meine Sätze, die nur auf einer unvollkommenen, ob- gleich großen Jnduktion beruhen; legt den Sachen Be- schaffenheiten in ihrem ganzen Umfang bey, dem ganzen Jnhalt seiner Jdeen gemäß, wo nur ein Theil gewahr- genommen wird, oder spricht ihnen solche ganz ab, wo nur Ein Theil vermißt wird, der als ein Charakter des übrigen Theiles angenommen, weil er in den Empfin- dungen damit verbunden gewesen ist. Die Urtheile, welche aus den letztern Wirkungsarten entspringen, wer- den uns nur durch die Gewohnheit natürlich. Sie ha- ben, vielleicht alle, eine große innere Wahrscheinlich- keit für sich; aber sie werden als völlig gewisse Ge- meinsätze gebraucht, an deren Ausnahme man nicht ein- mal denket, und dann entstehen Vorurtheile, und bey der Anwendung Jrrthümer.
Auf diese Art wird auch zweytens der vernünfteln- de Skepticismus da angegriffen, wo er seine wahre Schwäche hat. Hume und Berkeley erkannten die Unbezweifelbarkeit der nothwendigen allgemeinen Grund- sätze, und der unmittelbaren Empfindungskenntnisse. Macht man es ihnen nun evident, daß zu diesen beiden Arten weit mehr Urtheile des Verstandes gehören, als sie es bey ihren einseitigen Betrachtungen der menschli- chen Denkkraft gefunden haben, so zeiget man ihnen sol- che von der Seite, wo sie nach ihren eigenen Grundsä- tzen die Zuverläßigkeit derselben anerkennen.
Dieß ist das Erste, was geschehen muß; doch aber noch nicht alles. Denn es werden in den gemeinen Kenntnissen des Verstandes, doch manche Grundsätze als völlig allgemeine voraus gesetzet, die nur auf einer Uebereinstimmung der Empfindungen beruhen, und also Erfahrungssätze sind, bey welchen der Beweis durch ei- ne vollständige Jnduktion nicht möglich ist. Daher muß noch die Natur und die Größe der Gewißheit gezeiget werden, die dieser letzten Art von Sätzen zukommt. Soll
sie
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
meine Saͤtze, die nur auf einer unvollkommenen, ob- gleich großen Jnduktion beruhen; legt den Sachen Be- ſchaffenheiten in ihrem ganzen Umfang bey, dem ganzen Jnhalt ſeiner Jdeen gemaͤß, wo nur ein Theil gewahr- genommen wird, oder ſpricht ihnen ſolche ganz ab, wo nur Ein Theil vermißt wird, der als ein Charakter des uͤbrigen Theiles angenommen, weil er in den Empfin- dungen damit verbunden geweſen iſt. Die Urtheile, welche aus den letztern Wirkungsarten entſpringen, wer- den uns nur durch die Gewohnheit natuͤrlich. Sie ha- ben, vielleicht alle, eine große innere Wahrſcheinlich- keit fuͤr ſich; aber ſie werden als voͤllig gewiſſe Ge- meinſaͤtze gebraucht, an deren Ausnahme man nicht ein- mal denket, und dann entſtehen Vorurtheile, und bey der Anwendung Jrrthuͤmer.
Auf dieſe Art wird auch zweytens der vernuͤnfteln- de Skepticismus da angegriffen, wo er ſeine wahre Schwaͤche hat. Hume und Berkeley erkannten die Unbezweifelbarkeit der nothwendigen allgemeinen Grund- ſaͤtze, und der unmittelbaren Empfindungskenntniſſe. Macht man es ihnen nun evident, daß zu dieſen beiden Arten weit mehr Urtheile des Verſtandes gehoͤren, als ſie es bey ihren einſeitigen Betrachtungen der menſchli- chen Denkkraft gefunden haben, ſo zeiget man ihnen ſol- che von der Seite, wo ſie nach ihren eigenen Grundſaͤ- tzen die Zuverlaͤßigkeit derſelben anerkennen.
Dieß iſt das Erſte, was geſchehen muß; doch aber noch nicht alles. Denn es werden in den gemeinen Kenntniſſen des Verſtandes, doch manche Grundſaͤtze als voͤllig allgemeine voraus geſetzet, die nur auf einer Uebereinſtimmung der Empfindungen beruhen, und alſo Erfahrungsſaͤtze ſind, bey welchen der Beweis durch ei- ne vollſtaͤndige Jnduktion nicht moͤglich iſt. Daher muß noch die Natur und die Groͤße der Gewißheit gezeiget werden, die dieſer letzten Art von Saͤtzen zukommt. Soll
ſie
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
meine Saͤtze, die nur auf einer unvollkommenen, ob-
gleich großen Jnduktion beruhen; legt den Sachen Be-
ſchaffenheiten in ihrem ganzen Umfang bey, dem ganzen
Jnhalt ſeiner Jdeen gemaͤß, wo nur ein Theil gewahr-
genommen wird, oder ſpricht ihnen ſolche ganz ab, wo
nur Ein Theil vermißt wird, der als ein Charakter des
uͤbrigen Theiles angenommen, weil er in den Empfin-
dungen damit verbunden geweſen iſt. Die Urtheile,
welche aus den letztern Wirkungsarten entſpringen, wer-
den uns nur durch die Gewohnheit natuͤrlich. Sie ha-
ben, vielleicht alle, eine große innere Wahrſcheinlich-
keit fuͤr ſich; aber ſie werden als voͤllig gewiſſe Ge-
meinſaͤtze gebraucht, an deren Ausnahme man nicht ein-
mal denket, und dann entſtehen Vorurtheile, und bey
der Anwendung Jrrthuͤmer.
Auf dieſe Art wird auch zweytens der vernuͤnfteln-
de Skepticismus da angegriffen, wo er ſeine wahre
Schwaͤche hat. Hume und Berkeley erkannten die
Unbezweifelbarkeit der nothwendigen allgemeinen Grund-
ſaͤtze, und der unmittelbaren Empfindungskenntniſſe.
Macht man es ihnen nun evident, daß zu dieſen beiden
Arten weit mehr Urtheile des Verſtandes gehoͤren, als
ſie es bey ihren einſeitigen Betrachtungen der menſchli-
chen Denkkraft gefunden haben, ſo zeiget man ihnen ſol-
che von der Seite, wo ſie nach ihren eigenen Grundſaͤ-
tzen die Zuverlaͤßigkeit derſelben anerkennen.
Dieß iſt das Erſte, was geſchehen muß; doch aber
noch nicht alles. Denn es werden in den gemeinen
Kenntniſſen des Verſtandes, doch manche Grundſaͤtze
als voͤllig allgemeine voraus geſetzet, die nur auf einer
Uebereinſtimmung der Empfindungen beruhen, und alſo
Erfahrungsſaͤtze ſind, bey welchen der Beweis durch ei-
ne vollſtaͤndige Jnduktion nicht moͤglich iſt. Daher muß
noch die Natur und die Groͤße der Gewißheit gezeiget
werden, die dieſer letzten Art von Saͤtzen zukommt. Soll
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/588>, abgerufen am 22.12.2024.
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