Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.

Aber in der Anwendung, die man von der Unter-
scheidung des Menschenverstandes und der Ver-
nunft
gemacht hat, ist diese gedachte Abtheilung, wo-
bey auf die Grade der innern Entwickelung des Ver-
mögens gesehen wird, nicht so fruchtbar befunden wor-
den, als eine andere, bey welcher die Ausdehnung
der gesammten unmittelbaren Urtheilskraft,
und
der Umfang der Kenntnisse, die diese erreichet hat,
zum Grunde geleget ward.

Hier giebt es erstlich einen Grad von Menschenver-
stande, den alle vollständige Menschen, die mit den
gewöhnlichen Sinnen begabt sind, alsdenn erlanget ha-
ben, wenn sie erwachsen sind, und über Dinge und Be-
schaffenheiten urtheilen. Dieß ist der gemeine Men-
schenverstand,
und seine Kenntnisse machen die allge-
meinen menschlichen Meinungen
aus, den Sensus
communis hominum.
Dieß sind die entwickelten
Erkenntnißvermögen,
in dem Grad der Entwicke-
lung betrachtet, den diese in allen Menschen durch die
innere Anlage der Natur und durch die Einwirkung der
äußern Umstände, gewöhnlicher Weise erlangen.

Diese erste Stufe des Menschenverstandes, den man
eigentlich allgemeinen Menschen erstand nennen
kann, ist deswegen besonders zu bemerken, weil man
nicht ohne Ursache seinen Aussprüchen und Urtheilen eine
große Auktorität beygeleget hat. Es ist von einigen
die Uebereinstimmung aller Menschen zu einem Charak-
ter der Wahrheit gemacht, nach der Regel, "was alle
"Menschen ohne Ausnahme für wahr halten, das muß
"es auch seyn." Alle Menschen glauben, daß sie ei-
nen Körper besitzen, daß es Objekte außer ihnen gebe,
daß die Sonne sowohl ein wirkliches Ding sey, als sie
selbst, daß das Feuer warm mache, wie die Sonne, und
wie sie brenne, u. s. w. Bey diesen und unzählig meh-
rern Sätzen trift die angezeigte Regel zu; aber wenn der

Skepti-
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.

Aber in der Anwendung, die man von der Unter-
ſcheidung des Menſchenverſtandes und der Ver-
nunft
gemacht hat, iſt dieſe gedachte Abtheilung, wo-
bey auf die Grade der innern Entwickelung des Ver-
moͤgens geſehen wird, nicht ſo fruchtbar befunden wor-
den, als eine andere, bey welcher die Ausdehnung
der geſammten unmittelbaren Urtheilskraft,
und
der Umfang der Kenntniſſe, die dieſe erreichet hat,
zum Grunde geleget ward.

Hier giebt es erſtlich einen Grad von Menſchenver-
ſtande, den alle vollſtaͤndige Menſchen, die mit den
gewoͤhnlichen Sinnen begabt ſind, alsdenn erlanget ha-
ben, wenn ſie erwachſen ſind, und uͤber Dinge und Be-
ſchaffenheiten urtheilen. Dieß iſt der gemeine Men-
ſchenverſtand,
und ſeine Kenntniſſe machen die allge-
meinen menſchlichen Meinungen
aus, den Senſus
communis hominum.
Dieß ſind die entwickelten
Erkenntnißvermoͤgen,
in dem Grad der Entwicke-
lung betrachtet, den dieſe in allen Menſchen durch die
innere Anlage der Natur und durch die Einwirkung der
aͤußern Umſtaͤnde, gewoͤhnlicher Weiſe erlangen.

Dieſe erſte Stufe des Menſchenverſtandes, den man
eigentlich allgemeinen Menſchen erſtand nennen
kann, iſt deswegen beſonders zu bemerken, weil man
nicht ohne Urſache ſeinen Ausſpruͤchen und Urtheilen eine
große Auktoritaͤt beygeleget hat. Es iſt von einigen
die Uebereinſtimmung aller Menſchen zu einem Charak-
ter der Wahrheit gemacht, nach der Regel, „was alle
„Menſchen ohne Ausnahme fuͤr wahr halten, das muß
„es auch ſeyn.‟ Alle Menſchen glauben, daß ſie ei-
nen Koͤrper beſitzen, daß es Objekte außer ihnen gebe,
daß die Sonne ſowohl ein wirkliches Ding ſey, als ſie
ſelbſt, daß das Feuer warm mache, wie die Sonne, und
wie ſie brenne, u. ſ. w. Bey dieſen und unzaͤhlig meh-
rern Saͤtzen trift die angezeigte Regel zu; aber wenn der

