Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit
hier dasselbige, was die Beziehungen der Jdeen im
Verstande sind. Diese Ausdrücke, was bedeuten sie
nach der Natur unsers Verstandes und unserer Begriffe,
und nach den Erklärungen der Philosophen, welche die
Wahrheit für etwas objektivisches ansehen? Was heißt
es: die Sonne ist so ein Ding, wie die sind, welche leuch-
ten; die viereckte Figur meiner Stubenthür ist für sich
eine andere, als die ovale Figur eines alten Kirchen-
fensters?

Jn der Jdee des gemeinen Verstandes, die wir ha-
ben, wenn wir etwas für ein Objekt und für objekti-
visch
ansehen, und die wir ausdrücken, wenn wir sagen:
"die Sache ist so," lieget eigentlich der Gedanke, daß
die Sache auf der Art, wie wir uns sie vorstellen, von
jedem andern würde und müßte empfunden werden, der
einen solchen Sinn für sie hat, als wir. Die Sache
ist so beschaffen, heißt so viel: "auf diese Art ist sie em-
pfindbar." So scheinet sie nicht nur mir unter diesen
Umständen; sondern so muß sie jedem erscheinen, der sie
empfindet, und besonders dem der sie fühlet. Denn da
das Gefühl der Sinn ist, aus dem wir die Jdee eines
wirklichen Objekts erlangen, so heißt, ein Objekt seyn
und objektivische Beschaffenheiten besitzen, nichts anders,
als auf eine solche Art beschaffen seyn, daß ein fühlendes
Wesen es nicht anders als auf diese Weise empfinden
kann. *)

Ein beständiger Schein ist vor uns Realität,
wie einige Philosophen reden, und so viel als Seyn und
Wirklichkeit. Dieß ist in so weit richtig, weil wir ei-
nen völlig immer sich gleichen Schein in der Empfin-
dung von dem Reellen nicht zu unterscheiden wissen,
es wäre denn, daß uns Vernunftschlüsse, wie in der Astro-
nomie, darüber belehrten. Aber es ist doch wahr, daß

wenn
*) Man sehe den fünften Versuch V.

VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
hier daſſelbige, was die Beziehungen der Jdeen im
Verſtande ſind. Dieſe Ausdruͤcke, was bedeuten ſie
nach der Natur unſers Verſtandes und unſerer Begriffe,
und nach den Erklaͤrungen der Philoſophen, welche die
Wahrheit fuͤr etwas objektiviſches anſehen? Was heißt
es: die Sonne iſt ſo ein Ding, wie die ſind, welche leuch-
ten; die viereckte Figur meiner Stubenthuͤr iſt fuͤr ſich
eine andere, als die ovale Figur eines alten Kirchen-
fenſters?

Jn der Jdee des gemeinen Verſtandes, die wir ha-
ben, wenn wir etwas fuͤr ein Objekt und fuͤr objekti-
viſch
anſehen, und die wir ausdruͤcken, wenn wir ſagen:
„die Sache iſt ſo,‟ lieget eigentlich der Gedanke, daß
die Sache auf der Art, wie wir uns ſie vorſtellen, von
jedem andern wuͤrde und muͤßte empfunden werden, der
einen ſolchen Sinn fuͤr ſie hat, als wir. Die Sache
iſt ſo beſchaffen, heißt ſo viel: „auf dieſe Art iſt ſie em-
pfindbar.‟ So ſcheinet ſie nicht nur mir unter dieſen
Umſtaͤnden; ſondern ſo muß ſie jedem erſcheinen, der ſie
empfindet, und beſonders dem der ſie fuͤhlet. Denn da
das Gefuͤhl der Sinn iſt, aus dem wir die Jdee eines
wirklichen Objekts erlangen, ſo heißt, ein Objekt ſeyn
und objektiviſche Beſchaffenheiten beſitzen, nichts anders,
als auf eine ſolche Art beſchaffen ſeyn, daß ein fuͤhlendes
Weſen es nicht anders als auf dieſe Weiſe empfinden
kann. *)

Ein beſtaͤndiger Schein iſt vor uns Realitaͤt,
wie einige Philoſophen reden, und ſo viel als Seyn und
Wirklichkeit. Dieß iſt in ſo weit richtig, weil wir ei-
nen voͤllig immer ſich gleichen Schein in der Empfin-
dung von dem Reellen nicht zu unterſcheiden wiſſen,
es waͤre denn, daß uns Vernunftſchluͤſſe, wie in der Aſtro-
nomie, daruͤber belehrten. Aber es iſt doch wahr, daß

