Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
Skeptiker sie nicht für ein untrügliches Kennzeichen der
Wahrheit anerkennen will, so beruft er sich auf Jrrthü-
mer, die wir jetzo dafür erkennen, und die doch zu Ei-
ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden
sind. Davon giebt es noch mehrere Beyspiele, als die
bekannte sinnliche Vorstellung von der Bewegung der
Sonne um die Erde.

Woher eine gewisse Gleichheit aller Menschen in
Hinsicht ihrer entwickelten Denkkräfte entstehen könne,
und eine allgemeine Uebereinstimmung in gewissen Mei-
nungen und Urtheilen, das ist, bey aller ihrer sonstigen
Verschiedenheit, aus ihrer ähnlichen Naturanlage, und
der dadurch bestimmten nothwendig ähnlichen Wirkungs-
arten, aus der Aehnlichkeit der äußeren Sinne und der
ersten Empfindungen und Vorstellungen, wie auch der
Gelegenheiten, Reizungen und Gegenstände für die Ver-
mögen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen
Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegründet ist,
in der alle Menschenkinder auf die äußere wirkliche Welt
sich befinden, sehr leicht zu begreifen. Aber es ist nicht
leicht, und vielleicht unmöglich, die Grenze genau zu be-
stimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al-
len Jndividuen, in Hinsicht der Größe der Vermögen,
und die davon abhangende Uebereinstimmung in den
Meinungen sich erstrecke? Es gehört doch wahrlich
nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald für
Erkenntnisse des Menschenverstandes ausgegeben
hat, und doch auch selbst nicht zu den allgemeinen
Menschenverstand
hinrechnet. Daher können Fälle
genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entscheiden
ist, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menschen er-
kannt sey, oder nicht? Man hat insbesondere diese
Frage bey der Lehre von dem Daseyn eines Gottes un-
tersuchet, aber weder die bejahende noch die verneinende
Antwort bisher völlig zur Evidenz gebracht.

Ein

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Skeptiker ſie nicht fuͤr ein untruͤgliches Kennzeichen der
Wahrheit anerkennen will, ſo beruft er ſich auf Jrrthuͤ-
mer, die wir jetzo dafuͤr erkennen, und die doch zu Ei-
ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden
ſind. Davon giebt es noch mehrere Beyſpiele, als die
bekannte ſinnliche Vorſtellung von der Bewegung der
Sonne um die Erde.

Woher eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in
Hinſicht ihrer entwickelten Denkkraͤfte entſtehen koͤnne,
und eine allgemeine Uebereinſtimmung in gewiſſen Mei-
nungen und Urtheilen, das iſt, bey aller ihrer ſonſtigen
Verſchiedenheit, aus ihrer aͤhnlichen Naturanlage, und
der dadurch beſtimmten nothwendig aͤhnlichen Wirkungs-
arten, aus der Aehnlichkeit der aͤußeren Sinne und der
erſten Empfindungen und Vorſtellungen, wie auch der
Gelegenheiten, Reizungen und Gegenſtaͤnde fuͤr die Ver-
moͤgen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen
Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegruͤndet iſt,
in der alle Menſchenkinder auf die aͤußere wirkliche Welt
ſich befinden, ſehr leicht zu begreifen. Aber es iſt nicht
leicht, und vielleicht unmoͤglich, die Grenze genau zu be-
ſtimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al-
len Jndividuen, in Hinſicht der Groͤße der Vermoͤgen,
und die davon abhangende Uebereinſtimmung in den
Meinungen ſich erſtrecke? Es gehoͤrt doch wahrlich
nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald fuͤr
Erkenntniſſe des Menſchenverſtandes ausgegeben
hat, und doch auch ſelbſt nicht zu den allgemeinen
Menſchenverſtand
hinrechnet. Daher koͤnnen Faͤlle
genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entſcheiden
iſt, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menſchen er-
kannt ſey, oder nicht? Man hat insbeſondere dieſe
Frage bey der Lehre von dem Daſeyn eines Gottes un-
terſuchet, aber weder die bejahende noch die verneinende
Antwort bisher voͤllig zur Evidenz gebracht.

