und die Aussprüche der Vernunft müssen sich mit den Aussprüchen des gemeinen Verstandes vereinigen lassen. Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausschließend sich für fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht in den Theorien sich ehe versehen haben, weil sie da mehr und anhaltender hat arbeiten müssen. Aber vielleicht liegt auch die Schuld an dem Sensus kommunis, der eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart für eine absolut nothwendige ansieht. Er hat sich so oft von dieser Seite verdächtig gemacht, daß er in den noch un- untersuchten Fällen die Vermuthung mehr gegen sich als für sich hat. Aber gesetzt, er habe sie für sich, wie er niemals hat, wo er mit mathematischen Theorien in Kollision kommt, so hieße doch das nur so viel, dieselbi- ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten leichter ihre natürlich nothwendigen Wirkungen mit de- nen, die sie nur zufällig aus Gewohnheit angenommen hat, verwechseln, als bey der andern. Läßt sich deswe- gen überhaupt sagen, daß sie diesem Jrrthum am meisten unterworfen sey, wo sie ihre Schlüsse aus Gemeinbegrif- fen untersucht, oder da, wo sie ihre sinnlichen Urtheile prüfet?
III. Auf welche Art die Vernunft und der gemeine Verstand einander widersprechen können? wie sie sich von selbst vereinigen, und sich wechselseitig einander berichtigen.
Ein wahrer Widerspruch zwischen dem gemeinen Ver- stand und der Vernunft kann sich eräugen, wenn von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei- ner zufälligen Jdeenassociation abhängt. Dieß ist in den sinnlichen Urtheilen am häufigsten. Aber auch
in
VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und die Ausſpruͤche der Vernunft muͤſſen ſich mit den Ausſpruͤchen des gemeinen Verſtandes vereinigen laſſen. Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausſchließend ſich fuͤr fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht in den Theorien ſich ehe verſehen haben, weil ſie da mehr und anhaltender hat arbeiten muͤſſen. Aber vielleicht liegt auch die Schuld an dem Senſus kommunis, der eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fuͤr eine abſolut nothwendige anſieht. Er hat ſich ſo oft von dieſer Seite verdaͤchtig gemacht, daß er in den noch un- unterſuchten Faͤllen die Vermuthung mehr gegen ſich als fuͤr ſich hat. Aber geſetzt, er habe ſie fuͤr ſich, wie er niemals hat, wo er mit mathematiſchen Theorien in Kolliſion kommt, ſo hieße doch das nur ſo viel, dieſelbi- ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten leichter ihre natuͤrlich nothwendigen Wirkungen mit de- nen, die ſie nur zufaͤllig aus Gewohnheit angenommen hat, verwechſeln, als bey der andern. Laͤßt ſich deswe- gen uͤberhaupt ſagen, daß ſie dieſem Jrrthum am meiſten unterworfen ſey, wo ſie ihre Schluͤſſe aus Gemeinbegrif- fen unterſucht, oder da, wo ſie ihre ſinnlichen Urtheile pruͤfet?
III. Auf welche Art die Vernunft und der gemeine Verſtand einander widerſprechen koͤnnen? wie ſie ſich von ſelbſt vereinigen, und ſich wechſelſeitig einander berichtigen.