wenn
*) Man ſehe den fuͤnften Verſuch V.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0596" n="536"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Nothwendigkeit</hi></fw><lb/>
hier da&#x017F;&#x017F;elbige, was die Beziehungen der Jdeen im<lb/>
Ver&#x017F;tande &#x017F;ind. Die&#x017F;e Ausdru&#x0364;cke, was bedeuten &#x017F;ie<lb/>
nach der Natur un&#x017F;ers Ver&#x017F;tandes und un&#x017F;erer Begriffe,<lb/>
und nach den Erkla&#x0364;rungen der Philo&#x017F;ophen, welche die<lb/>
Wahrheit fu&#x0364;r etwas objektivi&#x017F;ches an&#x017F;ehen? Was heißt<lb/>
es: die Sonne i&#x017F;t &#x017F;o ein Ding, wie die &#x017F;ind, welche leuch-<lb/>
ten; die viereckte Figur meiner Stubenthu&#x0364;r i&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ich<lb/>
eine andere, als die ovale Figur eines alten Kirchen-<lb/>
fen&#x017F;ters?</p><lb/>
            <p>Jn der Jdee des gemeinen Ver&#x017F;tandes, die wir ha-<lb/>
ben, wenn wir etwas fu&#x0364;r ein <hi rendition="#fr">Objekt</hi> und fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">objekti-<lb/>
vi&#x017F;ch</hi> an&#x017F;ehen, und die wir ausdru&#x0364;cken, wenn wir &#x017F;agen:<lb/>
&#x201E;die Sache i&#x017F;t &#x017F;o,&#x201F; lieget eigentlich der Gedanke, daß<lb/>
die Sache auf der Art, wie wir uns &#x017F;ie vor&#x017F;tellen, von<lb/>
jedem andern wu&#x0364;rde und mu&#x0364;ßte empfunden werden, der<lb/>
einen &#x017F;olchen Sinn fu&#x0364;r &#x017F;ie hat, als wir. Die Sache<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;o be&#x017F;chaffen, heißt &#x017F;o viel: &#x201E;auf die&#x017F;e Art i&#x017F;t &#x017F;ie em-<lb/>
pfindbar.&#x201F; So &#x017F;cheinet &#x017F;ie nicht nur mir unter die&#x017F;en<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden; &#x017F;ondern &#x017F;o muß &#x017F;ie jedem er&#x017F;cheinen, der &#x017F;ie<lb/>
empfindet, und be&#x017F;onders dem der &#x017F;ie fu&#x0364;hlet. Denn da<lb/>
das Gefu&#x0364;hl der Sinn i&#x017F;t, aus dem wir die Jdee eines<lb/>
wirklichen Objekts erlangen, &#x017F;o heißt, ein Objekt &#x017F;eyn<lb/>
und objektivi&#x017F;che Be&#x017F;chaffenheiten be&#x017F;itzen, nichts anders,<lb/>
als auf eine &#x017F;olche Art be&#x017F;chaffen &#x017F;eyn, daß ein fu&#x0364;hlendes<lb/>
We&#x017F;en es nicht anders als auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e empfinden<lb/>
kann. <note place="foot" n="*)">Man &#x017F;ehe den fu&#x0364;nften Ver&#x017F;uch <hi rendition="#aq">V.</hi></note></p><lb/>
            <p>Ein <hi rendition="#fr">be&#x017F;ta&#x0364;ndiger Schein</hi> i&#x017F;t vor uns <hi rendition="#fr">Realita&#x0364;t,</hi><lb/>
wie einige Philo&#x017F;ophen reden, und &#x017F;o viel als Seyn und<lb/>
Wirklichkeit. Dieß i&#x017F;t in &#x017F;o weit richtig, weil wir ei-<lb/>
nen vo&#x0364;llig immer &#x017F;ich gleichen <hi rendition="#fr">Schein</hi> in der Empfin-<lb/>
dung von dem <hi rendition="#fr">Reellen</hi> nicht zu unter&#x017F;cheiden wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
es wa&#x0364;re denn, daß uns Vernunft&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, wie in der A&#x017F;tro-<lb/>
nomie, daru&#x0364;ber belehrten. Aber es i&#x017F;t doch wahr, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wenn</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[536/0596] VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit hier daſſelbige, was die Beziehungen der Jdeen im Verſtande ſind. Dieſe Ausdruͤcke, was bedeuten ſie nach der Natur unſers Verſtandes und unſerer Begriffe, und nach den Erklaͤrungen der Philoſophen, welche die Wahrheit fuͤr etwas objektiviſches anſehen? Was heißt es: die Sonne iſt ſo ein Ding, wie die ſind, welche leuch- ten; die viereckte Figur meiner Stubenthuͤr iſt fuͤr ſich eine andere, als die ovale Figur eines alten Kirchen- fenſters? Jn der Jdee des gemeinen Verſtandes, die wir ha- ben, wenn wir etwas fuͤr ein Objekt und fuͤr objekti- viſch anſehen, und die wir ausdruͤcken, wenn wir ſagen: „die Sache iſt ſo,‟ lieget eigentlich der Gedanke, daß die Sache auf der Art, wie wir uns ſie vorſtellen, von jedem andern wuͤrde und muͤßte empfunden werden, der einen ſolchen Sinn fuͤr ſie hat, als wir. Die Sache iſt ſo beſchaffen, heißt ſo viel: „auf dieſe Art iſt ſie em- pfindbar.‟ So ſcheinet ſie nicht nur mir unter dieſen Umſtaͤnden; ſondern ſo muß ſie jedem erſcheinen, der ſie empfindet, und beſonders dem der ſie fuͤhlet. Denn da das Gefuͤhl der Sinn iſt, aus dem wir die Jdee eines wirklichen Objekts erlangen, ſo heißt, ein Objekt ſeyn und objektiviſche Beſchaffenheiten beſitzen, nichts anders, als auf eine ſolche Art beſchaffen ſeyn, daß ein fuͤhlendes Weſen es nicht anders als auf dieſe Weiſe empfinden kann. *) Ein beſtaͤndiger Schein iſt vor uns Realitaͤt, wie einige Philoſophen reden, und ſo viel als Seyn und Wirklichkeit. Dieß iſt in ſo weit richtig, weil wir ei- nen voͤllig immer ſich gleichen Schein in der Empfin- dung von dem Reellen nicht zu unterſcheiden wiſſen, es waͤre denn, daß uns Vernunftſchluͤſſe, wie in der Aſtro- nomie, daruͤber belehrten. Aber es iſt doch wahr, daß wenn *) Man ſehe den fuͤnften Verſuch V.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/596
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/596>, abgerufen am 22.12.2024.