Ein
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0584" n="524"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Nothwendigkeit</hi></fw><lb/>
Skeptiker &#x017F;ie nicht fu&#x0364;r ein untru&#x0364;gliches Kennzeichen der<lb/>
Wahrheit anerkennen will, &#x017F;o beruft er &#x017F;ich auf Jrrthu&#x0364;-<lb/>
mer, die wir jetzo dafu&#x0364;r erkennen, und die doch zu Ei-<lb/>
ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden<lb/>
&#x017F;ind. Davon giebt es noch mehrere Bey&#x017F;piele, als die<lb/>
bekannte &#x017F;innliche Vor&#x017F;tellung von der Bewegung der<lb/>
Sonne um die Erde.</p><lb/>
            <p>Woher eine gewi&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#fr">Gleichheit aller</hi> Men&#x017F;chen in<lb/>
Hin&#x017F;icht ihrer <hi rendition="#fr">entwickelten</hi> Denkkra&#x0364;fte ent&#x017F;tehen ko&#x0364;nne,<lb/>
und eine allgemeine Ueberein&#x017F;timmung in gewi&#x017F;&#x017F;en Mei-<lb/>
nungen und Urtheilen, das i&#x017F;t, bey aller ihrer &#x017F;on&#x017F;tigen<lb/>
Ver&#x017F;chiedenheit, aus ihrer a&#x0364;hnlichen Naturanlage, und<lb/>
der dadurch be&#x017F;timmten nothwendig a&#x0364;hnlichen Wirkungs-<lb/>
arten, aus der Aehnlichkeit der a&#x0364;ußeren Sinne und der<lb/>
er&#x017F;ten Empfindungen und Vor&#x017F;tellungen, wie auch der<lb/>
Gelegenheiten, Reizungen und Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde fu&#x0364;r die Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen<lb/>
Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegru&#x0364;ndet i&#x017F;t,<lb/>
in der alle Men&#x017F;chenkinder auf die a&#x0364;ußere wirkliche Welt<lb/>
&#x017F;ich befinden, &#x017F;ehr leicht zu begreifen. Aber es i&#x017F;t nicht<lb/>
leicht, und vielleicht unmo&#x0364;glich, die Grenze genau zu be-<lb/>
&#x017F;timmen, bis wohin die <hi rendition="#fr">allgemeine</hi> Gleichheit bey al-<lb/>
len Jndividuen, in Hin&#x017F;icht <hi rendition="#fr">der Gro&#x0364;ße</hi> der Vermo&#x0364;gen,<lb/>
und die davon abhangende Ueberein&#x017F;timmung in den<lb/>
Meinungen &#x017F;ich er&#x017F;trecke? Es geho&#x0364;rt doch wahrlich<lb/>
nicht zu den gemeinen Meinungen, was <hi rendition="#fr">Oswald</hi> fu&#x0364;r<lb/>
Erkenntni&#x017F;&#x017F;e des <hi rendition="#fr">Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes</hi> ausgegeben<lb/>
hat, und doch auch &#x017F;elb&#x017F;t nicht zu den <hi rendition="#fr">allgemeinen<lb/>
Men&#x017F;chenver&#x017F;tand</hi> hinrechnet. Daher ko&#x0364;nnen Fa&#x0364;lle<lb/>
genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu ent&#x017F;cheiden<lb/>
i&#x017F;t, ob etwas als eine Wahrheit von allen Men&#x017F;chen er-<lb/>
kannt &#x017F;ey, oder nicht? Man hat insbe&#x017F;ondere die&#x017F;e<lb/>
Frage bey der Lehre von dem Da&#x017F;eyn eines Gottes un-<lb/>
ter&#x017F;uchet, aber weder die bejahende noch die verneinende<lb/>
Antwort bisher vo&#x0364;llig zur Evidenz gebracht.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ein</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[524/0584] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit Skeptiker ſie nicht fuͤr ein untruͤgliches Kennzeichen der Wahrheit anerkennen will, ſo beruft er ſich auf Jrrthuͤ- mer, die wir jetzo dafuͤr erkennen, und die doch zu Ei- ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden ſind. Davon giebt es noch mehrere Beyſpiele, als die bekannte ſinnliche Vorſtellung von der Bewegung der Sonne um die Erde. Woher eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in Hinſicht ihrer entwickelten Denkkraͤfte entſtehen koͤnne, und eine allgemeine Uebereinſtimmung in gewiſſen Mei- nungen und Urtheilen, das iſt, bey aller ihrer ſonſtigen Verſchiedenheit, aus ihrer aͤhnlichen Naturanlage, und der dadurch beſtimmten nothwendig aͤhnlichen Wirkungs- arten, aus der Aehnlichkeit der aͤußeren Sinne und der erſten Empfindungen und Vorſtellungen, wie auch der Gelegenheiten, Reizungen und Gegenſtaͤnde fuͤr die Ver- moͤgen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegruͤndet iſt, in der alle Menſchenkinder auf die aͤußere wirkliche Welt ſich befinden, ſehr leicht zu begreifen. Aber es iſt nicht leicht, und vielleicht unmoͤglich, die Grenze genau zu be- ſtimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al- len Jndividuen, in Hinſicht der Groͤße der Vermoͤgen, und die davon abhangende Uebereinſtimmung in den Meinungen ſich erſtrecke? Es gehoͤrt doch wahrlich nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald fuͤr Erkenntniſſe des Menſchenverſtandes ausgegeben hat, und doch auch ſelbſt nicht zu den allgemeinen Menſchenverſtand hinrechnet. Daher koͤnnen Faͤlle genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entſcheiden iſt, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menſchen er- kannt ſey, oder nicht? Man hat insbeſondere dieſe Frage bey der Lehre von dem Daſeyn eines Gottes un- terſuchet, aber weder die bejahende noch die verneinende Antwort bisher voͤllig zur Evidenz gebracht. Ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/584
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/584>, abgerufen am 22.12.2024.