Ein wahrer Widerſpruch zwiſchen dem gemeinen Ver- ſtand und der Vernunft kann ſich eraͤugen, wenn von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei- ner zufaͤlligen Jdeenaſſociation abhaͤngt. Dieß iſt in den ſinnlichen Urtheilen am haͤufigſten. Aber auch
in
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0636"n="576"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">VIII.</hi> Verſuch. Von der Beziehung</hi></fw><lb/>
und die Ausſpruͤche der Vernunft muͤſſen ſich mit den<lb/>
Ausſpruͤchen des gemeinen Verſtandes vereinigen laſſen.<lb/>
Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausſchließend ſich<lb/>
fuͤr fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht<lb/>
in den Theorien ſich <hirendition="#fr">ehe</hi> verſehen haben, weil ſie da mehr<lb/>
und anhaltender hat arbeiten muͤſſen. Aber vielleicht<lb/>
liegt auch die Schuld an dem Senſus kommunis, der<lb/>
eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fuͤr<lb/>
eine abſolut nothwendige anſieht. Er hat ſich ſo oft von<lb/>
dieſer Seite verdaͤchtig gemacht, daß er in den noch un-<lb/>
unterſuchten Faͤllen die Vermuthung mehr gegen ſich als<lb/>
fuͤr ſich hat. Aber geſetzt, er habe ſie fuͤr ſich, wie er<lb/>
niemals hat, wo er mit mathematiſchen Theorien in<lb/>
Kolliſion kommt, ſo hieße doch das nur ſo viel, dieſelbi-<lb/>
ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten<lb/>
leichter ihre natuͤrlich nothwendigen Wirkungen mit de-<lb/>
nen, die ſie nur zufaͤllig aus Gewohnheit angenommen<lb/>
hat, verwechſeln, als bey der andern. Laͤßt ſich deswe-<lb/>
gen uͤberhaupt ſagen, daß ſie dieſem Jrrthum am meiſten<lb/>
unterworfen ſey, wo ſie ihre Schluͤſſe aus Gemeinbegrif-<lb/>
fen unterſucht, oder da, wo ſie ihre ſinnlichen Urtheile<lb/>
pruͤfet?</p></div><lb/><divn="2"><head><hirendition="#aq">III.</hi><lb/>
Auf welche Art die Vernunft und der gemeine<lb/>
Verſtand einander widerſprechen koͤnnen?<lb/>
wie ſie ſich von ſelbſt vereinigen, und ſich<lb/>
wechſelſeitig einander berichtigen.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>in wahrer Widerſpruch zwiſchen dem gemeinen Ver-<lb/>ſtand und der Vernunft kann ſich eraͤugen, wenn<lb/>
von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei-<lb/>
ner <hirendition="#fr">zufaͤlligen Jdeenaſſociation</hi> abhaͤngt. Dieß iſt<lb/>
in den ſinnlichen Urtheilen am haͤufigſten. Aber auch<lb/><fwplace="bottom"type="catch">in</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[576/0636]
VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und die Ausſpruͤche der Vernunft muͤſſen ſich mit den
Ausſpruͤchen des gemeinen Verſtandes vereinigen laſſen.
Nur hat keiner von beyden ein Recht, ausſchließend ſich
fuͤr fehlerfrey zu halten. Die Denkkraft kann vielleicht
in den Theorien ſich ehe verſehen haben, weil ſie da mehr
und anhaltender hat arbeiten muͤſſen. Aber vielleicht
liegt auch die Schuld an dem Senſus kommunis, der
eine ihm nur aus Gewohnheit nothwendige Denkart fuͤr
eine abſolut nothwendige anſieht. Er hat ſich ſo oft von
dieſer Seite verdaͤchtig gemacht, daß er in den noch un-
unterſuchten Faͤllen die Vermuthung mehr gegen ſich als
fuͤr ſich hat. Aber geſetzt, er habe ſie fuͤr ſich, wie er
niemals hat, wo er mit mathematiſchen Theorien in
Kolliſion kommt, ſo hieße doch das nur ſo viel, dieſelbi-
ge Denkkraft kann in der einen Gattung ihrer Arbeiten
leichter ihre natuͤrlich nothwendigen Wirkungen mit de-
nen, die ſie nur zufaͤllig aus Gewohnheit angenommen
hat, verwechſeln, als bey der andern. Laͤßt ſich deswe-
gen uͤberhaupt ſagen, daß ſie dieſem Jrrthum am meiſten
unterworfen ſey, wo ſie ihre Schluͤſſe aus Gemeinbegrif-
fen unterſucht, oder da, wo ſie ihre ſinnlichen Urtheile
pruͤfet?
III.
Auf welche Art die Vernunft und der gemeine
Verſtand einander widerſprechen koͤnnen?
wie ſie ſich von ſelbſt vereinigen, und ſich
wechſelſeitig einander berichtigen.
Ein wahrer Widerſpruch zwiſchen dem gemeinen Ver-
ſtand und der Vernunft kann ſich eraͤugen, wenn
von der einen oder der andern Seite das Urtheil von ei-
ner zufaͤlligen Jdeenaſſociation abhaͤngt. Dieß iſt
in den ſinnlichen Urtheilen am haͤufigſten. Aber auch
in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/636>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.