Skepti-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0583" n="523"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi> </fw><lb/>
            <p>Aber in der Anwendung, die man von der Unter-<lb/>
&#x017F;cheidung des <hi rendition="#fr">Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes</hi> und der <hi rendition="#fr">Ver-<lb/>
nunft</hi> gemacht hat, i&#x017F;t die&#x017F;e gedachte Abtheilung, wo-<lb/>
bey auf die Grade der innern Entwickelung des Ver-<lb/>
mo&#x0364;gens ge&#x017F;ehen wird, nicht &#x017F;o fruchtbar befunden wor-<lb/>
den, als eine andere, bey welcher die <hi rendition="#fr">Ausdehnung<lb/>
der ge&#x017F;ammten unmittelbaren Urtheilskraft,</hi> und<lb/>
der <hi rendition="#fr">Umfang der Kenntni&#x017F;&#x017F;e,</hi> die die&#x017F;e erreichet hat,<lb/>
zum Grunde geleget ward.</p><lb/>
            <p>Hier giebt es er&#x017F;tlich einen Grad von Men&#x017F;chenver-<lb/>
&#x017F;tande, den alle <hi rendition="#fr">voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Men&#x017F;chen,</hi> die mit den<lb/>
gewo&#x0364;hnlichen Sinnen begabt &#x017F;ind, alsdenn erlanget ha-<lb/>
ben, wenn &#x017F;ie erwach&#x017F;en &#x017F;ind, und u&#x0364;ber Dinge und Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheiten urtheilen. Dieß i&#x017F;t der <hi rendition="#fr">gemeine Men-<lb/>
&#x017F;chenver&#x017F;tand,</hi> und &#x017F;eine Kenntni&#x017F;&#x017F;e machen die <hi rendition="#fr">allge-<lb/>
meinen men&#x017F;chlichen Meinungen</hi> aus, den <hi rendition="#aq">Sen&#x017F;us<lb/>
communis hominum.</hi> Dieß &#x017F;ind die <hi rendition="#fr">entwickelten<lb/>
Erkenntnißvermo&#x0364;gen,</hi> in dem Grad der Entwicke-<lb/>
lung betrachtet, den die&#x017F;e in <hi rendition="#fr">allen</hi> Men&#x017F;chen durch die<lb/>
innere Anlage der Natur und durch die Einwirkung der<lb/>
a&#x0364;ußern Um&#x017F;ta&#x0364;nde, gewo&#x0364;hnlicher Wei&#x017F;e erlangen.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e er&#x017F;te Stufe des Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes, den man<lb/>
eigentlich <hi rendition="#fr">allgemeinen Men&#x017F;chen er&#x017F;tand</hi> nennen<lb/>
kann, i&#x017F;t deswegen be&#x017F;onders zu bemerken, weil man<lb/>
nicht ohne Ur&#x017F;ache &#x017F;einen Aus&#x017F;pru&#x0364;chen und Urtheilen eine<lb/>
große Auktorita&#x0364;t beygeleget hat. Es i&#x017F;t von einigen<lb/>
die Ueberein&#x017F;timmung aller Men&#x017F;chen zu einem Charak-<lb/>
ter der Wahrheit gemacht, nach der Regel, &#x201E;was alle<lb/>
&#x201E;Men&#x017F;chen ohne Ausnahme fu&#x0364;r wahr halten, das muß<lb/>
&#x201E;es auch &#x017F;eyn.&#x201F; Alle Men&#x017F;chen glauben, daß &#x017F;ie ei-<lb/>
nen Ko&#x0364;rper be&#x017F;itzen, daß es Objekte außer ihnen gebe,<lb/>
daß die Sonne &#x017F;owohl ein wirkliches Ding &#x017F;ey, als &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, daß das Feuer warm mache, wie die Sonne, und<lb/>
wie &#x017F;ie brenne, u. &#x017F;. w. Bey die&#x017F;en und unza&#x0364;hlig meh-<lb/>
rern Sa&#x0364;tzen trift die angezeigte Regel zu; aber wenn der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Skepti-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[523/0583] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. Aber in der Anwendung, die man von der Unter- ſcheidung des Menſchenverſtandes und der Ver- nunft gemacht hat, iſt dieſe gedachte Abtheilung, wo- bey auf die Grade der innern Entwickelung des Ver- moͤgens geſehen wird, nicht ſo fruchtbar befunden wor- den, als eine andere, bey welcher die Ausdehnung der geſammten unmittelbaren Urtheilskraft, und der Umfang der Kenntniſſe, die dieſe erreichet hat, zum Grunde geleget ward. Hier giebt es erſtlich einen Grad von Menſchenver- ſtande, den alle vollſtaͤndige Menſchen, die mit den gewoͤhnlichen Sinnen begabt ſind, alsdenn erlanget ha- ben, wenn ſie erwachſen ſind, und uͤber Dinge und Be- ſchaffenheiten urtheilen. Dieß iſt der gemeine Men- ſchenverſtand, und ſeine Kenntniſſe machen die allge- meinen menſchlichen Meinungen aus, den Senſus communis hominum. Dieß ſind die entwickelten Erkenntnißvermoͤgen, in dem Grad der Entwicke- lung betrachtet, den dieſe in allen Menſchen durch die innere Anlage der Natur und durch die Einwirkung der aͤußern Umſtaͤnde, gewoͤhnlicher Weiſe erlangen. Dieſe erſte Stufe des Menſchenverſtandes, den man eigentlich allgemeinen Menſchen erſtand nennen kann, iſt deswegen beſonders zu bemerken, weil man nicht ohne Urſache ſeinen Ausſpruͤchen und Urtheilen eine große Auktoritaͤt beygeleget hat. Es iſt von einigen die Uebereinſtimmung aller Menſchen zu einem Charak- ter der Wahrheit gemacht, nach der Regel, „was alle „Menſchen ohne Ausnahme fuͤr wahr halten, das muß „es auch ſeyn.‟ Alle Menſchen glauben, daß ſie ei- nen Koͤrper beſitzen, daß es Objekte außer ihnen gebe, daß die Sonne ſowohl ein wirkliches Ding ſey, als ſie ſelbſt, daß das Feuer warm mache, wie die Sonne, und wie ſie brenne, u. ſ. w. Bey dieſen und unzaͤhlig meh- rern Saͤtzen trift die angezeigte Regel zu; aber wenn der Skepti-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/583
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/583>, abgerufen am 16.07.2024.