſe, mit denen er zu thun hat, zu den beſonders ſo genannten gelehrten Kenntniſſen ge- hoͤren. Aber ehe die Begriffe ſo zubereitet worden ſind, als ſie dieſem fertigen Menſchenverſtande vorliegen, und ehe die Urtheilskraft ſo ſtark ward, daß ſie mit Einem feſten Blick die Verhaͤltniſſe der Dinge durch die Ver- gleichung gewahrnehmen konnte, ehe es ſo weit kam, wie viel Vorarbeiten ſind nicht vorhergegangen? Ein ſolcher kultivirter Menſchenverſtand, ein fertiges Wahr- heitsgefuͤhl, eine ſtarke unmittelbare Beurtheilungs- kraft, kann nicht leicht bey allen Arten von Kenntniſſen erlanget werden; bey einigen muß man ſich durchaus ent- wickelter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/585
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/585>, abgerufen am 22.12.2024.