sie überhaupt nur eine Wahrscheinlichkeit genennet werden, so giebt es auch Wahrscheinlichkeiten, die der völligsten Gewißheit so nahe kommen, daß der Theil, der ihnen noch fehlet, wegen seiner Geringfügigkeit, als ein unendlich kleines angesehen werden kann. Es giebt unendlich große Wahrscheinlichkeiten, ob sie gleich nach der Theorie nicht gänzlich der Gewißheit gleich sind, und diese verdienen eine vorzügliche Erwägung. Andere sind von einem mindern Grade, und machen doch schon eine moralische Gewißheit aus.
Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle- gen will. Es muß der Ungrund des skeptischen Vor- wandes, als führe uns das natürliche Verfahren des ge- meinen Verstandes auf Widersprüche/ mit sich selbst und mit der raisonnirenden Vernunft völlig ins Licht gesetzet werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an- fangen; aber es ist auch nichts mehr nöthig, wenn der Zweifler ein nachdenkender Mann ist.
Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und gerade als ein Princip es annimmt, es sey ein untrieg- licher Charakter der Wahrheit, daß der Menschenver- stand sich die Sachen so und nicht anders denke, oder den- ken könne; wenn der Ausspruch der entwickelnden und schließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr so gar ihr Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor- urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den- kende Zweifler auf die Art überzeugt werden? Jst es zu hart zu sagen, daß dieß Verfahren wider den Men- schenverstand ist?
IV. Von
I.Band. L l
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
ſie uͤberhaupt nur eine Wahrſcheinlichkeit genennet werden, ſo giebt es auch Wahrſcheinlichkeiten, die der voͤlligſten Gewißheit ſo nahe kommen, daß der Theil, der ihnen noch fehlet, wegen ſeiner Geringfuͤgigkeit, als ein unendlich kleines angeſehen werden kann. Es giebt unendlich große Wahrſcheinlichkeiten, ob ſie gleich nach der Theorie nicht gaͤnzlich der Gewißheit gleich ſind, und dieſe verdienen eine vorzuͤgliche Erwaͤgung. Andere ſind von einem mindern Grade, und machen doch ſchon eine moraliſche Gewißheit aus.
Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle- gen will. Es muß der Ungrund des ſkeptiſchen Vor- wandes, als fuͤhre uns das natuͤrliche Verfahren des ge- meinen Verſtandes auf Widerſpruͤche/ mit ſich ſelbſt und mit der raiſonnirenden Vernunft voͤllig ins Licht geſetzet werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an- fangen; aber es iſt auch nichts mehr noͤthig, wenn der Zweifler ein nachdenkender Mann iſt.
Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und gerade als ein Princip es annimmt, es ſey ein untrieg- licher Charakter der Wahrheit, daß der Menſchenver- ſtand ſich die Sachen ſo und nicht anders denke, oder den- ken koͤnne; wenn der Ausſpruch der entwickelnden und ſchließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr ſo gar ihr Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor- urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den- kende Zweifler auf die Art uͤberzeugt werden? Jſt es zu hart zu ſagen, daß dieß Verfahren wider den Men- ſchenverſtand iſt?
IV. Von
I.Band. L l
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0589"n="529"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.</hi></fw><lb/>ſie uͤberhaupt nur eine <hirendition="#fr">Wahrſcheinlichkeit</hi> genennet<lb/>
werden, ſo giebt es auch Wahrſcheinlichkeiten, die der<lb/><hirendition="#fr">voͤlligſten</hi> Gewißheit ſo nahe kommen, daß der Theil,<lb/>
der ihnen noch fehlet, wegen ſeiner Geringfuͤgigkeit, als<lb/>
ein unendlich kleines angeſehen werden kann. Es giebt<lb/><hirendition="#fr">unendlich große Wahrſcheinlichkeiten,</hi> ob ſie gleich<lb/>
nach der Theorie nicht gaͤnzlich der Gewißheit gleich ſind,<lb/>
und dieſe verdienen eine vorzuͤgliche Erwaͤgung. Andere<lb/>ſind von einem mindern Grade, und machen doch ſchon<lb/>
eine <hirendition="#fr">moraliſche</hi> Gewißheit aus.</p><lb/><p>Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle-<lb/>
gen will. Es muß der Ungrund des ſkeptiſchen Vor-<lb/>
wandes, als fuͤhre uns das natuͤrliche Verfahren des ge-<lb/>
meinen Verſtandes auf Widerſpruͤche/ mit ſich ſelbſt und<lb/>
mit der raiſonnirenden Vernunft voͤllig ins Licht geſetzet<lb/>
werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an-<lb/>
fangen; aber es iſt auch nichts mehr noͤthig, wenn der<lb/>
Zweifler ein nachdenkender Mann iſt.</p><lb/><p>Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie<lb/><hirendition="#fr">Reid, Beattie</hi> und <hirendition="#fr">Oswald;</hi> nur unbedingt und<lb/>
gerade als ein Princip es annimmt, es ſey ein untrieg-<lb/>
licher Charakter der Wahrheit, daß der Menſchenver-<lb/>ſtand ſich die Sachen ſo und nicht anders denke, oder den-<lb/>
ken koͤnne; wenn der Ausſpruch der entwickelnden und<lb/>ſchließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr ſo gar ihr<lb/>
Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor-<lb/>
urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den-<lb/>
kende Zweifler auf die Art uͤberzeugt werden? Jſt es<lb/>
zu hart zu ſagen, daß dieß Verfahren wider den Men-<lb/>ſchenverſtand iſt?</p></div></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I.</hi><hirendition="#fr">Band.</hi> L l</fw><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#aq">IV.</hi> Von</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[529/0589]
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
ſie uͤberhaupt nur eine Wahrſcheinlichkeit genennet
werden, ſo giebt es auch Wahrſcheinlichkeiten, die der
voͤlligſten Gewißheit ſo nahe kommen, daß der Theil,
der ihnen noch fehlet, wegen ſeiner Geringfuͤgigkeit, als
ein unendlich kleines angeſehen werden kann. Es giebt
unendlich große Wahrſcheinlichkeiten, ob ſie gleich
nach der Theorie nicht gaͤnzlich der Gewißheit gleich ſind,
und dieſe verdienen eine vorzuͤgliche Erwaͤgung. Andere
ſind von einem mindern Grade, und machen doch ſchon
eine moraliſche Gewißheit aus.
Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle-
gen will. Es muß der Ungrund des ſkeptiſchen Vor-
wandes, als fuͤhre uns das natuͤrliche Verfahren des ge-
meinen Verſtandes auf Widerſpruͤche/ mit ſich ſelbſt und
mit der raiſonnirenden Vernunft voͤllig ins Licht geſetzet
werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an-
fangen; aber es iſt auch nichts mehr noͤthig, wenn der
Zweifler ein nachdenkender Mann iſt.
Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie
Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und
gerade als ein Princip es annimmt, es ſey ein untrieg-
licher Charakter der Wahrheit, daß der Menſchenver-
ſtand ſich die Sachen ſo und nicht anders denke, oder den-
ken koͤnne; wenn der Ausſpruch der entwickelnden und
ſchließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr ſo gar ihr
Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor-
urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den-
kende Zweifler auf die Art uͤberzeugt werden? Jſt es
zu hart zu ſagen, daß dieß Verfahren wider den Men-
ſchenverſtand iſt?
IV. Von
I. Band. L l
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/589>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.